Michael Denhoff Desastres de la Guerra - Orchesterbilder nach Goya für großes Orchester, op. 36 (1983)
Michael Denhoff nennt seine Komposition im Untertitel "Orchesterbilder nach Goya". Tatsächlich handelt es sich um Imaginationen des Bildzyklus, der vielleicht den intensivsten Nachruhm des Malers evozierte - Radierungen, die in phantastischer und übersteigerter Form die Schrecken des Napoleonkrieges in Spanien zum Ausdruck brachten und, gleichsam prä-surrealistisch, in der Verdichtung und scheinbaren Übertreibung so hart wie möglich an die Wahrheit herankamen. Die in Verbindung mit der französischen Besetzung Spaniens von der Bevölkerung erlebten und erlittenen Gräuel waren umso bitterer: als die Gebildeten des Landes durchaus Hoffnungen auf die Errungenschaften der französischen Revolution gehegt hatten, die mit Napoleons Armeen auch den reaktionär-klerikalen Traditionsmächten Spaniens zu Leibe zu rücken schienen. Nach 1968 wurde Goya mit seiner illusionslosen Bildsprache vor allem als Sympathisant des "Fortschritts" interpretiert.
Milos Formans Goya-Spielfilm von 2006 erbrachte dagegen eine ähnliche Rezeptions-Drehung wie ein Vierteljahrhundert vorher sein Amadeus im Falle Mozarts, indem der Maler jetzt – wahrscheinlich realistischer – durchaus mit seinen handgreiflichen politischen und menschlichen Beschränktheiten gezeigt wird, die allerdings kompensiert werden durch etwas, was man in Anlehnung an die Hegel'sche „List der Vernunft“ als „List der Professionalität“ bezeichnen könnte: Goyas Malerei ist, um es etwas einfältig zu sagen, klüger und mitfühlender als er selbst.
Der Henze- und Bialas-Schüler Denhoff erkennt in dem Goya-Sujet zu Recht eines der zentralen bildnerischen Antikriegs-Sujets und widmete das 1983 entstandene Werk „allen Opfern sinnloser Gewalt und Zerstörung“. Die sieben ineinander übergehenden Teile der Komposition folgen Bildtiteln des Goya-Zyklus. Die Eingangssequenz ist „Adagio lugubre“ überschrieben und beginnt mit dumpfen, geräuschartigen Klängen; in den tiefsten Lagen sind auch Posaunen, Kontrafagott und Bassklarinette kaum als bestimm bareTonhöhen wahrzunehmen. Erst allmählich bildet sich etwas heraus, was nach Schnebels Definition als „Figur“ bezeichnet werden könnte: zwar nicht motivartig fixierte, aber auch in ihrer Abgerissenheit erkennbare Tongestalten. Sie werden kontrastiert von schlierenartigen Streicherflächen und münden in ein Crescendo, das gleichsam als Doppelpunkt vor den folgenden Klangereignissen des Bildes II („No quieren“) abreißt. Diese Episode hat einen appellartigen Agitato-Charakter bei insgesamt erhöhter Satzdichte und signalhaften Motiven, die einen furiosen, dramatischen Duktus erzielen. Im wieder statischeren, aber untergründig bewegten dritten Abschnitt („No se puede mirar“) klingt der Ton „d“ wie ein ständiger Orgelpunkt durch und auch noch in das folgende Klangbild hinein („Qué hai que hacer mas?“), das sich als ein immer heftiger pulsierendes „allegro infernale“ nach einer abebbenden Streicher-Klangfläche aufbaut. Durch eine Generalpause abgesetzt vom Vorangegangenen ist die musikalische Pietà „Madre infeliz“, als gegenüber dem Anfang ungemein gesteigerte „marcia funebra“, wohl das emotionale Zentrum des Werkes. Es folgen noch die epilogartigen Visionen „Las camas de la muerte“ und, ins Verlöschen hineinführend „Nada. Ella dirà“. 1991, zur Zeit des ersten Golfkrieges, als das Werk eine besondere Aktualität bekam, verbreiterte der Autor dessen Antikriegs Ausstrahlung, indem er in Zusammenarbeit mit einer Choreographin ein Tanzstück daraus entwickelte. Weitere Kriege haben diese (bald auch aus den Theatersälen ins Freie und auf die Straße geführte) Praxis immer, wieder erneuert, sodass ein „work in progress“ der fortgesetzten Trauer und der permanenten “desastres“ entstand.
Hans-Klaus Jungheinrich
(entnommen dem Booklet-Text zur CD „Musik und Malerei")
|