MUSIK DER EXPRESSIVITÄT

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Michael Denhoff, 1955 als Sohn eines Gleiwitzer Vaters in Ahaus (Westfalen) geboren, wird zu der jungen deutschen Komponistengeneration gezählt, ohne daß er jedoch damit in einer anderen als lediglich zeitlichen Hinsicht eingeordnet ist. Denn "im heutigen musikalischen Umfeld, das geprägt ist von einer nie so extrem gekannten Pluralität von Stilrichtungen und Zeitströmungen als junger Komponist seinen Platz zu finden und unbeirrbar seinen Weg zu gehen" *) scheint ihm selbst nicht leicht. Und doch hat Denhoff in harter Arbeit "seinen Platz" in der heutigen Musiklandschaft gefunden und geht "unbeirrbar seinen Weg".

Der Ausgangspunkt zur kompositorischen Arbeit war ihm ein doppelter: zum einen die bildende Kunst, das Bedürfnis, nicht nur eine Leinwand, sondern auch ein Notenpapier zu gestalten, und zum anderen die klingende Musik selbst, zu der in einem musikalischen Elternhaus durch frühes Klavier- und Cellospiel eine lebendige Beziehung erwuchs, Kreativität geweckt wurde. Der praktische Umgang mit Musik und ein enges Verhältnis zur Malerei blieben fortan für Denhoffs Komponieren von großer Bedeutung und wurden durch eine tiefe Beziehung zur Wortkunst, speziell zur Lyrik ergänzt.

Die Begegnung mit der Musik Bela Bartoks wurde für den jungen Komponisten zu einem frühen ‚Schlüsselerlebnis’, für die ersten kompositorischen Gehversuche von damals ebenso wie für den fertigen Komponisten von heute. Früh lernte er in einem Konzert seiner Heimatstadt Bartoks 5. Streichquartett kennen, das ihm „ungehörte musikalische Welten“ erschloß und gleichzeitig in ihm große Betroffenheit auslöste. Eine ähnliche Wirkung hatte auf den 13-jährigen die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, und so sieht Denhoff in Bartok einen seiner ersten wichtigen Lehrer, dem er 1972/73 ein Kammerorchesterstück (Reflectioni - hommage à Bartok) widmete. Auch heute noch bewundert er die scheinbar unvereinbare Symbiose von "Kalkül und Expression, Genauigkeit und Gefühlsintensität" in Bartoks Musik, machte sie, bewußt oder unbewußt, zu den wichtigsten Merkmalen seines eigenen Komponierens. Zu seinen frühen Lehrern gehört auch Günter Bialas, 1907 in Bielschowitz geboren und heute als Komponist wie als Lehrer zweier Komponistengenerationen und Schülern wie Peter Michael Hamel und Nikolaus A. Huber anerkannt. Bialas war es, der bereits die frühen Kompositionsversuche Denhoffs ernst nahm und ihm - wie Denhoff in der Einführung zu den Bialas gewidmeten Goya-Impressionen (1982) schreibt - "Mit seiner nie verletzenden Kritik Mut zum Komponieren machte".

1975 nahm Denhoff ein Kompositionsstudium an der Kölner Musikhochschule auf, zunächst bei Jürg Baur, später dann bei Hans Werner Henze. Parallel dazu studierte er bei Siegfried Palm und Erling Blöndal Bengtsson Violoncello, legte 1980 das Konzertexamen ab und belegte für einige Semester Kammermusik beim Amadeus-Quartett. Für den Kompositionsstudenten Denhoff blieb die Auseinandersetzung mit der traditionellen Musik ein essentielles Bedürfnis, unbedingte Voraussetzung "zur Selbstfindung eines Komponisten". Der Musik Gustav Mahlers kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zu. Für formale Gestaltung und vor allem für Instrumentation gibt Denhoff vor, bei Mahler viel gelernt zu haben. Man hört es seiner Musik oft an: seine Partituren sind sehr feinsinnig durchgehört, er kennt die Möglichkeiten und Klangfarben jedes einzelnen Instrumentes und weiß dies in reizvollen Verbindungen für eine nuancenreiche, sehr persönliche Klangsprache einzusetzen.

Während seiner Studienzeit entwickelte Denhoff zur Musik Bernd Alois Zimmermanns, der bis zu seinem Freitod 1970 als Kompositionslehrer in Köln wirkte, eine besondere, sehr intime Beziehung. Mit einer Arbeit über Zimmermanns Orchesterwerk 'Stille und Umkehr' schloß er sein Kompositionsstudium ab. Eines jener frühen Werke, in denen Denhoff einen eigenständigen Stil zu finden begann und das ihm auch heute noch sehr wichtig ist, ist Zimmermann gewidmet: Umbrae - in memoriam B. A. Zimmermann, für Violine, Violoncello und großes Orchester (1976). Damals war es vor allem die Ausdrucksstärke der Musik Zimmermanns, die "persönliche Botschaft an den Hörer", die seine Musik zu vermitteln wußte, welche Denhoff faszinierte und ihn dazu bewegte, mit einem ‚tombeau' diesem zu Lebzeiten wenig gewürdigten Komponisten, dessen Leben in tragischem Schatten stand, zu huldigen. Schattengebilde, verzerrte Kanons, durchlaufen die Komposition, deren emotionaler Höhepunkt ein Zitat aus Zimmermanns Klaviertrio 'Présence' bildet: ein Blues, Tanz der Trauer, eingeleitet durch den Ton d, einen zentralen Ton in Zimmermanns Werk, in der Musikgeschichte als Ton des Todes vorbelastet - Mozarts Requiem, Mahlers IX. Symphonie, Violinkonzert und Wozzeck von Alban Berg ... Später dann hat sich Denhoff intensiver mit den geistigen Hintergründen von Zimmermanns Werk befaßt, wurde gefangen von Zimmermanns Gedanken von der Kugelgestalt der Zeit und begriff Musik auch für sich selbst mehr und mehr als eine "Kunst der Zeit, gestaltete Zeit - erlebte Zeit, bewegte Ordnung - geordnete Bewegung". Aus dieser Beschäftigung heraus erwuchs sein Orchesterstück Tempus impletum - Expressionen der Zeit und des Raumes (Sinfonia II) (1978). Zu den drei Dimensionen des Raumes tritt als vierte Dimension die des Erlebens, der "Expression und Emotion" hinzu. Die Zeit, dargestellt in einem langgezogenen, sich bis zur Fünfstimmigkeit steigernden Melodiebogen, läßt sich in unterschiedlicher Weise interpretieren, füllen: quasi statisch, durch Raumklänge (Blechbläserakkorde), oder in Bewegung befindlich, durch ständig absteigende Holzbläserfiguren, oder aber immer mehr verschwindend, durch mal crescendierende, mal decrescendierende, aber immer spärlicher auftretende Flageoletts der Streicher, und schließlich als punktuelle Beleuchtung des gesamten Geschehens, in Klavierfigurationen.

Die Idee des Prinzips der Zeitdehnung beherrscht auch spätere Kompositionen Denhoffs - z. B. Traumgesicht und Morgenlied (1981), Einsamkeit (für kleines Orchester - 1982) oder den instrumentalen Prolog und Epilog aus Chants d' automne (für Bariton und Kammerensemble - 1982) -, denen allen eine Aussage, ein Ziel gemein zu sein scheint: das Bewußtwerden in der Zeit, in der Gegenwart, und die innere Bedrohlichkeit, die dieses Bewußtwerden eröffnet.

Die Kompositionen Traumgesicht und Morgenlied, als zusammengehörig konzipiert, bezeichnen gewissermaßen eine Wende in Denhoffs kompositorischem Schaffen. 1981 wurde er als Komponist zu dem 'International Dance Course for Professional Choreographers and Composers' nach Guildford (GB) eingeladen, der damals unter der Leitung von John Cage und Merce Cunningham stattfand. Die Begegnung mit dem „Lebensphilosophen" Cage und die Atmosphäre, in der diese Tage verliefen, bezeichnet Denhoff als eine der wichtigsten Erfahrungen, die er in der letzten Zeit gemacht hat. Der Kurs sah vor, daß jeden Tag eine neue kurze Komposition vorlag, ein Prinzip, das den Komponisten dazu zwang, eine Aussage in komprimiertester Form, quasi im Extrakt niederzuschreiben, in konzentriertester Form zu arbeiten. Es verlangt eine kompromißlose, "verletzliche" Sprache, eine „Artikulationsvielfalt auf engstem Raum", führt zu einem "Nachspüren in jenen hermetischen Bereichen des Geistes, in denen Unfaßbares zu Hause ist". Diese Sprache kennzeichnet die jüngeren Kompositionen Denhoffs, seit den beiden zuletzt in Guildford entstandenen Kompositionen Traumgesicht und Morgenlied.

Die Komposition Traumgesicht, ein Ausdruck der "Urangst vor der Zerstörung allen Lebens und aller Kultur, vor der Selbstzerstörung der Menschheit", lehnt sich an Dürers Aquarell 'Traumgesicht' an. Was Dürer bereits 1525 als düstere Vision darstellte, was zu etwa gleicher Zeit Nostradamus weissagte und dem wir heute immer erschreckender nahe kommen, das stellt Denhoff in seiner Tonbandkomposition (mit Violoncello, Klavier und Tamtam) mit Spannung und Intensität dar: seufzerähnliche Regungen, kaum merklich dichter werdende Obertonklänge füllen, fast statisch wirkend, die ersten beiden Drittel des Stückes. Eine große Spannung baut sich auf, aus der eine enorme Eruption, über vier Lautsprechereinheiten in den Raum gesprengt, aufschrecken läßt, erlöst. In einer weltgespreizten, alle 8 Sekunden im Raum kreisenden Terz (h - d) verendet die Komposition. Die Klarinette übernimmt das zuletzt gehörte d, und stimmt damit ein Morgenlied an, eine "Musik der Läuterung und Hoffnung": es ist wie das erste Hören von Tönen und Klängen nach beklemmender Stille, wie die ersten Sonnenstrahlen nach einer unendlich langen Nacht, wie das Wachsen einer zarten Blume in irreal toter Landschaft."

Bilder sind für Denhoff, der für kurze Zeit mit dem Gedanken spielte, ein Kunststudium aufzunehmen, eine wichtige und oft genutzte Inspirationsquelle für die eigene Musik. Zunächst waren es Bilder von Marc Chagall, deren sensible Farbkomposition, deren traumhafte Symbolsprache, deren Reinheit den jungen Komponisten tief ansprachen. Er wählte den warmen Bratschenklang, um die Atmosphäre von 6 Bildern Chagalls in der Komposition Champs de Mars (1975) in Tönen einzufangen. Eine andere Faszination übten die Bilder Kandinskys und Klees auf ihn aus, ihre Reduktion auf das Abstrakte, ihre Musikalität. Kandinskys in seiner Schrift 'Über das Geistige in der Kunst' formuliertes Gedankengut ist für Denhoff ein wichtiger Denkanstoß gewesen, könnte es für jeden Künstler sein.

In der Sensibilisierung für eigene künstlerische und allgemeine gegenwärtige Problematik waren es schließlich Goyas Radierungszyklen 'Los Caprichos' und 'Los Desastres de la Guerra', deren Aussageintensität für Denhoff von ganz entscheidender persönlicher Bedeutung wurde. Die Wahrnehmung künstlerischer Problematik schlug sich erstmals in Melancolia - Annäherungen an einen Kupferstich von Dürer (für kleines Orchester - 1980) musikalisch nieder. Im Sinne einer zeitgenössischen Deutung ist in Dürers Kupferstich die "gutartige" Melancholie, "die den geistig arbeitenden Menschen als akute depressive Stimmung befällt", in einer Frauengestalt personifiziert. Von ähnlicher Aussageintention sind die 1982 entstandenen Goya-Impressionen für Violoncello und Klavier, Impressionen auf Goyas Radierung 'EI sueño de la razon produce monstruos' (Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer). Diese düstere Vision, ursprünglich als Titelblatt für die 'Caprichos' gedacht, "behandelt zeitlos aktuell die Künstlerproblematik: Nachtgetier umflattert den auf dem Arbeitstisch eingeschlafenen Künstler. Eine Eule, im Spanien de 18. Jahrhunderts Symbol der Finsternis, Rückständigkeit und Ignoranz, reicht ihm mit der Kralle einen Pinsel hin und glotzt mit bösartig aufgerissenen Augen hypnotisierend auf den Kopf des Schlafenden, als wolle sie damit die Niederschrift seiner Träume erzwingen".

Ausdruck einer Bewußtwerdung vielmehr allgemeinerer gegenwärtiger Problematik, in der Aussage dem Traumgesicht verwandt, wenn auch von größerer Intensität, ist Denhoffs letztes großes Orchesterstück, Desastres de la Guerra (1983), das Radierungen aus Goyas Zyklus musikalisch nachempfindet. Bilder des Grauens, des Krieges, der Zerstörung und Verstümmelung hinterließ Goya in krasser, düsterer, heute wie damals gültiger Aktualität. Düster und gewaltig sind auch die musikalischen Mittel, die Denhoff für die Darstellung wählt: Brutalität, Schreie der Verzweiflung, ein wilder, bizarrer Totentanz, Grabesschwere und Resignation werden mit Hilfe eines großen Orchesterapparates in sprechender Instrumentation, komplexer Rhythmik und zerreißender Spannung musikalisch heraufbeschworen. Dieses ausdrucksstarke, betroffen machende Werk zeigt, daß Denhoff den Orchesterapparat vollkommen beherrscht, diesem Instrument jede gewünschte Farbe und Aussage entlocken kann.

Erst in jüngerer Zeit gilt das Interesse auch der Vokalkomposition. Prosa und Lyrik lagen den Werken zwar oft schon zugrunde - Werke von Rilke (O Orpheus singt, fünf lyrische Stücke für Oktett 1977); Nachtfantasien für Gitarre 1982), von Paul Celan (Atemwende, Klavierzyklus 1984), von Walter Buchebner (Einsamkeit für kleines Orchester 1982) oder von Paul Verlaine (Mystiques barcarolles, 3. Streichquartett 1981/82) - mehr jedoch als Inspirationsquelle denn zur Vertonung. Die musikalische Sprache, die Sensibilität der Werke der französischen Symbolisten wählte Denhoff zur Vertonung für sein erstes größeres Vokalwerk, Chants d’ automne, für Bariton und Kammerensemble (1982). Die herbstlichen Farben der Gedichte, von Verlaine, Rimbaud und Baudelaire in jeweils anderen Tönungen erweckt, werden in warmer Baritonlage mit dunkel gefärbtem Instrumentarium nachgezeichnet; keine Tonmalerei, sondern eine den feinen Schattierungen der Gedichte sensibel nachhorchende Musik, die es vermag, die in den Gedichten verbreitete Stimmung auf den Hörer zu übertragen.

Ebenfalls von zarter Stimmung, wenn auch von eher aphoristischer Leichtigkeit sind die Gedichte des Spaniers Juan Ramon Jimenez, die Denhoff für sein letztes, jüngst uraufgeführtes Vokalwerk Voz mia, canta, canta (für 4 – 8 stimmigen Chor a cappella und Flöte solo, 1984) wählte.

Ist die Vokalmusik ein neuer Weg, Vorlagen, Inspirationsquellen in die Komposition einzubringen? Nein: die Auseinandersetzung mit Kunst im weiteren Sinne, das Wahrnehmen von Kunstgebilden wie Bildern, Lyrik oder Prosa, das einen Künstler in besonderer Weise beschäftigen, berühren muß, fließt unwillkürlich in direkt oder indirekt wahrnehmbarer Art in ein Kunstwerk ein. Und nicht anders ist es mit der Musik vergangener Epochen. "Zur Selbstfindung eines Komponisten gehört unbedingt die Auseinandersetzung mit der Tradition." Und so ist es zwar auffällig, aber nicht verwunderlich, daß im Werkkatalog Denhoffs vielfach traditionelle Gattungen und traditionelle Besetzungen anzutreffen sind. "In keiner Gattung wurde bisher alles gesagt. Auch heute muß es für einen Komponisten fesselnd sein, ein Streichquartett zu schreiben. Selbstverständlich reicht es nicht, überlieferte Formen und Besetzungen einfach zu übernehmen. Man muß sie mit neuem Leben füllen." Ist Denhoff ein Traditionalist, oder wie würde er sich selbst einordnen? Ungern auf derartige Fragen antwortend, sich „in Schubladen stecken lassend“, bekennt er dennoch, daß er sich als Fortführer der Linie Brahms, Mahler, Berg, Henze sieht - Musik der Expressivität also.

 

© 1984 Clara Berg

 

 

 

*) In doppelte Anführungszeichen Gesetztes zitiert aus einem Gespräch, das diesem Porträt vorausging, aus Werkeinführungen des Komponisten, aus einer von ihm verfaßten Schrift "Was bedeutet mir Bartok", aus seinen "Gedanken über das Komponieren" (Verlagsprospekt Michael Denhoff, Breitkopf & Härtel) sowie aus dem Porträt "Komponieren ist etwas Ausschließliches..." von Friedrich Spangemacher (in: Jahrbuch des Kreises Borken 1983, S. 167 - 172).

 

 

 

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