Goya - Beckett – Denhoff

 

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"Die Klänge sind nur Bilder dessen, was hinter ihnen liegt" schrieb Michael Denhoff in seinen Annotationen über das Komponieren. Mit dieser ästhetischen Reflexion - verfaßt im April 1990 - offenbart der Komponist einen grundsätzlichen Aspekt seiner Poetik: Musik bedeutet weitaus mehr als die bloße Organisation von Klängen in der Zeit, Musik ist die "begriffslose" Übersetzung dessen, was der Mensch ohnehin stetig sucht: Bewußtheit, Erkenntnis und Wahrheit über sich und die Welt, kurzum: Musik ist Philosophie in Tönen.

Sich heutzutage noch einem solch hehren Anspruch nach Wahrhaftigkeit zu verschreiben, wie es Denhoff tut, ist innerhalb der gegenwärtigen Musik selten; dies mag zum einen daran liegen, daß, wie auch sonst in unserer Gesellschaft, das Suchen nach Erkenntnis zunehmend der puren Erlebnissucht weichen muß, oder zum anderen daran, daß die klingenden Philosopheme am Lebensraum vorbei konstruiert sind und ihre Komplexitäten weder Erstaunen noch Einsicht evozieren.

Hinter vielen der Klangbilder Denhoffs liegen oftmals selbst "Bilder", die - metaphorisch - aus der Literatur (sofern es keine Vokalmusik ist) oder aus der Musikgeschichte oder - konkret - aus der bildenden Kunst stammen. Vor allem die Radierungen von Goya (1746-1828) spielten für einige Kompositionen eine zentrale Rolle. Nun wurden die Graphiken aber nicht programmatisch vertont, indem das Sichtbare schlicht ins Hörbare übertragen wird, um sodann wieder sichtbar zu werden; vielmehr dienten die Drucke dem Komponisten als Inspirationsquelle, vergleichbar mit manchem Dichter oder Maler, der sich durch Musik zu eigenen Produktionen anregen läßt, ohne diese zu versprachlichen oder Gestalt werden zu lassen. Indes sind die Quellen doch nicht so unwichtig, daß Denhoff sie verschweigen wollte, um den Stimulus nicht preiszugeben, im Gegenteil: ihr geistiger Hintergrund ist ihm so essentiell, daß er die Werktitel der Goyaschen Radierungen für seine Stücke übernahm. 1982 schrieb Denhoff seine erste "Goya"-Komposition El sueño de la razon produce monstruos (Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor) für Violoncello und Klavier. Die gleichnamige Radierung entstand 1797 und wurde 1799 von Goya in seinen Caprichos - eine Sammlung von 80 Aquatinta-Drucken - publiziert, die die wesentlichen Probleme der Aufklärung thematisieren wie Moral, soziale Ungerechtigkeit, Erziehung, Ehe, Prostitution und in bezug auf das katholische Spanien Inquisition und Ehescheidung. Wegen ihrer politischen Brisanz - die Drucke erfreuten sich weiter Verbreitung - wurden die Caprichos von den Machthabern bald unterdrückt. Das Blatt Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor, eine der berühmtesten Radierungen Goyas, war ursprünglich als Titelseite der Sammlung vorgesehen, erhielt aber letztlich die Position 43. Der Druck zeigt den am Arbeitstisch schlafenden Künstler, umgeben von Nachtgestalten, die im Spanien des 18. Jahrhunderts Ignoranz und geistige Umnachtung symbolisierten. 1988 komponierte Denhoff seine dritte Goya-Annäherung Los Disparates (Die Torheiten) für Viola, Violoncello und Kontrabaß, der 1983 seine zweite mit dem Titel Desastres de la guerra (Die Schrecken des Krieges) für Orchester vorangegangen war. Die Torheiten, eine Edition von 18 Blättern, wurde erst 1850 veröffentlicht, 22 Jahre nach Goyas Tod. Sieben Radierungen, zwischen 1815 und 1824 entstanden, bildeten die Vorlage für Denhoffs siebensätzige Komposition, die bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik 1989 durch das "trio basso" uraufgeführt wurde. Auf die Drucke nimmt die Komposition verschieden konkret und verdichtet Bezug: in Satz IV etwa wird der spanische Rundtanz "Sardana" inkorporiert und vom Violoncello in höchster Lage falsettartig wiedergegeben, Kontrabaß und Viola begleiten das Solo lärmend, verständnislos - als würden sie die soziale Wirklichkeit nicht begreifen. Die Satztitel entsprechen den Titeln der einzelnen Blätter: I. Disparate de miedo (Torheit der Furcht), II. Disparate ridiculo (lächerliche Torheit), III. Disparate desordenado (unordentliche Torheit), IV. Disparate alegre (heitere Torheit), V. Disparate claro (klare Torheit), VI. Disparate desenfrenado (entfesselte Torheit) und VII. Disparate fúnebre (gespenstische Torheit). Wie auch in seinen anderen Radierungen reflektiert und kommentiert Goya die politischen wie gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen in einer äußerst düsteren Bildsprache, die die Realität begreift als "Verweigerung von Glück" (Jutta Held).

Den in den Kompositionen aufgehobenen düsteren Grundcharakter von Goyas Radierungen behält Denhoff auch in seinem 3. Klaviertrio "schwarzes Ballett" (1995) bei, ein Auftragswerk der Universität von Virginia. Bestimmt wird das Stück von wenigen musikalischen Grundbausteinen: drei aufeinander bezogene Akkorde im tiefen Register des Klaviers, auf den Zentralton cis bezogen, und ein sich zweimal im Zeitpuls halbierender Takt als rhythmische Keimzelle (3/4 + 3/8 + 3/16). Hieraus werden alle weiteren Entwicklungen abgeleitet: die Akkorde falten die Streicher allmählich in melodiehafte Strukturen auf und in festem Metrum, das auch Pausen und Zäsuren als exakte Einheiten kennt, entwickelt sich ein Kontrapunkt, der zunehmend die höheren und höchsten Register erschließt. Wie rituelle Gesten werden die kontrastierenden Elemente artikuliert und einzelne Klangpartikel zusammengefügt. Deshalb schließt der Komponist eine Choreographie seines Stückes auch nicht aus; wird das Werk allerdings ohne Bühnenaktionen realisiert, mögen sich beim reinen Hören durchaus szenische Imaginationen einstellen. Aus einer für das 3. Klaviertrio entstandenen Skizze entwickelte Denhoff wegen ihrer musikalischen Selbständigkeit das Nachtstück (1994/95) für Violine, Violoncello und Klavier, nachdem das Klaviertrio eine andere musikalische Richtung nahm. Zwar ist auch hier die musikalische Textur sehr reduziert, insgesamt aber weist sie einen ephemereren Charakter auf als das Hauptwerk.

Die Mittel der konzentrierten musikalischen Reduktion und Fragmentarisierung hat Denhoff auch in seinem 1992 entstandenen "Beckett-Momente" Two once so one für Streichquartett, Viola und Violoncello angewandt. Die Komposition besteht aus der Verschaltung der beiden Stücke Since atwain (I) - 5. Streichquartett und Since atwain (II) für Viola und Violoncello, die auch separat realisiert werden können. Bei der gemeinsamen Aufführung werden das Quartett vor und das Duo hinter dem Publikum postiert. Beide Gruppen spielen nun die sieben mal sieben verschiedenen Klangaktionen völlig unabhängig voneinander, nur die jeweiligen Einsätze sind exakt notiert. Ungleichzeitiges findet so in der Gleichzeitigkeit statt. Angeregt zu dieser Komposition wurde Denhoff durch die Lektüre von Samuel Becketts (1906-1989) Erzähltext Worstward Ho (Aufs Schlimmste zu), der - um 1980 geschrieben, 1989 auf deutsch erschienen - zu seinen letzten größeren Prosatexten zählt und für den er wieder zur englischen Sprache übergegangen ist. Ein Passus aus Worstward Ho, von Erika Tophoven-Schöningh ins Deutsche übertragen, ist der Partitur als Motto vorangestellt: Back try worsen twain preying since last worse. Since atwain. Two once so one. From now rift a vast. Vast of void atween. With equal plod still unreceding on. That little better worse. Till words for worser still. Worse words for worset still. (Zurück versuchen die Zwei zu verschlimmern die seit letztem schlimmer auf Jagd. Seit entzweit. Zwei einst so eins. Ab jetzt Spalt eine Weite. Weite von Leere dazwischen. In gleichem Trott immer noch ohne vom Fleck zu kommen weiter. Das ein wenig besser schlimmer. Bis Worte für noch schlimmer. Schlimmere Worte für noch schlimmer.)

 

Stefan Fricke

© 1997 by Cybele

 

 

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