Alles knüpft an und setzt fort

vom kompositorischen Handwerk zwischen Tradition und Fortschritt

 

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Selten zuvor in der Musikgeschichte war das Erscheinungsbild der zeitgenössischen Musik so heterogen wie heute. Die Fülle unterschiedlichster Ausprägungen musikalischen Denkens ist schier unüberschaubar geworden. Wir erleben heute den geradezu paradiesischen Zustand, daß es kein einheitsstiftendes und gleichmachendes Koordinatensystem der musikalischen Rede mehr gibt. Das schöpferische Procedere hat kein allgemein verbindliches Vokabular mehr. Somit ist Komponieren zu einem steten Balanceakt geworden; man ist nur noch auf sich selbst angewiesen, ja auf sich selbst zurückgeworfen. Die Abwesenheit eines allgemeinen Sprachkodexes und die gleichzeitige Verfügbarkeit allen nur denkbaren Materials ist Zwang und Freiheit zugleich. Wer spürt dies als Komponist nicht?!

 

Manchem außenstehenden Beobachter mag es so erscheinen, als schlage das Pendel nun von einem Extrem in das andere aus: nach der Überbewertung rein intellektuellen Kalküls - ein immer wieder vorgebrachtes Argument für die wachsende Entfremdung von Komponisten und deren Publikum - nun emotional beschwörender Affekt. War zuvor material-orientiertes Denken die einzige Legitimation kompositorischer Praxis, letzte Instanz nur die Lösung technischer wie struktureller Fragen, so scheint jetzt regel- und zügellos nur noch den Instinkten des Bauches gefolgt zu werden oder auf die vermeintliche Hörergunst geschielt zu werden, wobei auch Rückgriffe auf traditionelle Formen und die Tonalität - und hier meine ich die funktionale Dur-Moll-Tonikalität - nicht mehr obsolet sind, ja teilweise ganz unverhohlen das Mittel der Stilkopie bemüht wird. Jedoch verkürzt diese Art der Schwarz-Weiß-Sicht den umfassenden Blick für das Phänomen der sich verändernden musikalischen Gestalten, wie es seit etwa zwanzig Jahren zu beobachten ist.

Sicherlich gibt es sie, die Komponisten, die sich im Rückgriff auf Vergangenes und der vorgeblichen Besinnung auf die Tradition blindlings regressiv und restaurativ verhalten. Doch die unreflektierte Form des „Musik-Recycling”, das epigonale „Zurück zu ...” ist Irrweg und Mißverständniß zugleich. Der Umgang mit Tradition war und ist nie einfach oder gar bequem. Das Bewußtsein,  e i n  Glied in der sich fortschreibenden Ahnengalerie der eigenen Kultur zu sein, der man nicht ausweichen kann und darf, ist notwendig, bedeutet aber gleichzeitig, daß sich nichts wiederholen kann: alles knüpft an und setzt fort. Und hiermit haben wir eine mögliche Definition von Fortschritt! Die Richtung bleibt offen; aber: man ist auf dem Weg, in Bewegung, von einem Ort in’s Unbekannte, Ungewisse, Neue ...

Komponieren war schon immer eben  n i c h t  dasselbe, sondern stets individuelle Ausprägung von Imagination außerhalb kanonisierter Handwerklichkeit und abseits eines gesicherten Sprachwerkzeuges. Hierin ist, als nur ein Beispiel, Beethoven klingender Beweis! Seine Notiz „Wahre Kunst ist eigensinnig, läßt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen” bekundet signifikant sein Selbstverständnis vom Komponieren und dem Handwerk dazu: nur kreatives Sich-Lösen von Normen entfaltet die Kräfte zur Einmaligkeit eines Kunstwerkes. Doch Lösen kann man sich nur von etwas, das einem eigen ist; d. h. Aufbrechen und Auflösen nicht als Selbstzweck, sondern als bewußtes Eingehen und Abkehr von Verbindlichkeiten im Umgang mit dem Erbe. Erst Reibung setzt Energien frei, so können - wie bei Beethoven - form-durchbrechend neue Formen entstehen. Dies ist ein zutiefst individuelles Ereignis, ein subjektiver Akt.

Auch die sogenannte klassische Sonatenform mit ihrem dialektischen Prinzip der Themenfindung und -verarbeitung ist nicht etwas einmal Erfundenes, sondern etwas Gewachsenes; und nur in manchen Lehrbüchern erstarrt sie zur apodiktischen Form, weil dort der kleinste gemeinsame Nenner Anwendung findet, der eben an Kuhlau und Clementi leichter auszumachen ist als an Mozart oder Beethoven. Auch Schoenbergs 12-Ton-Technik und in Folge die serielle Musik verkümmerten nicht selten zum wohlfeilen Kochrezept oder Abzählreim.

Jede Form, jedes Vokabular ist zunächst nur abstraktes Material, das erst dann zur Kunst wird, wenn Kunstverstand und schöpferische Imagination diesem Material Leben einhauchen, es formen und ihm ein unverwechselbar eigene Gestalt geben. Dafür bedarf es nicht zuletzt geschichtlichen Bewußtseins.

Daß das Anknüpfen und Fortsetzen nicht unbedingt bei der direkten Vätergeneration geschehen muß, versteht sich von selbst, zumal jeder für sich seine eigene Tradition hat, die mit seinen Vorlieben und Erfahrungen zu tun hat, mit dem, was in der individuellen Biographie wichtig wurde. Und hier benötigt das Verhältnis zur Tradition einen Filter, der vom Aspekt der Zeitgebundenheit befreit und dafür umso mehr das Geistige, und damit das Wesentliche hervorhebt, das auf ganz unterschiedliche Art und Weise umsetzbar sein kann.

Bei der scheinbar unüblich gewordenen Form der Fortführung musikalischer Tradition, wenn also die jungen Komponisten wieder Sinfonien schrieben oder wie jetzt Opern (mich eingeschlossen), ist der Vorwurf des Eklektizismus schnell zur Hand. Jedoch: können und dürfen wir auf das verzichten, was uns die Jahrhunderte zuspielen?

„Ein Eklektiker ist jeder”, so definiert Goethe es, „der aus dem, was ihn umgibt, aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner Natur gemäß ist.” Wenn man so will, ist also Eklektizismus etwas genuin Kunstimanentes: ein Mozart ist nicht ohne Bach denkbar, Beethoven nicht ohne Mozart; die zweite Wiener Schule nicht ohne Mahler, Stockhausen und Boulez nicht ohne Webern, u.s.w. ... Sie alle haben angeknüpft und fortgesetzt. Tradition und Fortschritt sind kein Widerspruch; sie bedingen sich gegenseitig! Und da die musikalische Vergangenheit perspektivisch immer näher gerückt ist, wirft sie ihre Schatten über die Gegenwart hinaus in eine ungewisse Zukunft.

Die Musik ist keine isolierte Eigenwelt in den Strömungen der Zeit. Beeinflussung durch und Wirkung auf den Zeitgeist durchdringen sich auf nur schwer zu gewichtende Weise. Ohnehin greift die Einteilung der Künstler in Chronisten und Propheten nur  oberflächlich. Es gibt manchen ästhetischen Standpunkt, der es in seiner Zeit bei der Rezeption schwerer hat und der doch eine von vielen Möglichkeiten aller denkbaren Musik darstellt.

Ohnehin sollte in einer Welt, die immer mehr standardisiert wird, die Kunst sich den Freiraum einer nicht einheitlichen Sprache bewahren und sich diesen Reichtum leisten, was in Zeiten einer immer enger zusammenwachsenden Völkergemeinschaft auch die Kulturen anderer Nationen einschließt. Es kann nicht darum gehen, daß alle die gleiche Sprache sprechen, vielmehr sollten wir lernen, viele Sprachen zu verstehen. Im Medienzeitalter lauern überall die Gefahren einer „Mc-Donalds-Kultur”, und die immer schnelllebigere Wegwerfgesellschaft droht auch zu einer „Weg-Hör”- und „Weg-Seh-Gesellschaft” zu verkommen. Dem entgegenzuwirken  ist Aufgabe von Kunst ganz generell. Normatives Denken verhindert dies, notwendig ist dafür eine Vielfalt individueller Artikulationsformen, die Raum für Phantasie und befreiende Entfaltung bietet und somit im Diskurs Möglichkeiten der Orientierung im weitverzweigten Pluralismus von Gesellschaft und Kunst.

Vom Publikum und auch der Kritik ist der Typus kreativer Individualität ungleich schwerer zu assimilieren als eine einheitliche Kunstauffassung, zumal der Markt (...ohne den geht ja heute gar nichts mehr!...) auf wiedererkennbare Zeichen jedweder Provinienz setzt und stets Schubladen der Zuordnung sucht. Die musikalische Realität straft allerdings alle Versuche einer Etikettierung Lügen. Solche Etiketten etwa, die mit Post- oder Neo- beginnen, beschreiben nur Teilaspekte einer scheinbar übergreifenden Kunstauffassung, nie aber ein generelles Zeitphänomen; sie können nur bestimmte und bestimmbare Merkmale, etwa die der musikalischen Texturen, in Beziehung setzen zu schon Dagewesenem. In ihrer zwangsläufigen Vereinfachung sind sie aber nur terminologische Krücken, die nicht dazu dienen, die vielfältigen Transformationsprozesse von Vergangenem in Gegenwärtiges und Zukünftiges zu benennen. Und: solche Etiketten grenzen aus! Randfiguren bleiben so unberücksichtigt. Es gab sie zu allen Zeiten, und auch sie haben das Gesicht ihrer Epoche nicht minder entscheidend mitgeprägt. (Ich denke etwa an Janacek, Varese, Satie, Ives ..., um nur einige zu nennen.)

Doch zurück zum Komponisten, denn  e r  definiert mit seinem Tun den Kunstbegriff. Für sein Handwerk muß sich dabei jeder Komponist sein eigenes Werkzeug schaffen, er muß es finden, es sich immer wieder neu erfinden! Nur die Kraft der eigenen Imagination kann ihm dabei helfen, nicht allein die Summe des angelernten Wissens im Metier. Die Besessenheit und innere Notwendigkeit, dem Gestalt zu geben, was an schöpferischen Denkvorgängen nach einer eigenen  Ordnung strebt, muß ihn treiben. Nicht gesetzte Vorgabe und daraus zwingende Folge, sondern Suche und Versuche sind der Weg zur eigenen schöpferischen Identität.

Komponieren heißt Zusammenhänge schaffen, diese ergeben sich oft auf überraschende Art und Weise bei der Arbeit; sie sind nicht vorhersehbar. Eine Idee, das, was im inneren Ohr einer außerzeitlichen Syntax gehorcht, ändert die Physiognomie beim Prozeß der Fixierung.  Komponieren hat nie ein erreichbares Ziel vor Augen - das wäre nur Handfertigkeit -, sondern heißt Weitergehen, mit jeder neu gefundenen Note (vielleicht?) parabelförmige Annäherung an eine Idealvorstellung, wo Klang und Empfinden identisch werden, wo die musikalische Textur zur expressiven Wirkung transzendiert.

Komponieren bleibt - und es war nie anders - ein Wagnis, ein Weg ohne vorgeschriebene Route, ein Weg mit Hindernissen. Erst mit dem gefundenen Werkzeug zur Überwindung kann eine Handschrift wachsen, einmalig und unverwechselbar werden.

 

Hans Werner Henze hat dies in Worte gefaßt, wie ich es nicht schöner und treffender könnte: „Jeder Komponist ... hat die seiner Natur entsprechende Handschrift, und selbst, wenn er wollte, könnte er sie nicht ändern, seine Fingerabdrücke. Nicht einmal verstellen könnte er sie. Aber sie entwickelt sich wie Handlinien, diese Handschrift, eine Notenschrift, die reift heran zusammen mit dem Menschen, der die Feder über das Notenblatt führt, während es in ihm singt und heult und klirrt und schmerzt vom Leben, von den Erinnerungen und den Träumen, den Dunkelheiten und der Sehnsucht, von den Schrecknissen und von der Schönheit, die immer wieder aufgefunden und gerettet werden muß. ... Komponisten arbeiten - jeder ganz für sich allein auf einsamem Wachtposten im Niemandsland - an den Rettungsversuchen der Schönheit, welche die Wahrheit ist, an der Wahrheit, die so schwer zu finden ist, an Idealvorstellungen vom Menschen."

 

© 1991 by MICHAEL DENHOFF

 

 

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