Neue Klangwelten

Erfahrungen mit der „Campanula“, einem neuen Streichinstrument von Helmut Bleffert

 

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Als ich vor einiger Zeit in der Nähe von München in einem Konzert die Gambensonaten von Bach auf der Campanula spielte, kam anschließend eine begeisterte Konzertbesucherin zu mir und schwärmte von der für sie unerhörten Klangsinnigkeit dieses Instrumentes, das sie gerade zum erstenmal kennengelernt hatte: "Das klingt so bezaubernd, daß ich nie wieder ein Cello hören möchte!". Diese im spontanen Überschwang gemachte Äußerung mag natürlich übertrieben wirken. Die Campanula kann und will das Violoncello nicht ersetzen -, aber dennoch zeigt die Reaktion, daß dem Instrumentenbauer Helmut Bleffert mit diesem neuen Streichinstrument in der Tat eine durchaus interessante und ernstzunehmende Bereicherung der herkömmlichen Streicherfamilie geglückt ist.

CampanulaZwar sind in die Konzeption der Campanula Erfahrungen und Aspekte des Instrumentenbaus vergangener Epochen eingeflossen (z.B. von der keltischen Chrotta die Bauweise des Steges und von der Viola d-amore und dem Baryton der Einsatz von Resonanzsaiten), aber dennoch hat dieses Instrument ein ganz eigenes, unverwechselbares Klangbild, das sich deutlich von dem anderer Instrumente mit Aliquot-Saiten unterscheidet. Im Vergleich etwa zum Baryton, das durch die Bauweise mit flachem Boden eher der Gambe verwandt ist, besticht die Campanula durch eine merklich größere Brillanz und kräftigeres Volumen im Klang.

 

Als Instrumentalist habe ich inzwischen in einer Reihe von Konzerten die Campanula vorgestellt und konnte dabei einige Erfahrungen über die Möglichkeiten und Grenzen dieses Instrumentes sammeln. Da die Spielsaiten wie beim Violoncello in Quinten gestimmt sind und auch die Mensur identisch ist, könnte man grundsätzlich alle Literatur für Cello auf die Campanula übertragen. Aber damit würde man wohl über das Ziel hinausschießen. Geht man vom Instrument und seinen typischen Eigenarten aus, so kann man doch nicht alle Werke für Cello bedenkenlos adaptieren. Von vornherein würde ich alle großen Solokonzerte ausschließen und wohl auch das gesamte klassisch - romantische Repertoire mit wenigen Ausnahmen, wie etwa die "Arpeggione - Sonate" von Schubert, die heute ja ohnehin so gut wie nie im originalen Klangbild zu hören ist, nur alternierend von Viola oder Violoncello mit Klavier ausgeführt wird.

 

Die speziellen Reize und die charakteristische Farbigkeit der Campanula kommen ohnedies eher in der intimeren Atmosphäre der Kammermusik zum Tragen. Eine geradezu ideale Klangverbindung entsteht im Zusammenspiel mit dem Cembalo, dessen historische Bauweise auf ein gewisses Nachklingen hin konzipiert ist. In dieser Besetzung läßt sich nun sozusagen die gesamte Barockliteratur spielen. Von Campanula und Cembalo ausgeführt klingen z. B. die Bach'schen Gambensonaten fast befriedigender als mit Viola oder Violoncello. Besonders prädestiniert für Campanula erscheinen mir auch die Solosuiten für Cello von Bach: wie mit vorsichtigem Pedal schafft die Campanula einen natürlichen Klangraum der die oft übliche Hall - Beimischung bei Schallplattenaufnahmen überflüssig macht; die für Bach so typischen Akkordbrechungen (z. B.: Praeludium der ersten und vierten Suite) können so schöner zusammengefaßt werden; gedachte Orgelpunkte werden durch das Mitschwingen der Resonanzsaiten unterstrichen.

 

Neben der Barockliteratur, die ich bisher vorzugsweise in den Konzerten mit Campanula berücksichtigt habe, laßt sich aber ebenfalls manches Solostück aus jüngster Zeit ausgesprochen reizvoll darstellen. Im Jahre 1979, lange bevor ich Helmut Bleffert und seine Instrumente kennenlernte, habe ich ein kurzes Solostück für Cello geschrieben - "Capriccio per E. B. B.“, das mir aus heutiger Sicht wie in Vorahnung für die Campanula gedacht zu sein scheint. Die virtuosen Flageolett-Bariolagen klingen hier in einer ätherischen Schönheit und klaren Deutlichkeit, wie sie auf dem Cello kaum zu realisieren sind. Ich kann mir dieses Stück mittlerweile fast nicht mehr auf dem Cello ausgeführt vorstellen, habe es in letzter Zeit ausschließlich auf der Campanula gespielt!

 

Neben diesem "Capriccio" gibt es weitere geeignete Stücke neueren Datums. Von Günter Bialas, dem in München wirkenden Komponisten des Jahrgangs 1907, habe ich im vergangenen Jahr das "Albumblatt GS" - und von dem jungen englischen Komponisten David Graham das Solostück "Clown" auf der Campanula uraufgeführt. Beide Stücke waren ebenfalls ursprünglich für Cello gedacht, doch mein Vorschlag, sie auf der Campanula zu spielen, fand bei den Komponisten begeisterte Zustimmung, nachdem sie ihr Stück auf diesem Instrument gehört hatten. Die vielfältigen Klangmöglichkeiten könnten sicherlich auch anregend für andere Komponisten sein und ich hoffe, daß in absehbarer Zeit neue Werke speziell für dieses Instrument entstehen werden, da ihm bei genauester Kenntnis neuartige und ungewöhnliche Farben zu entlocken sind.

 

Zur Zeit arbeite ich selbst an einem Stück für drei Campanulen, das wohl das erste "Original-Werk" für diese neuen Instrumente sein wird. Der Titel, "Y sobre los instantes...", verweist auf eine Gedichtstrophe des spanischen Lyrikers Jorge Guillén, die dem Stück als Motto vorangestellt ist:

 

Und über den Augenblicken,

die unaufhörlich vorüberziehn,

rette ich ständig die Gegenwart,

Ewigkeit in der Schwebe.

 

Beeinflußt vom musikalisch - philosophischen Denken Bernd Alois Zimmermanns (1918-70) beschäftigen mich bei meinen eigenen Arbeiten immer wieder die Dimensionen und Aspekte von Zeit und Raum. So wird auch in diesem neuen Stück versucht, trotz subkutaner Entwicklungen den Stillstand von Zeit und ihre gleichzeitige Unendlichkeit musikalisch darzustellen. Verschiedene Zeitebenen, deren kompositorisch-zyklischer Verlauf eigenständigen Regeln unterliegen, ergeben hier in ihrer Schichtung eine Art changierendes Kontinuum, ähnlich wie auch unser Leben durch die Addition unterschiedlicher Zyklen der Natur bestimmt ist: die größeren Zyklen wie den Jahresverlauf zwischen Sommer und Winter, die Mondphasen, den Wechsel von Tag und Nacht bis hin zur relativ schnellen Frequenz unseres eigenen Herzschlages. Die Natur spiegelt sich hier auch in der Wahl der kompositorischen Mittel wieder: das Proportionsverhältnis des goldenen Schnittes, dargestellt in der Fibonacci-Reihe (1 – 2 – 3 – 5 – 8 – 13 – 21 – 34 u.s.w.), spielt eine wesentliche Rolle bei der zeitlichen Gliederung. Auch der bevorzugte Klang der reinen Obertöne darf als Abbild von Natur verstanden werden. Durch eine jeweils um einen Halbton versetzte Grundstimmung der drei Instrumente erreiche ich eine große Vielfalt an Kombinationsmöglichkeiten von natürlichen Flageolettklängen. Dabei benutze ich z. B. bei der im Einsatz ritardierenden und sich zeitlich verbreiternden Klangebenen der 6-stimmigen Flageolettakkorde im Abschnitt ab Takt 40 nur bestimmte Kombinationen, die durch dreifache Transposition eines Intervalls (große Sekunde, kleine Terz, große Septime, große None) nur Akkorde entstehen lassen, die im Zusammenklang in sich oder im Verhältnis zu anderen gespiegelt sind.

Partiturausschnitt
Y SOBRE LOS INSTANTES op. 47
für drei Campanulen Ausschnitt Y SOBRE LOS INSTANTES op. 47

 

Gegenläufig zur zyklischen Wiederkehr dieser kristallinen Flageolett-Klänge verhält sich die Einsatzdichte der in sich auf engstem Raum rotierenden Pizzicato-Passagen (Takt 57 - 59) auf den Resonanzsaiten. Das introvertierte Triolen-Schwingen verkürzt sich jeweils um einen Viertelwert bei seinem erneuten Erscheinen (Takt 69 - 71), gleichzeitig verkleinern sich die Einsatzabstände. Die dritte Klangebene verharrt fast statisch in sich: in regelmäßigen Zeit - Intervallen gliedert ein blitzartiger Einwurf aus Pizzicato-Impuls, Crescendo und Flageolettabriß den Raum (Takt 46/47 - 55/56 u.s.w.).

 

Es würde zu weit führen, hier alle kompositionstechnischen Details des Stückes weiter auszuführen und einen analytischen Überblick zu liefern, der sicherlich für manchen interessant sein mag. Diese Hinweise sollen nur beispielhaft die innere Ordnung andeuten und gleichzeitig beleuchten, welche Farbwelt dieses grundsätzlich sehr stille, im Ausdruck verhaltene Stück bestimmt und charakterisiert. Deutlich wird, daß es mir hier um eine sehr nuancenreiche differenziert sensible Klangsprache geht, die vordergründige Virtuosität meidet, eher wie ein Seismograph innerste Regungen aushorcht. So ist für mich die feinste Farbschattierung eines Einzeltones, seine klangliche Veränderung die elementarste und komprimierteste Form von Gesang!

 

Durch die speziellen Klangmöglichkeiten der Campanula, durch das natürliche Mitschwingen der Obertöne auf den Resonanzsaiten sind die feinsinnigsten Farbunterschiede wunderbar darzustellen: das "sul ponticello"-Spiel klingt in seinem Obertongemisch noch wesentlich komplexer und damit schillernder als auf dem Cello, Flageoletts klarer und reiner, ein Pizzicato auf den Spielsaiten runder und auf den Aliquotsaiten schärfer. Mit Einschränkungen könnte man "Y sobre los instantes..." auch mit drei Violoncelli aufführen, doch würden dabei wichtige Eigenarten diese Stückes verlorengehen, es würde dein Reichtum an Farbwerten einbüßen.

 

© 1986 Michael Denhoff

 

 

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