FRAGEBOGEN 60
Josef Šnobl
Fragebögen – vor allem literarische – waren stets ein anregendes Gesellschaftsspiel, man denke etwa an die beiden wohl bekanntesten und beliebtesten von Marcel Proust und Max Frisch.
Der in Prag geborene und viele Jahre in Köln lebende Fotograf und Buchautor Josef Šnobl entwickelte anläßlich seines 60. Geburtstag einen Fragenbogen, den er befreundeten Künstlern und Bekannten zu deren 60. Geburtstag zur Beantwortung vorlegte. Geplant war, daraus auf Dauer eine Buchpublikation zu machen. Dazu kam es nicht mehr: Anfang 2021 starb Josef Šnobl im Alter von 66 Jahren.
Mir fielen meine Antworten auf seine 25 Fragen nun wieder in die Hände, als ich seine letzte posthum veröffentlichte Buchpublikation (mit Fotos und Texten von ihm) PRAGA OBSCURA erwarb.
So sei hiermit sein Fragebogen zumindest mit meinen Antworten zugänglich gemacht. Dabei hatte ich nach jeder Antwort ergänzend einen mir passend erscheinenden Dreizeiler (aus eigener Feder) hinzugefügt.
MD 2022
Fragebogen 60
1. Fühlen Sie sich wie ein/e 60-Jährige/r?
Nein, ganz und gar nicht, eher wie ein 35-jähriger Spunt, aber im Personalausweis steht das Geburtsdatum, und dem muß ich wohl glauben …
Buchstaben kreuzen sich zum Rätsel
2. Werden Sie in Ihrem Umfeld als 60-Jährige/r wahrgenommen? Wird Ihnen oft geschmeichelt („Du siehst zehn Jahre jünger aus“ usw.)?
Ja, das passiert immer mal wieder: ein Erstaunen, daß ich angeblich schon 60 sei! – und natürlich schmeichelt es auch ein wenig. Wenn solch ein Kompliment von einer jungen hübschen Dame kommt (wie kürzlich in meiner Lieblingsbuchhandlung geschehen), dann wiegt es umso mehr.
Ihre Worte tänzeln in die Erinnerung
3. Wie empfinden Sie es, 60 zu werden – bei sich und bei anderen?
Merkwürdigerweise empfinde ich gar nichts Besonderes; eher war die 40 eine zu nehmende Hürde. Aber ich habe auch Freunde, die sagen, die 6 da vorne ist schon ziemlich beschissen.
Silberne Hochzeit – nur ein paar Lachfalten mehr
4. Spielt die 60 überhaupt eine Rolle in Ihrem Leben? Ist sie eine Grenze oder vielleicht sogar ein Privileg?
Jeder Tag, den man geistig wach und bewußt lebt, erlebt, gestalten kann, ist ein Privileg! – schon seit vielen Jahren lebe ich so, daß ich mir sage, jeder Tag könnte auch Dein letzter sein, genieße ihn also. Und auch beim Komponieren denke ich mit jedem neuen Stück, das ich beginne, es sollte so werden, daß es als möglicherweise letztes Bestand haben könnte! – insofern empfand ich den 60. Geburtstag nur als einen Tag mehr, der mir geschenkt wurde über den gestrigen Tag hinaus.
Im alten Jahr einatmen und ausatmen im neuen Jahr
5. Sind Sie gesund oder werden Krankheiten immer öfter zum Thema Ihrer Gespräche?
Gottseidank kenne ich grundsätzliche und gravierende gesundheitliche Probleme bisher noch nicht. Gelegentlich meldet sich zwar der Rücken, aber damit hatte ich erstmals schon vor 30 Jahren zu tun, und es liegt – wie mir damals ein kompetenter Arzt sagte – an einer angeborenen Anomalie von Wirbelsäule zum Becken. Nun weiß ich damit umzugehen und es war auch nie wieder so dramatisch wie damals. Tja, und mit einen Teil dritter Zähne muß ich seit kurzem leben … aber das war’s dann auch schon, wenn man unberücksichtigt läßt, daß der natürliche Altersweitsicht begonnen hat mit dem dazugehörigen Brillenwechsel … nun hoffe ich auf folgende Umsichtigkeit ;) … Ich rede lieber über die Kunst als über Krankheiten und hoffe, ich kann das auch noch mit 80 so behaupten.
Kopfstand geübt, um Baselitz zu verstehen
6. Leiden Sie unter Einsamkeit?
Nein. Ganz im Gegenteil: manchmal wünschte ich mir, ich könnte mir mehr Stunden der Einsamkeit leisten. Ich freue mich jedesmal, wenn ich die Möglichkeit bekomme, mich für eine gewisse Zeit in eine innere Klausur zurückziehen zu können! – Kein Telefon, kein TV, kein Internet, kurzum: keine permanente Ablenkung. Zeit, auch zum Einswerden mit der Natur … mein deutsches Lieblingswort: Waldeinsamkeit.
Keine Worte für das Licht, das mich streifte
7. Haben Sie noch Sex?
Wieder öfter als noch vor ein paar Jahren. – Und wie wäre es, wenn statt dessen die Frage im Raum stünde: Lieben Sie noch? – Werden Sie noch geliebt?
Dieser Kuß ! – für einen Augenblick unsterblich
8. Fühlen Sie sich vom Leben benachteiligt oder bevorzugt?
Darüber habe ich bisher nie nachgedacht. Es hätte vielleicht das ein oder andere „runder“ oder „erfolgreicher“ laufen können. Dennoch: wenn ich es genauer und richtig bedenke, so war mein Leben bisher eher eine Folge von glücklichen Zufällen; dazu rechne ich auch all die Enttäuschungen, Irrungen und Wirrungen, die aber dazu beitrugen, mich zu dem zu machen, der ich heute bin.
Am Ende des Fadens ein Knäuel
9. Trauern Sie bestimmten Dingen nach? Bereuen Sie etwas?
Ich trauere keinen Dingen nach, nur den Menschen, die mir etwas bedeuteten, die mir wichtige Wegbegleiter waren, die nun nicht mehr „ansprechbar“ sind, denen trauere ich nach. – Wahrscheinlich sollte ich etwas bereuen, mir fällt nur im Moment nichts Konkretes ein, was mir hier erwähnenswert wäre.
Noch einmal dieses Lächeln – Abschied.
10. Würden Sie noch mal denselben Beruf wählen?
In jedem Fall !!! (wenn ich dazu die Möglichkeit hätte; aber wir wissen ja, auf Erden gibt es nur ein Leben.) – weil mein Beruf eine Berufung ist! (Ist Künstler ein Beruf? – oder eher eine Lebenseinstellung? – oder, oder … ??? )
Verstummt das Laute. In die Stille hinein wächst das Ungehörte
11. Gibt es viele Sachen, die Sie anders machen würden?
Ein paar schon, wenn ich die Fähigkeiten dazu besäße. Aber man kann nicht rückwärts sein Leben ändern, nur aus Fehlern und Fehleinschätzungen lernen und diese in Zukunft zu vermeiden suchen.
Zutritt verboten. – Die Tür öffnet sich von der anderen Seite. –
12. War Ihr Leben mehr von Gefühl oder eher von Sachlichkeit (Pragmatik) geprägt?
Ich bin ein stark emotionaler Mensch (auch wenn es möglicherweise nicht jedem so erscheint); dennoch vermag ich, auch pragmatisch zu denken und zu handeln (wo nötig!)
Mein Herz schlägt – heute in h-moll
13. Wie viele Brüche, die Ihr Leben verändert haben, gibt es in Ihrer Biografie?
Ich habe diese Einschnitte in der Biographie bisher nicht gezählt. Und jeder Bruch war in seiner Qualität und den dazugehörigen Konsequenzen anders. Aber es gab sie natürlich, die Ereignisse, die mein Leben (und vor allem Denken) verändert haben, es wäre schade, hätte es sie nicht gegeben, denn nur so kann eine Persönlichkeit wachsen und reifen.
Nach dem Traum aufgewacht in einer anderen Jahreszeit
14. Sind Sie im Lauf der Zeit radikaler oder milder geworden?
Sowohl als auch. Ich genieße den Zuwachs an Gelassenheit (auch mir selbst gegenüber), und in der künstlerischen Arbeit sowie dem Denken gehe ich radikaler vor. (Reduktion auf das Wesentliche)
ein Schweigen wächst über sich hinaus
15. Was begreifen Sie jetzt im Alter, was Sie früher nicht wussten, und welche Konsequenzen hat das für Sie?
Ich denke, ich habe mit den Jahren gelernt, klarer und schärfer zu denken. Vielleicht hat sich auch die Wahrnehmung geschärft. Und so verzettelt man sich weniger als früher. Und man wird realistischer in der Erwartungshaltung.
Der Baum im Fenster weiß mehr über mich als ich über ihn
16. Können Sie noch staunen?
Es gibt täglich etwas zum Staunen! Ich kann staunen über die Schönheit einer Blüte am Wegrand, über ungewöhnliche Wolkenformation, über den abendlichen Gesang der Amsel im Kirschbaum, über architektonische Visionen, die Unendlichkeit des Universums, das Unerklärliche der Liebe, über unerwartet sich einstellende Erinnerungen, über einen Geistesblitz, über die vermeintlichen Zufälle des Lebens, und … und … und ...
beim Näherkommen: wie sich ihr Gesicht verjüngt
17. Empfinden Sie den Druck der Jüngeren als lästig und würden Sie das als Mobbing bezeichnen?
Da ich mich noch jung genug fühle, empfinde ich keinen Druck von Jüngeren, bin eher neugierig, was sie interessiert, die Jüngeren, wofür sie „brennen“, ob es nicht letztlich das Gleiche ist, wofür auch ich noch „brenne“, auch wenn es sich auf den ersten und oberflächlichen Blick hin zu unterschieden scheint.
Radtour. Immer ein Stück voraus mein Sohn.
18. Sind Sie der Meinung, dass Ihr Leben kontinuierlich verläuft?
Das Leben, auch meines, wandelt sich kontinuierlich.
Am andren Ufer wartet nur die andre Fähre
19. Was möchten Sie noch lernen?
Fliegen wie ein Vogel würde ich gerne können … oder Klavierspielen wie Glenn Gould … da das kaum zu erlernen ist, sollte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten bleiben, und da gibt es noch genügend zu lernen! Aufregend finde ich z.B., was die Hirnforschung in den letzten Jahren alles entdeckt hat, das möchte ich gedanklich noch weiter durchdringen.
beim Erwachen die Welt als Frage
20. An was können Sie sich noch aus frühester Kindheit erinnern?
Als etwa Drei-/Vierjähriger hatte ich schlimme Albträume … da brach z.B. die Sonne vor meinen Augen in zwei Hälften und sank verglühend hinter den Horizont … das anschließende Schwarz erschien mir wie das Ende der Welt; oder der abgeschlagene Kopf eines Onkels lag auf einem Tablett und sprach mit mir. In einem weiteren Albtraum stand ich in einer Reihe Menschen, die alle nach und nach in eine Betonmischmaschine gestoßen wurden und ich konnte nicht fortlaufen … Und an das Muster des braunen Teppichs im Arbeitszimmer meines Vaters erinnere ich mich noch, wie ich versuchte, es mir zu merken, während ich dort meinem jüngeren Bruder im Babybett die Milchflasche hielt, da war ich ebenfalls Drei.
Märchenwald hinter den sieben Bergen die schöne Kindheit
21. Welche Fehler verzeihen Sie sich und anderen inzwischen?
Alle Fehler, die unbedacht und ohne böse Absicht für eigentlich unnötige Verstimmungen sorgten.
Verstimmt. – Verstummt. – im Schlüsselumdrehen.
22. Sind Sie jung geblieben?
Herz & Seele sind jung geblieben, nur der Körper (die äußere Haut) altert.
Nur für Sekunden auf Augenhöhe ein Schmetterling
23. Wie alt möchten Sie gern werden und was erwarten Sie noch vom Leben?
Die Entscheidung überlasse ich gern den höheren Kräften. Solange ich im Kopf klar bleibe und die körperlichen Einschränkungen nicht allzu groß werden, können gerne noch viele weitere Lebensjahre dazukommen. Ich erwarte nichts; ich laß mich lieber überraschen von dem, was da noch alles kommen wird und kommen mag.
Gehen soweit die Füße tragen weg von mir
24. Wie viele Jahre haben Sie verloren?
Kein einziges.
Höre den Ton den du selbst angeschlagen hast
25. Waren Ihre 60 Lebensjahre sinnvoll?
Das hoffe ich doch sehr !!! … mir zumindest erscheint es so.
In der Ferne die kleine Melodie ruft innig
Michael Denhoff (April 2015)
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