ALT UND NEU

 

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Alt und neu: Kategorien mit denen wir täglich zu tun haben: die neueste Mode und Altkleidersammlung, die Zuwachsraten im Neubaubestand und sanierungsbedürftige Altbauten, Gebrauchsgegenstände im neuesten Funktionsdesign und Antiquitäten bzw. alte Möbel, die rasante Entwicklung neuer Techniken der Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik und die sprichwörtlich „gute alte Zeit”...

Meine Damen und Herren, in fast allen Bereichen unseres Lebens verdrängt das Neue das Alte; ja, sogar manche hochentwickelte Kultur ist - bedingt durch gesellschaftlich geschichtliche Konstellationen - ausgestorben und für uns heute nur noch durch Museumsexponate puzzle-artig zu einem Bild von ihr rekonstruierbar. Im Gegensatz aber zu vergangenen Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden, wo dieser scheinbar selbstverständliche und zwingende Ablösungsprozeß des Alten durch das jeweils Neue ein unangefochtenes Naturgesetz zu sein schien, wurde in unserem Jahrhundert zunehmend und fast reziprok zur Beschleunigung des industriellen und technischen Fortschrittes das Bewußtsein für das geschichtlich Vergangene ausgeprägter. Das, was letztlich schon in der Romantik einsetzte, nämlich das erwachende Interesse am kulturellen Erbe, hat allerdings heute am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer geradezu paradoxen Situation geführt: das Vergangene ist oftmals gegenwärtiger als das Gegenwärtige. Angesichts zunehmender Komplexität der Zusammenhänge menschlichen Daseins, in einer Zeit allumfassender Reizüberflutung und pluralistischer Hektik und Unruhe klammern wir uns an das Alte und Vertraute, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Heute, wo beispielsweise das durch Menschenhand herbeigeführte Umkippen des ökologischen Gleichgewichts in einen apokalyptischen Zustand zur greifbaren Realität zu werden droht, ist das Neue nicht mehr a priori das Bessere, das den Fortschritt garantiert.

Diese Erfahrung hat vielfältige Auswirkungen auf das Selbstverständnis menschlichen Empfindens, Denkens und Handelns und nimmt somit zwangsläufig auch Einfluß auf das Kulturleben. Gerade hier, wo die Befindlichkeit einer Gesellschaft sich manifestiert und definiert, dort, wo sie die ihr adäquaten Kommunikationsformen sucht, ist der Wandel gegenüber früheren Zeiten überdeutlich: nie war die Kultur vergangener Epochen so omnipräsent wie heute und nie zuvor begegnete man den zeitgenössischen Strömungen mit soviel Skepsis, Unverständnis und Desinteresse. Dies ist besonders eklatant am öffentlichen Konzertleben zu beobachten.

Selbstverständlich kann und darf es sich keine Gesellschaft leisten, das eigene kulturelle Erbe aus den Augen zu verlieren, aber immer weniger scheint man heute die Auseinandersetzung mit dem Alten zu nutzen, um somit die Gegenwart zu begreifen und sie zu gestalten. Vielmehr wird das Alte zur Droge, die helfen soll, das Neue zu erdulden oder zu vergessen. In einer von Medien und Kommerzialisierung bestimmten Welt ist kein Platz für verstörende neue Töne, diese passen nicht in die Landschaft einer Unterhaltungsindustrie, die auch das Musikleben immer mehr erfaßt und es zu einem weiteren Service-Betrieb im Freizeitangebot degradiert.

Unzweifelhaft und objektiv gesehen großartige Werke der Musikgeschichte, wie Vivaldis „Vier Jahreszeiten”, Mozarts „Kleine Nachtmusik” oder Beethovens „Fünfte”, werden austauschbare Konsumgüter für einen suggerierten Massengeschmack. Daß ein durch permanente Infiltration ein und desselben abgestumpftes Ohr die Bereitschaft und das Bedürfnis verliert, sich auf Neues einzulassen, ist fast zwangsläufig. Und so führt die Neue Musik heute auf den Konzertpodien ein exotisches Mauerblümchen-Dasein. Sie erklingt vornehmlich im zum Teil selbstgewählten Ghetto von Insider-Veranstaltungen und findet nur noch sehr selten den Weg in eine größere interessierte Öffentlichkeit. Auch die beispiellose Popularität von Carl Orffs „Carmina burana”, ein Werk, das gerade in diesem Jahr zum 100. Geburtstag des Komponisten atemberaubende Aufführungszahlen erreicht, kann nicht als Gegenargument ins Feld geführt werden. Zum einen ist das Stück schon etwa 60 Jahre alt und zum anderen ist dieser grandiose Erfolg, unabhängig von den unzweifelhaften Qualitäten dieser Musik, ein vornehmlich von der Werbeindustrie gesteuerter: die Musik wurde nutzbar gemacht!

Trotz vermarktbarer und steuerbarer Popularität einzelner Werke, egal ob alt oder neu, läßt sich nicht wegdiskutieren, daß alle große Kunst eigentlich immer elitär war, also an eine Minderheit gerichtet; eine Minderheit allerdings, die durch ihr Werteempfinden entscheidenden Einfluß hatte auf das jeweils gegenwärtige Denken und Handeln und somit auf das gesellschaftliche Gesicht ihrer Zeit. Auch hiermit hat Kunst einen über den reinen Unterhaltungswert hinausreichenden politischen Stellenwert.

Wir haben heute keine feudalistischen Herrschaftsstrukturen mehr, sondern demokratische. Dennoch ist das Konzertleben alles andere als demokratisch, denn wenn Kunst wie Waschmittel oder Schokolade vermarktet wird, zählen allein Besucher- und Verkaufszahlen, diktiert die Einschaltquote die Auswahl. Nur noch das Abgesicherte wird zugelassen. Und im Zuge zunehmender Privatisierung der Medien wird das Wort„Kulturauftrag” immer mehr unterhöhlt und zur bedeutungslosen Vokabel. Auch die öffentlichen Kulturträger, wie Kommunen oder auch der öffentlich rechtliche Rundfunk ziehen sich zusehends aus der Verantwortung zurück, was sinkende Aufführungszahlen Neuer Musik eindeutig belegen. Wenn Umsatz der Maßstab des Erfolgs ist, verengt sich das Repertoire, Risiken werden vermieden und der ohnehin gesättigte Markt befördert nur noch das immer Gleiche im vermeintlich neuen Gewand technischer oder interpretatorischer Aufbereitung des Alten.

Dies ist Volksverdummung und kultureller Abbau zugleich! Eine geistige Fortentwicklung unserer Kultur ist aber nur möglich, wenn die übergreifenden Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erkannt werden. Dies kann nur dort geschehen, wo der Auseinandersetzung mit dem Neuen nicht ausgewichen wird. Erst dann gewinnt auch die Frage, warum die Musik von Bach und Beethoven für uns heute, auch nach 200 bis 300 Jahren, über den historischen Wert hinaus immer noch Bedeutung haben kann, essentielle Kraft und relativiert die Kategorien von alt und neu, denn - um mit Arnold Schönberg zu sprechen - es geht nicht um alt oder neu, sondern allein um gut oder schlecht.

Es ist ja gerade das zeitübergreifende Potential eines großen Kunstwerkes, das es über die Zeitgebundenheit seiner Entstehung nicht altern läßt, und es dadurch für nachfolgende Generationen nichts an Faszination einbüßt.

Da keine Kunst im historisch keimfreien Raum entsteht, da alles seine Wurzeln und Ursprünge hat, wird auch das Neue stets von den Kräften des Alten gespeist. Umgekehrt gewinnt das Alte im Lichte des Neuen andere Werte als die, die es in seinem historischen Umfeld hatte. Gerade in dieser wechselseitigen Wirkung, im Erkennen der gegenseitigen Verkettung aller geistigen Entwürfe, wird die Frage nach alt oder neu nebensächlich, wird der Blick frei für die eigentlichen Qualitäten, die eben mehr sind als nur die akustische Oberfläche. Dann ist auch Hören keine passive Beschäftigung und das Eintrittsgeld nicht die zu entrichtende Vergnügungs-Steuer; dann wird Hören zu dem, was es im emphatischen Sinne ist: eine gesteigerte Form der Wahrnehmung! Nur so können wir die Botschaften, welche uns von großer Musik verschiedenster Epochen gesendet werden, wirklich empfangen. Dann reduziert sich eine Beethoven-, Bruckner- oder Mahler-Sinfonie nicht allein zur erregenden Klangorgie und die Musik von Webern oder Nono nicht nur zur fragilen Klangverweigerung, dann ist Musik das, was Beethoven sagte: „höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie”.

Da Musik zunächst einmal nur in Schriftform überliefert wird, kann und darf sie immer wieder neu in Klang und Bedeutung dechiffriert werden. Dabei mag es interessant und aufschlußreich sein, bei alter Musik das historische Klangbild zu rekonstruieren, doch unabhängig von der grundsätzlichen Problematik, in wie weit dies überhaupt möglich ist, bleibt dies nur eine von vielen möglichen und legitimen Lesarten. Gewinnt Bachs „Wohltemperiertes Klavier” nicht größere polyphone Transparenz, wenn ein so außergewöhnlicher Musiker wie Glenn Gould diese Musik auf dem Klavier spielt, als wenn sie auf dem Cembalo, dem Tasteninstrument der Bach-Zeit, erklingt? Und ist es nicht denkbar, daß Beethoven, der stets offen für instrumententechnische Verbesserungen war und dessen Klaviermusik die Grenzen des damals Möglichen geradezu sprengte, einem heutigen Steinway oder Bösendorfer den Vorzug gegenüber einem Hammerklavier gegeben hätte, wäre die Instrumentenentwicklung damals schon so weit gewesen? Natürlich kann dies nur Spekulation bleiben. Gleichwohl bleibt bei jeder heutigen Interpretation zu berücksichtigen, daß die akustischen Gegebenheiten der damaligen Instrumente anders waren, also beispielsweise der Gebrauch des Pedals auf einem Instrument unserer Zeit völlig andere Wirkungen erzielt. Ziel sollte und muß es bleiben, nach Möglichkeiten zu suchen, den Geist des Originals zu vermitteln, egal ob auf historischen Instrumenten oder mit den Mitteln heutiger Instrumentaltechnik.

Daneben muß man aber auch bedenken, daß sich unser Empfinden von Klang, bedingt durch geänderte soziale und psychologische Gegebenheiten, in einem stetigen Wandel befindet. Aber gerade dies ist ja das Spannende! Es ist das, was Musik- egal welcher musikgeschichtlichen Epoche - lebendig und immer wieder neu erscheinen lassen kann: nicht nur, daß sie in der interpretatorischen Sicht verantwortungsvoller Musiker stets von Neuem und durchaus verschieden gedeutet werden kann, auch jeder aufmerksame Hörer erlebt sie beim Erklingen für sich allein als ganz persönliches Ereignis! Hierbei gibt es keinen Unterschied zwischen Gesualdo oder Nono, Bach oder Henze , Mozart oder Ligeti, usw.

Alle große Kunst zeichnet aus, daß sie überlieferte und gewachsene Konventionen nicht als gegeben hinnimmt, sondern sie immer wieder in Frage stellt, das Vorhandene also weiterdenkt, kreativ nutzt und somit Energien für Zukünftiges freisetzt. Nicht der Kanon des Abgesicherten, sondern nur das Wagnis des Aufbruchs zu „neuen Ufern” hat Überlebenschancen. Mozart und nicht Salieri, Schubert und nicht Kuhlau haben ihre Zeit deshalb überdauert. Mehr noch als der oft zitierte und mißverstandene Satz Gustav Mahlers „Tradition ist Schlamperei” bezeugt seine Musik sehr eindringlich, daß nur in der schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Alten - ja sogar Alltäglichem! - , im bewußten Eingehen auf das Vergangene bei gleichzeitig kritischer Distanz, Neues bisher Unerhörtes entstehen kann. Auch Beethovens Formulierung „Wahre Kunst ist eigensinnig” meint nicht die zwanghafte Abkehr vom Alten, sondern ist vielmehr als Postulat zu verstehen, Konventionen zu durchbrechen, das Unerhörte zu suchen und so zu neuen Klängen und Formen, zu neuen Möglichkeiten des Ausdrucks vorzudringen. So wird die Gegenwart des schöpferischen Denkens zur geistigen Nahtstelle von Vergangenheit und Zukunft. Alt und Neu verschmelzen zur Einheit des kreativen Prozesses im Moment der Klangwerdung.

Um dies ganz elementar erfahren zu können, müssen wir lernen, Musik wieder wirklich aufzunehmen, unsere Sinnesorgane zu öffnen, sie zu sensibilisieren und auch zu reinigen vom unglaublich aufdringlichen und oberflächlichen Lärm permanenter akustischer Berieselung, wie  er uns in Restaurants, in Supermärkten und auf dem Flughafen entgegenschlägt.

Die emotionale Intensität des Musikhörens und -erlebens können wir nur dann zurückgewinnen, wenn wir Musik nicht als Background für Wohlbefindlichkeit und als angenehme Stimulanz zu Konsum mißbrauchen, sondern Klänge als das nehmen, was sie im ursprünglichen Sinne sind: akustische Ereignisse, die uns in ihrer Gestalt überraschen als geformte Zeit, die diese in der Unentrinnbarkeit ihres effektiven Verstreichens gleichzeitig aufhebt, und die uns so die eigene Vergänglichkeit für einen Moment vergessen lassen, weil  d i e  Sinne aktiviert werden, die die verborgensten und gleichzeitig wesenseigensten Schichten des Innern berühren.

 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir für das nun folgende Konzert eine erfüllte Zeit!

 

© 1995  Michael Denhoff

 

 

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