Vortrag zur Gesamtaufführung von
ATEMWENDE – Klavierzyklus nach Paul Celan op. 49
am 27. November 1987 in Brühl
Verehrte Konzertbesucher,
es ist eine gepflegte Unart bei Konzerten Neuer Musik, die mit ihrer Musik zu Wort kommenden Komponisten zu bitten, dem unvorbereiteten Publikum auch noch einführende Worte mit auf den Weg zu geben, um ihm damit den Höreinstieg etwas zu erleichtern. Also versucht man, mit feinfühligen Worten die Musik zu beschrieben, auf formale wie inhaltliche Dinge hinzuweisen, kurz gesagt: man verrät die Rezeptur oder übersetzt die klingende Sprache Musik in das gesprochene Wort und sagt damit, wie der Rezipient die Musik gefälligst zu hören hat. Daß damit insgeheim die Hör-Unmündigkeit des Publikums vorausgesetzt, ja festgeschrieben wird, übersieht man allzu leichtfertig. Jede Musikbeschreibung ist nur eine lächerliche Krücke zum Verständnis. Das vermeintliche erklärende Wort kann sich lediglich auf der Oberfläche des Wesentlichen bewegen; die Sprache Musik – und Musik ist immer Sprache, weil sie etwas mitteilt und etwas ausdrückt – hat ihre eigene Syntax und Logik, die sich von der gesprochenen Sprache wesentlich unterscheidet. Mit Worten kann nur ein Näherungswert erreicht werden, und mit zur Hilfe genommenen Metaphern und Bildern zur Erklärung eines Musikereignisses wird die eigene Assoziationsfähigkeit des Hörers beschnitten und eingeschränkt. Das Hörerlebnis reduziert sich auf das Auffinden der Entsprechung zwischen beschreibendem Wort und klingender Musik. (...und an der Stelle tatatataaaaaaaa hört jeder das Schicksal an die Tür klopfen, weil einem das ja gesagt wurde...) Aber Musik, ja selbst erklärte Programm-Musik, kann und soll mehr als nur eine mögliche Abbildung im Innern eines Hörers auslösen. Das macht sie erst so spannend und lebendig! Wenn Sie Rechnen gelernt haben, ist bei jedem von Ihnen 1 und 2 gleich 3; wenn Sie aber Hören gelernt haben, wird ein und dieselbe Musik bei jedem von Ihnen etwas anderes auslösen; ja Sie werden sogar beobachten, daß die gleiche Musik zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Gemütsverfassung, in einer anderen Situation gehört, wieder anders einwirkt, von Neuem berührt, also eine andere Temperatur des Erlebens entwickelt. Diese genuine Fähigkeit von Musik macht ihre eigentliche Kraft aus, und es würde bedeuten, dies Kraft auszuhebeln, wollte man nur die verbale Hörhilfe als Messlatte an die Musik anlegen. Bei T. S. Eliot heißt es irgendwo: ein Gedicht teilt sich mit, auch wenn es nicht verstanden wird. Ich möchte daran anlehnend sagen: Musik teilt sich mit, auch wenn sie nicht verstanden wird. Und dem, der unvoreingenommen mit offenen und wachen Ohren hört, hat Musik immer etwas mitzuteilen. Sie ahnen, worauf ich hinaus will?! Mein Wunsch ist es, daß Sie die folgende Musik so auf sich einwirken lassen, wie sie auf Sie zukommt: als ein nicht vorherberechenbares Klangereignis, das eindrückt, das einbrennt, das entrückt, das Spuren hinterlässt. Schlicht gesagt, ich möchte Sie nicht direkt auf diese Musik vorbereiten, um so ein möglichst frisches und unverstelltes Hörerlebnis zu ermöglichen. Dies ist meinerseits keine Verweigerung, sondern vielmehr ein Appell, Ihrer eigenen Hör- und Erlebnisfähigkeit zu vertrauen. Stattdessen möchte ich Ihnen im Folgenden ein kurzes, fragmentarisches Gedankenprotokoll zu Celan anbieten, sozusagen auf einer anderen Ebene mein Tasten und Suchen beim Lesen der Celan-Gedichte rekonstruierend andeuten als nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Sie sich selbst vielleicht ähnlich einer Ihnen unbekannten Musik nähern könnten: also der Versuch einer Entzifferung.
„Um die Seele eines Dichters zu durchschauen, muß man in seinem Werk all die Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen.“, sagt Baudelaire. Das Titelwort „Atemwende“ gehört nicht zu den Worten, die bei Celan am häufigsten vorkommen, und doch, das Wort „Atem“ als Chiffre durchzieht Celans Lyrik wie eine Konstante (Atembaum, Atemreflex, Atemkristall, u.s.w.). Atem, wie Celan einmal sagte: „die Sekunde zwischen schon nicht mehr“ und „immer noch“. Atem ist lebendiges Schweigen, impliziert aber auch Reden und Sprechen, ist Leben, ist Richtung und Schicksal. Die „Wende“ bedeutet Grenzfühlung mit Fremden, mit ganz Anderem, ist Nähe zur Sprachlosigkeit, zum Verstummen, zur Lautheit des Nichts. Man sagt: es verschlägt einem die Sprache; also Ohnmacht und Leere des Wortes.
Das Geschriebene höhlt sich, das Gesprochene, meergrün, brennt in den Buchten.
Schmerz und Wahnsinn bewegen sich hier im Niemandsland zwischen Sprache und Nicht-mehr-Sprache, die Sprache erleidet das Schicksal dessen, der sie spricht. Es ist eine Grenzsituation der menschlichen Sprache, sie verliert die Möglichkeit des Sagbaren, des Gesprächs; sie „brennt“, sie verglüht, verkümmert zum sinnentleerten „Metapherngestöber“. Es ist ein Auflösungsprozess, eine Zersetzung, hin zum Schrecken des Schweigens, denn die Wahrheit ist zugeschüttet durch das hohl gewordene Wort, versteinert zur „Wortwand“. „Der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis“, man spürt das Bedrohliche, das Zerstörerische, der „irrlichternde Hammer“ besingt dies „im Welttakt an der schlaflosen Schläfe“. Das Singen erstarrt zur beängstigenden Fratze, bohrt sich in den Schädel, brennt sich ins Gehirn. Und dann doch auch Hoffnung in dieser finsteren Seelenlandschaft der Celanschen Lyrik:
Aus Fäusten, weiß von der aus der Wortwand freigehämmerten Wahrheit erblüht Dir ein neues Gehirn.
Wieder der Hammer! Die Wahrheit muß freigehämmert werden, aus Fäusten, dann erst wächst wieder Denken, erblüht das neue Gehirn. Oder fast pfingstisch oder messianisch anmutend tritt die Wahrheit mit einem „Dröhnen“ unter die Menschen, mitten ins „Metapherngestöber“. Die Wahrheit liegt jenseits des Geredes und hat eine unerbittliche Kraft. Wahrheit heißt Reinheit, bedeutet Klarheit des Denkens und Fühlens, ermöglicht auch wieder das Singen, das vorsichtig entrückte Lied. Dieser gebrechliche Gesang kann aber nur „jenseits der Menschen“ stattfinden. Es artikuliert sich eine ferne Sehnsucht, die getrübt ist, denn auch die Wahrheit birgt in sich, gerade wegen ihrer Nicht-Fasslichkeit, die Schwermut, die „sternäugige Streunerin Schwermut“, sie schleicht unheimlich. Immer wieder findet sich der Wechsel zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten. Wo Schatten fallen, ist auch immer Licht: Gedankenschatten – Wahrheit, grauschwarze Ödnis – Lichtton. Aber das Licht ist spärlich geworden, hauchdünn: „Fadensonnen“. Nur noch das Licht fadendünner Sonnen ist geblieben. Man verspürt die Kälte der unwirtlichen Situation. „In den Flüssen nördlich der Zukunft“ beginnt ein anderes Gedicht, auch hier die Kälte eines unbestimmten, fernen Ortes. Nur noch an diesem Ort glasklaren Gewässers ist Raum zur Gemeinsamkeit von ich und du; es keimt Hoffen und Erwarten:
In den Flüssen nördlich der Zukunft werf ich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten.
Doch das Dunkel überwiegt auch an der Grenze der Wirklichkeit. Es besteht eine geheime Spannung zwischen erwartendem Auswerfen des Netzes, in dem sich etwas verfangen soll, und dem zögernden Beschweren mit dem lastenden Gewicht von Steinen, die Schatten schreiben; man fühlt sich in dies langsame Sinken des Netzes verstrickt. Etwas Unbestimmtes, Einsames, auf das intime Ich und Du beschränkt, klingt innehaltend auch in einem anderen Gedicht an, weit Zurückliegendes, Vergangenes wird in stillen Tönen beschworen:
Vor dein spätes Gesicht, allein- gängerisch zwischen auch mich verwandelnden Nächten, kam etwas zu stehn, das schon einmal bei uns war, un- berührt von Gedanken.
Aber auch hier droht das Wort zu ersticken, zu verstummen, das Unberührte, das Klare der Gedanken gehört der Vergangenheit an: es „kam etwas zu stehn“. Atemwende: das Wort, der Gedanke, Sprache kippt, seht Kopf, und, wie Celan einmal gesagt hat, „wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abrund unter sich“.
© 1987 by Michael Denhoff
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