zurück

Michael Denhoff

Der Einfluß von Goya auf meine musikalische Sprache [1]

 

 

Das Ereignis Goya

 

Nur selten geschieht, daß man nach einem Kunsterlebnis – welcher Art auch immer – sogleich weiß, dieses hat entscheidende Bedeutung für einen selbst. Mir erging dies so am 20. Februar 1981; und weil sich das Gefühl sofort einstellte, habe ich mir das Datum bis heute gemerkt. Damals besuchte ich im Städelschen Kunstmuseum Frankfurt eine Ausstellung, bei der alle graphischen Zyklen von Goya zusammengefaßt waren. Zwar kannte ich schon zuvor eine ganze Reihe der Radierungen von Goya durch Abbildungen in Büchern sowie mehrere, nicht nur die ganz bekannten Gemälde, aber erstmals sah ich diese Zyklen nun in Gänze und in ihrer Originalgröße, weitergehend von Blatt zu Blatt.

Tief beeindruckt und bewegt verließ ich diese Ausstellung; besonders der Zyklus seiner „Desastres de la guerra“ hatte mich betroffen gemacht. Ich glaubte, verstanden zu haben, was Goya zu dieser Folge von 85 Blättern gedrängt hatte. Der erschütternden Aussagekraft dieser Radierungen konnte ich mich nicht entziehen. Mich schockierte die geradezu zeitlose Aktualität angesichts der Bilder, die seinerzeit vom Erster Golfkrieg (1980-88) und wenig später auch vom Falkland-Krieg (1982) in den Medien verbreitet wurden: Technik und Methoden der Kriegsführung und auch ihre menschlichen Auswirkungen haben sich zwar verändert aber nicht grundsätzlich das, was Krieg für die Betroffenen bedeutet. Dieses hat Goya ungeschönt und eindringlich wie wohl niemand zuvor in Kupfer geäzt. In geradezu phantastischer und übersteigerter Form wird Goya Chronist des napoleonischen Krieges in Spanien, der mit scheinbar surrealistischer Übertreibung so exakt wie möglich die Wahrheit darstellt.

Ich spürte etwas, das ich so noch nicht kannte: diese Bilder hatten mich als einen Anderen entlassen als den, der ich vor dem Ausstellungsbesuch war.

Dieses einschneidende Erlebnis war nur ein erster Anstoß, sich mit Goya, seinem Werk und dem geistigen wie geschichtlichen Umfeld, das diese Arbeiten hervorgebracht hat, eingehender zu beschäftigen.

 

 

Voraussetzungen – der innere Klang

 

Meine besondere Affinität zur bildenden Kunst hat sicherlich dazu beigetragen, daß meine Sinne für solch ein Erlebnis geöffnet waren. Schon in sehr frühen Jahren war die Malerei selbst das Medium gewesen, mit dem ich mich – wie ich damals noch glaubte – am idealsten selber künstlerisch artikulieren konnte. Sie bot mir im Gegensatz zum Komponieren, das ich nebenbei auch betrieb, den Vorteil der direkten Selbstkontrolle über das Entstehende, denn ich sah gleich, was ich malte. Die Musik hingegen war im Kopf, mußte dann aber nach dem Umweg der Verschriftlichung erst in real Klingendes durch Musiker umgesetzt werden. Die Aufführung eines meiner erstes Orchesterstücke – ich war damals gerade 16 Jahre alt – brachte dann die für mich nicht unwesentliche Erkenntnis, daß Töne und Klänge wohl doch noch tiefer wirken und noch wesentlicher berühren, als Farben und Bilder es je können, jedenfalls bei mir.

Auch wenn das eigene Malen nicht gleich eingestellt wurde, so verlagerte sich fortan das, was ich als Eindruck mit meinen Mitteln zum Ausdruck bringen wollte, eindeutiger auf die Musik. Gleichzeitig bemerkte ich eine gewisse synästhetische Veranlagung. Heute erinnere ich vor allem noch zwei Bilder, die mich in ihrer Farbgewalt geradezu überwältigten und ein inneres Klingen auslösten, als ich sie erstmals im Original sah: das große „Tirolbild“ von Franz Marc und „Impression Klamm“ von Wassily Kandinsky.

Ohnehin hatte ich schon Kandinskys Buch „Das Geistige in der Kunst“ fast wie eine Bibel gelesen, fand ich dort doch alles, was ich in meiner jungendlichen Schwärmerei nur unbenennbar fühlte, wohl geordnet und in beeindruckender Klarheit formuliert und bestätigt, eben auch die Zusammenhänge von Malerei und Musik.

Im Kapitel über „Die Wirkung der Farbe“ [2] schreibt Kandinsky: »Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt.« 

Dieses poetische Bild zeugt nicht nur von der inneren Haltung zum Hand-Werk, sondern läßt darüber hinaus etwas vom Spannungsverhältnis und der gegenseitigen Durchdringung von Malerei und Musik erahnen, ein Phänomen, das weit über das hinausführt, was die geläufigen Wortkreuzungen wie Farbton und Tonfarbe oder auch Farbenharmonie und Klangzeichnung zu umreißen suchen. Der »innere Klang kann … in demselben Augenblick durch verschiedene Künste gebracht werden« [3], schreibt Kandinsky an anderer Stelle, »wobei jede Kunst außer diesem allgemeinen Klang noch das ihr geeignete wesentliche Plus zeigen wird und dadurch einen Reichtum und eine Gewalt dem allgemeinen inneren Klang hinzufügen wird, die durch eine Kunst nicht zu erreichen sind.« 

Der äußerliche Unterschied der Künste wird aufgelöst, nicht die strukturelle Gleichartigkeit, sondern vielmehr die wesensmäßige Identität der Künste wird hier angesprochen und somit auf das Ursprüngliche der Wahrnehmung zurückgeführt. Farbe und Fläche sind wie Klang und Zeit nur Über-Setzung und Gestalt-Werdung dessen, was Kandinsky mit dem „inneren Klang” benennt. 

Das Auge ist nicht nur Fenster zur Welt und das Ohr nicht allein Tor zur Seele, sondern auch umgekehrt vermögen beide Sinnesorgane übergreifend Wahrnehmung in Empfindung zu transportieren und in Farb- oder Klang-Gestalt abzubilden. 

Dies ist »bei der Farbe das Farblose und beim Ton das Tonlose« [4], wie Aristoteles sagt.

 

Schon in den frühen Jahren entstanden nun einige Kompositionen, die auf Bilder reagierten, die mich in ihren Bann gezogen hatten und an denen ich mich auch selber malend orientierte. Es waren vor allem die Bilder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mich zu diesen ersten Versuchen einer Übersetzung des Gesehenen in Gehörtes verleiteten: Chagall, Jawlensky, Klee, Feininger, Kandinsky. Etwas später entstanden zwei Kompositionen zu Dürer.

 

 

Kompositorische Krise

 

Ende 1980 / Anfang 1981 geriet ich in meine erste größere kompositorische Krise. Ich bemerkte, daß ich zwar durchaus mein Handwerk beherrschte, ich hatte genügend Aufträge und auch Erfolg, aber es schien sich nichts wirklich Neues zu entwickeln, ich begann, mich zu wiederholen. Eine zudem sehr starke Orientierung an der Klangwelt Messiaens – die mich schon allein deswegen angezogen hatte, weil auch der harmonischen Sprache Messiaens synästhetische Phänomene eingeschrieben sind – führte zu einer Stagnation und schließlich Schreibblockade. Zuflucht fand ich im erneuten und diesmal eingehenderen Studium der Musik Beethovens, vor allem seiner späten Klaviersonaten und Streichquartette. Gleichzeitig begann, ausgelöst durch den Frankfurter Ausstellungsbesuch, die intensivere Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt von Goya.

Das sowohl Beethovens Werk als auch Goyas Radierungen innewohnende Zukunftspotential ist kaum zu übersehen. Beide waren nicht nur Zeitgenossen [5] sondern auch Visionäre in ihrer Zeit und nicht grundlos boten beide für nachfolgende Generation – genau genommen sogar bis heute – immer wieder Reibungsfläche und wurden auch disziplinübergreifend Inspirationsquelle für viele Künstler aller Sparten.

 

 

Impressionen

 

Meine Schreibblockade begann sich erst im Sommer 1981 langsam zu lösen, als ich für zwei Wochen in Guildford [6] (GB) mit John Cage und Merce Cunningham arbeitete. Als einer der acht eingeladenen jungen Komponisten aus ganz Europa mußte ich jeden Tag eine Musik schreiben, die gleich abends mit einer von Cage zufällig ermittelten, ebenfalls am gleichen Tag entstandenen und Tänzern erarbeiteten Choreographie eines der acht jungen Choreographen aufgeführt wurde.

Nicht ohne Reibungen und teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit der mir damals völlig fremden und widerstrebenden Ästhetik der Cage’schen Zufallsoperationen, entstanden dort kleine Stücke, die – auch bedingt durch den Zeitdruck ihres Entstehens – zwar keine Meisterwerke werden konnten, aber eben deswegen auch nicht die Verführung erlagen, in altvertraute Muster vermeintlich beherrschten Handwerks zurückzufallen. Welch wichtige Erfahrung dies in der Krise bedeutete, bemerkte ich erst später.

 

Die kritische Selbstreflexion und der Wunsch nach Abkehr von synästhetischen Obsessionen begünstigten dann zu Beginn des Jahres 1982 einen Neustart meiner kompositorischen Arbeit.

Das wohl berühmteste Blatt aus Goyas „Los Caprichos“, die Nr. 43 „El sueño de la razon produce monstruos“ (Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer) [7], welches ursprünglich als Titelblatt des graphischen Zyklus gedacht war, schien mir fast sinnbildlich darzustellen, was mich selbst ereilt hatte. Diese düstere Vision behandelt zeitlos aktuell die Künstler-Problematik. Bemerkenswert fand ich, daß Goya bei einer der Vorstudien zu dieser Radierung auch ein Selbstportrait in den dort noch sehr wirren Hintergrund fast vexatorisch einarbeitete. Es legt einen sehr persönlichen Bezug nahe: Goya selbst ist dieser dargestellte Künstler.

 

Abb. 1 Goya: El sueño de la razon produce monstruos (Vorstudie)

 

Die politische Situation Spaniens zu Goyas Zeit war der Nährboden für diese Radierung. Nachtgetier umflattert den auf dem Arbeitstisch eingeschlafenen Künstler. Eine Eule, im Spanien des 18. Jahrhunderts Symbol der Finsternis, Rückständigkeit und Ignoranz, reicht ihm mit der Kralle einen Pinsel hin und glotzt mit bösartig aufgerissenen Augen hypnotisierend auf den Kopf des Schlafenden, als wolle sie damit die Niederschrift seiner Träume erzwingen.

Zu diesem Blatt entstand nun meine erste Komposition zu Goya.[8] Schon der Untertitel „Goya-Impressionen“ deutet an, daß es hier nicht um eine musikalisch analoge Bildbeschreibung geht, sondern vielmehr um die Vielgestaltigkeit der Eindrücke, die das Dargestellte im Innern auslöste.

Wie schon zuvor in „Melancolia“ – Annäherungen an einen Kupferstich von Dürer, einem Stück für kleines Orchester, das ich 1980 geschrieben hatte, konnte es nun keine synästhetischen Farb- und Klang-Zusammenhänge mehr geben, denn sowohl Dürers Kupferstich als auch Goyas Radierungen sind ja farblos. Inhalt und Botschaft der bildnerischen Vorlage standen nun im Fokus der Auseinandersetzung, somit auch die gesellschaftliche Relevanz. Ich begann, Kunst auch als Störfaktor in der Gesellschaft, als eine politische Stellungnahme zu begreifen. Dies führte fast zwangsläufig zu einer Radikalisierung der musikalischen Sprache.

 

Ein ganz wesentlicher Unterschied zu allen Stücken, die vor den Goya-Impressionen entstanden, ist zudem, daß ich hier erstmals zu schreiben begann, ohne zu wissen, wie das Ende aussehen wird. Früher konnte ich gar nicht mit der Ausarbeitung einer kompositorischen Idee beginnen, ohne nicht schon das Ganze formal zu überblicken. Hier nun ging ich erstmals das Wagnis ein, sozusagen vegetativ von Note zu Note, von Klang zu Klang, nur den Eigenenergien der jeweiligen Setzungen folgend die Musik wachsen zu lassen … und mich dabei auch überraschen zu lassen. Dies ist seitdem bis heute so geblieben.

Noch ein weiterer Aspekt der kompositorischen Textur taucht in diesem Stück erstmals auf: eine Sechston-Harmonik, die ich in diesem Fall als eine bitonale Ganztönigkeit bezeichnen möchte, eine harmonische Satztechnik, der eine eigene Logik zugrunde liegt, sowohl in der horizontalen wie vertikalen Gestalt.

 

Nb. 1: Sechs-Ton-Akkorde im Klavier, oben und unten je drei Töne aus den beiden komplementären Ganzton-Skalen, dabei wechseln von Akkord zu Akkord diese beiden Ganzton-Skalen.

 

Nb. 2: Hier als Linie aufgeblättert in die Horizontale.

 

Diverse Varianten einer Sechston-Harmonik habe ich daraufhin im Laufe der weiteren Jahren entwickelt, und sie spielt bis heute eine nicht unwesentliche Rolle, sodaß ich geneigt bin, diese erste Goya-Komposition als das zentrale Schlüsselwerk zu betrachten, welches den weiteren Verlauf meiner kompositorischen Entwicklung wesentlich mitbestimmt hat. Auch wenn „El sueño de la razon produce monstruos“ nunmehr schon 30 Jahre alt ist, ist mir dieses Stück auch deshalb noch immer sehr nahe [9], scheint in ihm schon alles eingefangen und gegenwärtig, was fortan mein musikalisches Vokabular trotz aller Weiterentwicklung im Laufe der Jahre ausmacht.

 

 

Orchesterbilder

 

Anfang 1982 bestellte die Stadt Lüdenscheid ein größeres Orchesterstück [10] bei mir.  Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, die innere Beschäftigung mit den „Desastres“ sei soweit gereift, daß nun eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem graphischen Zyklus möglich schien. Nach längeren Überlegungen wählte ich sieben Blätter für mein Stück als Vorlage aus und versah die Sätze mit dazu passenden musikalischen Tempoangaben:

I. Tristes presentimientos de lo que ha de acontecer  (adagio lugubre)

II. No quieren  (presto agitato)

III. No se puede mirar  (allegro disperato)

IV. ¿Qué hai que hacer mas?  (allegro infernale)

V. ¡Madre infiliz!  (marcia funebre)

VI. Las camas de la muerte  (adagio misterioso)

VII. Nada. Ello dirá.  (lento irreale)

 

Quasi als Prolog eröffnet das erste Orchesterbild – bei Goya auch das erste Blatt – den Zyklus der sieben Orchesterbilder; eine düstere Vision des Grauens, die auch musikalisch das Kommende schon vorausahnt.

 

Blatt 1: Traurige Vorahnungen dessen, was geschehen wird

(Abb. 2)

 

Die drei nächsten Orchesterbilder bilden ineinander übergehend den zweiten Teil. Hier wird der Mensch als Mensch, nicht als Krieger dargestellt, der Mensch in seiner Abgründigkeit und Verruchtheit, seinem Fanatismus und seiner Brutalität. Vergewaltigung als Grausamkeit der Wollust, verzweifelte Schreie von Zivilisten, die vor die Läufe eines Erschießungs-Kommandos getrieben sind und der Ausdruck blinder Aggression, dargestellt an sadistischen Foltermethoden.

 

Blatt 9: Sie wollen nicht

Blatt 26: Man kann es nicht ansehen

Blatt 33: Was kann man mehr tun?

 

Nach diesem wilden und bizarren Totentanz des Krieges hebt nun mit dem dritten Teil ein Trauermarsch an: eine ermordete Frau wird davongetragen, weinend folgt diesem Totenzug ein kleines Kind. 

Finstere Grabesstimmung kennzeichnet das vorletzte Orchesterbild: bei zusammengescharrten Leichen wacht eine einsame verhüllte Gestalt.

 

Blatt 50: Unglückliche Mutter

Blatt 62: Die Betten des Todes

 

Goyas Folge endete vermutlich mit dem Blatt 69, bevor er sich entschloß, die Bilder über das Hungerjahr 1811/12 anzufügen. Als Epilog ist dieses Blatt auch Vorlage für das abschließende Orchesterbild: eine halb begrabene Leiche kritzelt den Überlebenden die erschütternde Botschaft aus dem Grab: „Nada. Ello dice.“ (Nichts. Das heißt es.). Erst bei der Drucklegung des Zyklus wurde dieser Titel in „Nada. Ello dirá.“ (Nichts. Das wird sich zeigen.) gemildert.

 

Blatt 62: Nichts. Das wird sich zeigen

(Abb. 3)

 

Ich verzichte bewußt auf eine eigene Beschreibung der musikalischen Gestalten oder kompositorischen Textur der sieben Orchesterbilder und zitiere statt dessen aus dem Booklet-Text der CD-Veröffentlichung, [11] Dort schreibt Hans-Klaus Jungheinrich:

 

Die Eingangssequenz ist „Adagio lugubre“ überschrieben und beginnt mit dumpfen, geräuschartigen Klängen; in den tiefsten Lagen sind auch Posaunen, Kontrafagott und Baßklarinette kaum als bestimmbare Tonhöhen wahrzunehmen. Erst allmählich bildet sich etwas heraus, was nach Schnebels Definition als „Figur“ bezeichnet werden könnte: zwar nicht motivartig fixierte, aber auch in ihrer Abgerissenheit erkennbare Tongestalten. Sie werden kontrastiert von schlierenartigen Streicherflächen und münden in ein Crescendo, das gleichsam als Doppelpunkt vor den folgenden Klangereignissen des Bildes II („No quieren“) abreißt. Diese Episode hat einen appellartigen Agitato-Charakter bei insgesamt erhöhter Satzdichte und signalhaften Motiven, die einen furiosen, dramatischen Duktus erzielen. Im wieder statischeren, aber untergründig bewegten dritten Abschnitt („No se puede mirar“) klingt der Ton „d“ wie ein ständiger Orgelpunkt durch und auch noch in das folgende Klangbild hinein („Qué hai que hacer mas?“), das sich als ein immer heftiger pulsierendes „allegro infernale“ nach einer abebbenden Streicher-Klangfläche aufbaut. Durch eine Generalpause abgesetzt vom Vorangegangenen ist die musikalische Pietà „Madre infeliz“, als gegenüber dem Anfang ungemein gesteigerte „marcia funebra“, wohl das emotionale Zentrum des Werkes.

 

Meine Orchesterbilder wurden 1991 Objekt einer tänzerischen Umsetzung durch Koinzi-Dance, eine Produktion von Nele Lipp an der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg. Die Uraufführung fand am 4. April 1991 statt. In ihrer Einführung [12] beschreiben die Mitwirkenden dieser Produktion ihre Beweggründe:

 

Die „Transformance“ entstand zur Zeit des Blitzkriegs am Golf (1991) und zeigt die Allgegenwärtigkeit der Bilder von Goya. Die Einfachheit der verwendeten Mittel: 

1 Frau, 1 Tuch, 1 Dia-Projektor (er funktioniert hier auch als Scheinwerfer) lassen das Stück schnell an jedem Ort Realität werden. Eine Eigenschaft, die es mit dem dargestellten Thema gemeinsam hat.

Das zunächst nur auf ein von der Tänzerin vor den Körper gehaltenes Tuch projizierte Bild dringt langsam durch den Stoff. So formt sich mit den nächsten Schritten die Projektionsfläche zum Kleidungsstück, das Bild umhüllt die Frau.

Mit dem Verschwinden des Bildes ist das Motiv endgültig lebendig geworden. Die Leidtragende schaudert und umfaßt den eigenen Körper. sie umfaßt ihn so fest, daß sich die eigenen Knochen im Tuch abbilden.

Die Performance wurde zu den kriegerischen Auseinandersetzungen im Kosovo unter dem Titel IMMER MEHR TÜCHER wiederaufgenommen und nimmt jetzt Bezug auf Afghanistan.

Der Auslöser dieses Krieges war ein Terroranschlag. Selbstmordattentate häufen sich, es gibt kein abgezirkeltes Schlachtfeld mehr. Deshalb verlassen wir den Theaterraum und konfrontieren auch den zufälligen Betrachter an öffentlichen Plätzen.

Das anfangs solistisch konzipierte Stück wird mit IMMER MEHR DARSTELLERN, deren Anzahl von Aufführung zu Aufführung wächst und nach oben hin offen ist, im öffentlichen Raum [13] aufgeführt.

 

Mit dieser bei jeder Aufführung wachsenden tänzerischen Umsetzung wurden die „Desastres“ als Antikriegs-Sujet von zeitloser Aktualität verstanden. Entsprechend hatte auch ich meiner Partitur die Widmung „allen Opfern sinnloser Gewalt und Zerstörung“ vorangestellt..

 

 

Skizzen

 

Eine erneute Hinwendung zu Goya ergab sich schließlich ein letztes Mal 1988. Als Auftragswerk für die Wittener Tage für Neue Kammermusik entstanden „Skizzen nach Goya“. [14] Die Uraufführung fand am 22. April 1989 durch das „trio basso“ statt. Sieben Blätter aus „Los disparates“ (Die Torheiten), dieser späten nachgelassenen Folge von Aquatinta-Radierungen Goyas aus den Jahren 1815 - 24 wurden Vorlage. Die sieben kurzen Sätze meines Trios nehmen in verdichteter Kleinform Bezug zu folgenden Blättern: 

Disparate de miedo (Torheit der Furcht) 

Disparate ridiculo (lächerliche Torheit)

Disparate desordenado (unordentliche Torheit) 

Disparate alegre (heitere Torheit) 

Disparate claro (klare Torheit), 

Disparate desenfrenado (entfesselte Torheit), 

Disparate fúnebre (gespenstische Torheit).

 

Goyas in Kupfer geätzte Kommentar zu den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignissen, der in den „Disparates“ – wie schon zuvor in den „Caprichos“ und den „Desastres de la guerra“ – in einer düster grotesken Bilder-, Zeichen- und Symbolsprache die Torheit, Dummheit, Lächerlichkeit, den Unsinn und die Ungereimtheiten seiner Zeit und seiner Zeitgenossen aufgreift und angreift, hat bis heute nichts an schneidender Kraft verloren.

Ich wählte für meine musikalische Reaktion auf diese grotesken Blätter die herabgedunkelten Farben eines Trios mit Viola, Violoncello und Kontrabaß (statt üblich: Vl., Va., Vc.)

Beim 4. Stück (heitere Torheit) wird zum lärmend ausgelassenen Begleitsatz eine „Sardana“, ein spanischer Rundtanz, vom Violoncello im Falsett entstellt zitiert.

 

Nb 3: Sardana (Original-Melodie)

 

Nb 4: Sardana (entstellt: Violoncello spielt ausschließlich natürliche Flageoletts, die Melodietöne springen in verschiedene Oktavlagen, der originale Rhythmus ist beibehalten)

 

 

Die Folgen

 

Durch die umfängliche Beschäftigung mit Goyas Radierungen gelang mir tatsächlich, das vormals starke synästhetische Farben-Hören zu mildern und in bedingtem Umfang abzustreifen. Damit eröffneten sich in den nachfolgenden Jahren ganz neue Möglichkeiten einer Bezugnahme zu Werken der Bildenden Kunst [15] und der Zusammenarbeit mit Künstlern dieser Disziplin [16], bis hin zu der Form eines disziplinübergreifenden Gesprächs in Kunst. Erwähnen möchte ich hier nur den über zehn Jahre (1996 – 2006) währenden Dialog mit dem Bildhauer Wolfgang Ueberhorst bei unserem gemeinsamen Projekt „Skulpturen“, welches als Ergebnis sechs bildhauerische und fünf musikalische Skulpturen entstehen ließ. [17] Dieser Gedankenaustausch war als ein Gespräch angelegt; das impliziert bereits, daß wir beide unsere jeweilige Disziplin als Sprache auffassen wollten, es also um ein Antworten und Reagieren in der jeweils eigenen Disziplin ging und nicht um Analogien in Gestalt und Form.

Die drei Goya-Kompositionen [18] öffneten mir die Tür zu dieser neuen Art des Reagierens und Antwortens, die sich von einer mehr beschreibenden oder illustrierenden Adaption abwendet und statt dessen das Einende wie Trennende aller Künste zu ergründen sucht.

 

 

 

© 2012 Michael Denhoff

 

zurück

 

 


[1] Dieser Vortrag wurde am 9. September 2011 im Rahmen des Symposions "Goya im Dialog der Medien, Kulturen und Disziplinen" im ZiF - Uni Bielefeld in freier Rede unter Verwendung einer PowerPoint-Präsentation mit Klangbeispielen gehalten. Er ist für eine geplante Buchpublikation in komprimierte Textform gebracht worden.

 

[2] W. Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst,  Bern 1952, S. 64.

 

[3] Ebd., S. 104.

 

[4] Aristoteles: Über die Seele, Buch II, Kapitel 7 (über die menschlichen Sinne).

 

[5] Beethoven wie Goya sahen sich auch in ihren Hoffnungen auf die Errungenschaften der französischen Revolution getäuscht.

 

[6] International Dance Course for Professional Choreographers and Composers, Guildford 1981.

 

[7] Laut Datenbank "Musik nach Bildern" des Instituts für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck (http://musiknachbildern.at) gibt es mittlerweile 18 Werke, die sich auf diese Goya-Radierung beziehen.

 

[8] EL SUEÑO DE LA RAZON PRODUCE MONSTRUOS op. 32  (1982) / ca. 15’, Goya – Impressionen für Violoncello und Klavier, UA Köln 1982: Klaus Heitz, Violoncello & Deborah Richards, Klavier. Gedruckt erschienen bei der Edition Gravis Berlin, EG 1482.

 

[9] Für das Abendkonzert im Rahmen des Symposions in Bielefeld studierte ich das Werk, nachdem ich es über zehn Jahre nicht mehr gespielt hatte, mit dem jungen Pianisten Martin Tchiba wieder ein und dabei schien mir die Musik frisch wie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung.

 

[10] DESASTRES DE LA GUERRA op. 36  (1983)  / ca. 23’, Orchesterbilder nach Goya für großes Orchester, Kompositionsauftrag der Stadt Lüdenscheid, UA Lüdenscheid 1983, Sinfonieorchester Wuppertal, Ltg. Hanns-Martin Schneidt. Gedruckt erschienen bei Breitkopf & Härtel, Leihmaterial.

 

[11] CD-Dokumentation „Musik in Deutschland 1950-2000“ – Musik und Malerei, Werke von Denhoff, Matthus, Kalitzke, Rihm. BMG Classics © 2007.

 

[12] Siehe: www.koinzi.de/tuch.html

 

[13] mit 6 Darstellern am 14. 2. 2002 in der Hamburger City, Mexikoring; mit 10 Darstellern am 5. 5. 2002 in Hamburg, Nicolai-Kirchenruine.

 

[14] LOS DISPARATES – Skizzen nach Goya op. 54, UA Witten 1989, trio basso. Gedruckt erschienen bei der Edition Gravis Berlin, EG 182.

 

[15] Eine Liste aller meiner Werke, die in einem Zusammenhang mit Werken der bildenden Kunst stehen, sind zu finden unter: www.denhoff.de/musikzubildern.htm.

 

[16] Siehe dazu auch www.denhoff.de/dialoge.htm.

 

[17] Michael Denhoff: Skulptur wird Klang wird Skulptur wird Klang … - Erfahrungen eines nonverbalen Kunstgespräches. Vortrag beim 1. Symposion zu programmbezogenem Komponieren, Innsbruck 2010; in: Wie Bilder klingen - Tagungsband zum Symposium "Musik nach Bildern", S. 249-259, Lit-Verlag Wien, 2011.

 

[18] Alle drei Goya-Kompositionen liegen in CD-Einspielungen vor:

EL SUEÑO DE LA RAZON PRODUCE MONSTRUOS – Goya-Impressionen op. 32, Michael Denhoff, Violoncello & Birgitta Wollenweber, Klavier, Cybele-Records CD 660.301, © 1997.

DESASTRES DE LA GUERRA – Orchesterbilder nach Goya op. 36, Sinfonieorchester Wuppertal, Ltg.: Hanns Martin Schneidt, BMG Classics CD 74321 73612 2, © 2007.

LOS DISPARATES – Skizzen nach Goya op. 54, Ulrich Hartmann, Viola - Michael Denhoff, Violoncello - Christian Sutter, Kontrbaß, Cybele-Records CD 660.301, © 1997.