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Hören –

Dieses Unterfangen –

 

„Mir wäre es lieber, man würde diese Vorbemerkung nicht lesen, oder doch nach dem Überfliegen wieder vergessen; sie sagt dem erfahrenen Leser über sein Verständnis hinaus nur wenig: aber sie kann den Unbefangenen irritieren, der einen Blick auf die ersten Worte der Dichtung werfen muß, damit die folgenden, so wie sie dastehn, ihn zu den letzten geleiten,...”; mit dieser Bemerkung beginnt Stéphane Mallarmé sein Vorwort zu seinem auf elf Doppelseiten angelegten späten Gedicht UN COUP DE DÉS. Sein Vorwort will die Dichtung nicht erklären, denn das Verständnis des Textes kann so nicht befördert werden, es kann allenfalls die Bereitschaft zur Auseinandersetzung anregen. Das Sich-gefangen-nehmen-lassen durch die Worte kann aber nur durch die Dichtung selbst stattfinden.

Schon für den zwanzigjährigen Mallarmé war Poesie etwas nicht Erklärbares, ein Geheimnis; in dem Artikel „Hérésies artistiques. L’art pour tous” beschreibt er sie als ein nur den Religionen vergleichbares ’Mysterium’. Wohl auf keinen anderen Text trifft diese demonstrative Reklamation so zu, wie auf sein Gedicht UN COUP DE DÉS, das den Leser in ein Textlabyrinth von verwirrender Dunkelheit stürzt. Komponiert wie eine virtuelle Partitur mit vexatorischen Elementen, läßt sich dieses Gedicht nicht einfach im üblichen Sinne entschlüsseln, sondern es fordert einen Leser, der Lesen im emphatischen Sinne versteht, als einen Vorgang des Entzifferns, der mehr ist als nur analytisches Begreifen und Durchdringen, es fordert einen Leser, der nicht in erster Linie nach dem konkreten Sinn der Worte fragt, sondern nach dem in ihnen Angedeuteten sucht, das offen für verschiedene Möglichkeiten sein kann, tastend und innehaltend. Die Klanggestalten der Wörter, ihre eigenwillige Rhythmisierung durch die freie Verteilung des Textes auf den Seiten, die somit von Schweigen und Leere umgebene poetische Stimme, sie verlangen vom Leser eine Haltung, bei der Verstehen eine kreative Dimension bekommt! Der Autor nimmt sich selbst zurück und wirft den Lesenden auf sein eigenes Ich zurück: nur die Worte der Dichtung weisen ihm den Weg. Bei der geradezu kontrapunktischen Verschachtelung des Textes von UN COUP DE DÉS, durch die Verwendung verschiedener Drucktypen augenfällig verdeutlicht, kann dieser Weg hier aber kein linearer, kein eindeutig festgelegter sein. Es ist ein Weg, der allein durch die singuläre Individualität des Lesenden bestimmt wird.

 

Lesen –

Dieses Unterfangen –

 

schreibt Mallarmé in „Le Mystère dans les Lettres”...

 

Mein Mallarmé-Zyklus ist eine musikalische Gestalt gewordene Art dieses Unterfangens Lesen: es ist der Versuch, mir mit meinen Mitteln UN COUP DE DÉS kreativ zu erschließen, wissend, daß dieser Versuch für mich nicht den Anspruch auf Endgültigkeit haben kann, sondern nur das Zwischenstadium einer persönlichen Annäherung bleiben muß.

So wie Mallarmé’s Gedicht sich als eine Apologie des Scheiterns – als hypothetisches Gedankenexperiment – lesen mag, die gleichzeitig, da sie als gedruckter Text vorliegt, dieses Scheitern zurückzunehmen scheint, so bleibt auch meine auf Mallarmé reagierende Musik in ihrer klanglichen Textur und schriftlichen Fixierung in beide Richtungen offen, mit dem Vorbehalt eines Vielleicht.

Noch immer schwebt mir vor, zumindest Teile des Mallarméschen Textes für ein zwölfköpfiges Ensemble (drei Soprane, drei Flöten, drei Klarinetten und drei Violoncelli) zu vertonen - dies war der ursprüngliche Plan - , doch schon damals, als ich begann, mich intensiver mit UN COUP DE DÉS zu beschäftigen, war mir klar, daß es dazu einen ergänzenden Zyklus rein instrumentaler, sozusagen kommentierender Stücke geben muß, die diese Vertonung vorbereiten, die dieses ’Unterfangen’ begleiten.

Die zwölf Quartette in wechselnden Besetzungen sind wie zwölf musikalische Schritte auf Mallarmés Dichtung zu. Dabei wird die ’Wortpartitur’ UN COUP DE DÉS in ausgewählten Segmenten Ausgangspunkt für musikalische Überlegungen, die sowohl auf ihren literarischen Ursprung verweisen, aber gleichzeitig auch durch die Transposition in ein anderes künstlerisches Medium ihre formale Eigenständigkeit gewinnen: ein subjektiver Akt. Mein Mallarmé-Zyklus will keine bloße akustische Bebilderung des Textes sein, sondern greift einzelne Konfigurationen heraus und versucht doch in dieser Form sezierenden Herantastens, das Ganze zu imaginieren, durch Anspielungen, Umschreibungen und angedeutete spezifische Stimmungen. Dies mag eine von vielen denkbaren individuellen Arten der In-Besitz-Nahme dieses Gedichtes sein. Ein Entlangkomponieren am Text verbietet UN COUP DE DÉS ohnehin, wie auch eine Vertonung im traditionellen Sinne.

Jedes der Quartette steht in seiner spezifischen klanglichen Eigenart für sich da, korrespondiert gleichwohl mit den anderen durch unterirdische Verbindungslinien. Der musikalische Text ist exakt fixiert, jedoch bleibt die Hör-Richtung im Gang durch die Gesamtpartitur bedingt offen, da sechs mögliche Anordnungen der Quartette vorgesehen sind. Diese Anordnung wird vor der Aufführung durch einen ’Würfelwurf’ entschieden. In der numerischen Reihenfolge gibt es mit jedem Quartett eine progressiv graduelle, eine kreisförmig angelegte Klangfarbenveränderung durch das jeweilige Abtreten eines Musikers und das Hinzukommen des nächsten: jeder Musiker spielt also vier der insgesamt zwölf Quartette.

Der Versuch, das Vokabular und die syntaktischen Gegebenheiten der Musik erklärend beschreiben zu wollen, die Korrespondenzen zu Mallarmés Dichtung aufdecken zu wollen, ginge an der eigentlichen Bestimmung der Musik vorbei. Ihre Aussage kann und will nicht eindeutig sein, sie ist nicht eindimensional festgelegt, sondern in dem, was sie beim Hörer in Bewegung zu setzen vermag, offen und schwebend. Ihr Geheimnis möchte sie preisgeben, aber nicht ganz; sie will verstanden werden, aber nicht allein im rein kognitiven Sinne.  Dies kann ich dem Hörer nicht abnehmen, indem ich über die Musik spreche, denn, um Mallarmés Worte etwas abzuwandeln: dem erfahrenen Hörer würde das über sein Verständnis hinaus nur wenig sagen, aber den Unbefangenen irritieren, der sein Ohr auf die ersten Klanggestalten der Musik richten muß, damit die folgenden, so wie sie sich ereignen, ihn zu den letzten geleiten.

 

Hören –

Dieses Unterfangen –

 

... es kann gelingen, wenn wir Klänge als das nehmen, was sie im ursprünglichen Sinne sind: akustische Ereignisse, die uns in ihrer einmaligen Gestalt überraschen als geformte Zeit, Ereignisse, die diese Zeit  in der Unentrinnbarkeit ihres effektiven Verstreichens gleichzeitig aufheben, und die uns so die eigene Vergänglichkeit für einen Moment vergessen lassen, weil  d i e  Sinne aktiviert werden, die die verborgensten und gleichzeitig wesenseigensten Schichten des Innern berühren.

 

 

Nachwort:

Mallarmé hat UN COUP DE DÉS 1895 entworfen und 1897 erstmals in der Zeitschrift Cosmopolis veröffentlicht. Erst als ich schon längst an der Ausarbeitung der Partitur saß und inzwischen auch der Uraufführungs-Termin des Gesamtzyklus’ festgelegt wurde, stellte ich fest, daß der Beginn meiner musikalischen Auseinandersetzung mit diesem Gedicht und auch die erste öffentliche Gesamtaufführung meines MALLARMÉ-ZYKLUS’ am 24. April 1997 in Hamburg durch einen denkwürdigen, aber nicht beabsichtigten Zufall jeweils genau 100 Jahre nach dem Verfassen und Veröffentlichen des Mallarmé-Gedichtes stattfanden: 1995 - 1997.

 

© 1997 Michael Denhoff

 

 

 


 

Mallarmé-Zyklus op. 75  (1995/96)

zwölf Quartette für zwölf Musiker

 

I           au silence enroulée 

            Quartett I  für Violine, Viola, Violoncello und Klavier  op. 75, 1

 

II          l’ Abîme 

            Quartett II  für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier  op. 75, 2   

                                  

III         rythmique suspens du sinistre

            Quartett III  für Baßklarinette, Posaune, Violoncello und Klavier  op. 75, 3   

                                  

IV         vertige 

            Quartett IV  für Klarinette, Trompete, Posaune und Klavier  op. 75, 4 

 

V          dérisoire en opposition au ciel

            Quartett V  für Es-Klarinette, Trompete, Posaune und Schlagzeug  op. 75, 5  

 

VI         Une insinuation simple 

            Quartett VI  für Trompete, Posaune, Kontrabaß und Schlagzeug  op. 75, 6  

 

VII        fantôme d’ un geste

            Quartett VII  für Englisch Horn, Trompete, Kontrabaß und Schlagzeug  op. 75, 7  

 

VIII       faux manoir  

            Quartett VIII  für Flöte, Oboe, Kontrabaß und Schlagzeug  op. 75, 8  

 

IX         UNE CONSTELLATION 

            Quartett IX  für Piccolo, Oboe, Kontrabaß und Harfe  op. 75, 9 

 

X          en sa torsion de sirène

            Quartett X   für Altflöte, Englisch Horn, Viola und Harfe  op. 75, 10

 

XI         plume solitaire éperdue

            Quartett XI  für Flöte, Violine, Viola und Harfe  op. 75, 11

 

XII        DU FOND D’UN NAUFRAGE

            Quartett XII  für Violine, Viola, Violoncello und Harfe  op. 75, 12

 

 

 

           

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