zurück

Magische Strahlkraft

Meine Begegnungen mit der Musik von Pierre Boulez

 

Von Michael Denhoff

 

 

Schon in recht jungen Jahren lernte ich die Musik von Pierre Boulez kennen.

Nachdem ich mir mit etwa zwölf bis dreizehn Jahren – gespeist von der väterlichen Noten- und Schallplatten-Sammlung – die Zwölftonmusik der Zweiten Wiener Schule aber auch die Musik von Hindemith, Bártok und Strawinsky in kleinen nachahmenden Stücken anzueignen versuchte, stand schon mit vierzehn Jahren die Musik der Nachkriegszeit im Mittelpunkt meines Interesses und ich nutzte jede Gelegenheit, in die faszinierende Welt für mich ganz neuer und unerhörter Klänge aufzubrechen. Da waren beispielsweise die jährlichen Besuche der Wittener Tage für Kammermusik, zu denen mein Vater den neugierigen zwölfjährigen Sohn schon mitnahm, immer ein besonderes Highlight. Aber auch die regelmäßigen Konsultationen bei Günter Bialas, den ich mit dreizehn Jahren kennengelernt hatte und der sich meiner mit geradezu väterlicher Zuneigung annahm, gaben mir das Gefühl, hier die erhofften Anregungen für das eigene Tun zu bekommen.

Zu Weihnachten wünschte ich mir von meinen Eltern neben Partituren Neuer Musik die Schallplatten-Editionen der inzwischen legendären Avantgarde-Serie der „Deutschen Grammophon“ … und bekam diese in mehrjähriger Folge auch. Es war eine Offenbarung: dort machte ich u.a. erstmals die Bekanntschaft mit der Musik von Lutoslawski und B. A. Zimmermann, die mich zutiefst beeindruckte und meine Neugierde weiter anfachte.

So war es nur eine Frage der Zeit, wann ich auch auf die Musik von Pierre Boulez stoßen mußte. Es war – wenn ich mich richtig erinnere – die Empfehlung von Bialas, mir einmal die Noten von „Le marteau sans maître“ genauer anzuschauen, wenn ich sehen wolle, wie Musik in der Nachfolge Weberns heute klingen könne. Was mich beim Hören dann aber faszinierte, war weniger das strukturelle Denken, das ich anhand der erworbenen Partitur nachzuvollziehen versuchte, ohne wirklich die kompositorische Anlage schon umfassend durchdringen zu können, sondern vielmehr die so noch nicht gekannte kristalline Farbigkeit dieser von Boulez gewählten besonderen Instrumenten-Kombination. Geradezu elektrisiert hörte ich mir diese Musik immer wieder an – fast täglich (so wie einige Zeit zuvor Bártoks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ jeden Tag mindestens einmal auf dem Plattenteller lag), um dem besonderen Geheimnis dieser Klangwelt auf die Spur zu kommen. Und als ich irgendwann erfuhr, „Le marteau sans maître“ sei in meinem Geburtsjahr 1955 uraufgeführt worden, schien es mir ein geradezu geheimnisvolles Signal zu sein, diese Musik könne für mich als junger Komponist von ganz besonderer Bedeutung sein oder werden. Jedenfalls war es fortan Grund genug, weiterhin den Spuren von Boulez zu folgen.

So las ich ziemlich bald natürlich auch seine musiktheoretischen Schriften und habe vor, während und auch noch nach meinem Studium in Köln immer wieder die Boulez’schen Partituren studiert und analysiert. Eine der Analysen habe ich 1985 für eine Publikation in Textform verschriftlicht; sie behandelt das zehn Jahre zuvor entstandene Orchesterstück von Boulez, das bis heute für mich nichts an magischer Strahlkraft verloren hat: „Rituel – in memoriam Bruno Maderna“ (www.denhoff.de/boulez.htm).

Und als ich 1995 mit der Arbeit an meinem umfangreichen „Mallarmé-Zyklus“ begann, nahm ich mir erneut die Werke von Boulez vor, die sich auf Mallarmé beziehen, um unter gereiften Voraussetzungen zu ergründen, welche Spuren dieses einmalige literarische Werk bei ihm hinterlassen hat.

Auch dabei stellte ich wieder fest, was eigentlich bis heute unverändert geblieben ist: das, was mich an der Musik von Boulez immer wieder gefesselt hat, ohne daß ich sagen könnte, sie habe letztlich nachvollziehbar oder spürbar Einfluß auf mein eigenes musikalisches Denken gehabt, ist die Virtuosität im Umgang mit Klangfarben in all den von ihm gewählten Facetten. Bewundernswert sind die orchestralen Ausdeutungen und Erweiterungen der frühen „Douze Notations“, ebenso sein sehr differenzierter Umgang mit Live-Elektronik und nicht minder die ungewöhnlichen Instrumental-Besetzungen wie beispielsweise bei „Sur Incises“, einem Werk, welches beim ersten Live-Erlebnis einen ganz starken Eindruck bei mir hinterlassen hat.

Dennoch – und dies ist eine Beobachtung, die ich mit zunehmender eigener künstlerischer Reife und Unabhängigkeit machte – wirkt auf mich manches Werk von Boulez, das mich beim ersten Hören auch gerade wegen seiner brillanten Textur und ungeheuren Virtuosität blendete, inzwischen bei erneuter Begegnung eher recht abstrakt. Technisch bemerkenswert perfekt komponiert bestaune ich weiterhin die Machart, aber darüber hinaus vermisse ich oftmals etwas schwer Benennbares, das mir möglicherweise durch die glitzernde Oberfläche des rein Handwerklichen verdeckt oder verborgen zu bleiben scheint.

Auch wenn ich selbst inzwischen eher ein Komponist der leisen Töne und introvertierter Klanglichkeit geworden bin, war die Auseinandersetzung mit Boulez für eine bestimmte Phase der eigenen Entwicklung wichtig.

 

 

März 2016

zurück