Arbeitstisch in der "Villa la Collina"

CADENABBIA

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Einmal im Jahr ziehe ich mich gerne in eine private Klausur zurück, um völlig unabgelenkt und angeregt durch eine neue Umgebung nachdenken und arbeiten zu können. Durch ein Arbeitsstipendium der Adenauer-Stiftung hatte ich das Glück, im August 1996 für drei Wochen in die Villa Collina in Cadenabbia eingeladen zu sein. Der Zeitpunkt war denkbar günstig, hatte ich doch gerade nach eineinhalb Jahren  intensivster Arbeit meinen abendfüllenden Mallarmé-Zyklus abgeschlossen, von dem es galt, nun Abstand zu gewinnen. Mit der Hoffnung, neue Kräfte schöpfen zu können, aber ohne feste Pläne war ich angereist. Ich wollte mich treiben lassen, warten, was sich einstellt durch die Eindrücke dieser topographisch so einmaligen Lage und Atmosphäre des Comer Sees.

Es kam ganz anders. Unerwartet schnell war ich bei mir selbst angekommen, so daß ich das Ambiente der Villa und ihrer Umgebung zwar als sehr angenehm empfand, aber der eigentliche Ort aller Konzentration wurde der einfache alte Holztisch auf meinem Zimmer. Es war die erneute Lektüre von „Worstward Ho”, diesem dunkel-schönen späten Prosatext von Beckett, die mich schon einige Male zu Stücken angeregt hatte und die nun wieder zur eigenen Überraschung eine Sogwirkung hatte, der ich mich nicht entziehen konnte. Geradezu fieberhaft begann ich zu arbeiten, verließ mein Zimmer nur für die Mahlzeiten und einen täglichen Spaziergang. Nach wenigen Tagen war ein neues Stück für Klavier und Fern-Cello ...AS WHEN NO WORDS op. 77 fertig. Doch dies war nur der Auftakt einer so noch nicht gekannten Intensität bei der Arbeit. In den folgenden zwei Wochen entstanden noch das CADENABBIAER GLOCKENBUCH - neun und vier Etüden op. 78 für ein und zwei Klaviere und das 8. STREICHQUARTETT „nel interno” op. 79. In solch dichter Folge sind bei mir noch nie drei Stücke entstanden. Die atemberaubende, fast beängstigende  Geschwindigkeit, mit der sich die Musik einstellte, irritierte mich; zeitweise hatte ich das unheimliche Gefühl, eine fremde Hand führe die meine. Was war es, das so erruptiv die Töne und Klänge aus mir herauswarf? Bis heute weiß ich keine plausible Erklärung dafür, aber mit heutigem Abstand weiß ich, daß vor allem das in Cadenabbia entstandene Streichquartett und auch das Duo für Klavier und Fern-Cello in meinem bisherigen Gesamtschaffen eine besondere Stellung einnehmen, bin ich in ihnen doch in für mich neue Bereiche der musikalischen Rede vorgedrungen, die für meinen weiteren Weg von entscheidender Bedeutung waren.

Und mit dem Glockenbuch habe ich Cadenabbia dann doch noch ein klingendes Denkmal gesetzt: das faszinierende Geläut der Dorfkirche von Griante, die Mittags um zwölf im akustischen Wechselspiel mit dem Geläut von S. Giovanni am gegenüberliegenden Ufer des Sees in fließendem Übergang immer wieder neue rhythmische Muster entwarf, war mir als Ohr-Mensch immer eine willkommene Ablenkung und Unterbrechung der Arbeit. Die „Musik” dieser 10 Glocken hat auf die Etüden eingewirkt, die rhythmische Phänomene in der Überlagerung unterschiedlicher Perioden untersuchen.

 

© 2000 Michael Denhoff

 

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