...übrig bleibt das Wesentliche: die geistige Substanz

zum Klavierzyklus Hebdomadaire op. 62 von Michael Denhoff

 

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von Robert Schön

 

„Sowohl für das Erproben neuer formaler wie struktureller Ideen, als auch für die Erfindung farblich-harmonisch neuer Klangvisionen ist für mich das Klavier das Instrument geworden, das mir die reichste Palette an Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Die kompromißlose Ausreizung der Extreme, die unendliche Vielfalt emotionalen Ausdrucks und das breite Spektrum musikalischer Rede lassen sich kaum besser und radikaler realisieren, als in der Beschränkung auf das von einem Musiker an diesem Instrument Darstellbare. Alles kulinarische Blendwerk eines größeren Instrumentalapparates entfällt, übrig bleibt das Wesentliche: die geistige Substanz.”, schreibt Michael Denhoff in seiner Einführung zu dem 52 Stücke umfassenden Klavierzyklus Hebdomadaire op. 62 aus dem Jahre 1990, und wirft man einen Blick auf sein bisheriges Oeuvre, so findet man den Eindruck bestätigt, daß ihm neben dem Streichquartett das Klavier zum wesentlichen Träger seiner musikalischen Ideen geworden ist.

Neben dem hier erstmals eingespielten „Wochenbuch” Hebdomadaire ist dabei wohl besonders der umfangreiche siebenteilige Klavierzyklus nach Paul Celan Atemwende op. 49 aus den Jahren 1984 - 86 zu erwähnen. Mit einem etwa halbstündigen Klavierstück (Sotto voce op. 50, 1 für registriertes Klavier) beginnt auch der abendfüllende Zyklus Monologe I - V (1987 - 89).  In jüngster Zeit entstanden das Cadenabbiaer Glockenbuch op. 78 (neun und vier Etüden für ein und zwei Klaviere), das enigmatische ...As when no words op. 77 mit Fern-Cello ad libitum; und schließlich hat 1996 mit Skulptur I op. 76, 1 die Arbeit an einem weiteren neuen Klavierzyklus begonnen.

Bemerkenswert ist die Vielgestaltigkeit der Klavierwerke Denhoffs, die sich - trotz einer wiedererkennbaren eigenen Sprache - in sehr unterschiedlichen Ausdruckswelten bewegen und die die spezifischen Möglichkeiten dieses Instrumentes eindrucksvoll ausloten. Wie eine vorläufige Summe scheint Hebdomadaire in zu Miniaturen verdichteter Form Denhoffs kompositorisches Denken in all seinen Facetten abzustecken und zusammenzufassen und ist gleichzeitig eine Reverenz vor der großen Klaviermusik-Tradition von Bach über Beethoven bis zu Liszt und Ligeti.

Hebdomadaire gliedert sich in vier Hefte zu je dreizehn Stücken, die zwar in der Chronologie ihrer wöchentlichen Entstehungsfolge angeordnet sind, die aber dennoch keine lose Reihung von musikalischen Ideen sind, sondern viermal einen in sich geschlossenen Bogen spannen. Durch Ableitungen, Variantenbildungen und Double-Konstellationen sowie harmonische und formale Korrespondenzen sind die vier Einzelhefte durch ein Netz unterirdischer Verbindungslinien übergreifend miteinander verknüpft. Und durch ein beziehungsreiches Geflecht von Widmungen und Hommages an persönliche Freunde, geistige Weggefährten und musikalische Ahnen wird der bekenntnishafte Charakter der manchmal lapidar kurzen Stücke unterstrichen und rückt sie in die geistige Nähe zu György Kurtágs Játékok (Spiele), ohne deren spielerisch pädagogischen Ansatz aufzugreifen. Es ist eine Musik, die sich erinnert, die sich ihrer geschichtlichen Vergangenheit bewußt ist, die diese aber nicht einfach kopiert, sondern weiterdenkt und in kreativer Auseinandersetzung und Reibung ihre Energien für Neues freisetzt. Mit dieser Haltung ist sie auch dem Klavierwerk Beethovens verpflichtet.

Die Hefte I und II sind in der dramaturgischen Folge ihrer jeweils dreizehn Stücke eng verwandt: beide beginnen mit einem Stück, dessen jeweiliger Zentralton ’D’ und ’As’ schon vexatorisch in der Schreibweise des Titels erscheint (Nr. 1 intraDa, Nr. 14 AS-sonanzen) und das mit seiner kraftvoller Gestik eröffnenden Charakter hat. Ihnen folgt jeweils eine Invention, die die Imitationstechnik Bachs mit der Farbigkeit der Klangsprache Debussys und der schwebenden Metrik von Ligetis Etüden zu verbinden scheint. Das jeweils dritte Stück beschränkt sich auf die immer wieder neue farbliche Ausleuchtung eines kleinen musikalischen Bausteins, in Nr. 3 Elegie ist es eine Akkordverbindung über den fallenden chromatischen Schritt ’Fis-F’ und in Nr. 16 Berceuse ist es die Pendelbewegung der None ’D-E’. An vierter Stelle stehen als Kontrast zur lichten Transparenz der vorherigen Stücke zwei spukhaft groteske Stücke, deren Harmonik ausschließlich das Intervall des Tritonus benutzt (Nr. 4 Nachtstück und Nr. 17 Cabaret), womit gleichzeitig auf die zentraltönige Intervallspannung der jeweils eröffnenden Stücke (’D-As’) verwiesen wird und zudem ein Brückenschlag zum dritten Heft stattfindet, wo ebenfalls in Nr. 31 Capriccio II nur Tritonusklänge erscheinen. Nr. 5 akkorDISchES und Nr. 18 Ohne Titel korrespondieren - der Titel der Nr. 5 deutet es schon an - durch die Idee einer Tonachse, die Akkordfolgen unterschiedlicher Binnenspannung zusammenbindet; in Nr. 5 verharrt sie konstant auf ’Dis’ (bzw. enharmonisch auf ’Es’) und in Nr. 18 wandert sie von ’Fis’ ausgehend langsam zu anderen Tönen.

Beide Hefte haben jeweils zwei Stücke, die alte Formmodelle -  nicht ohne ironische Brechung -  als Allusion aufrufen: Nr. 6 Fast eine Sonate und Nr. 7 Fast eine Passacaglia, Nr. 21 Fast eine Chaconne und Nr. 23 Fast eine Fuge. An jeweils neunter Stelle befinden sich nicht nur in den Heften I und II, sondern auch in Heft III die mit Canto I - III untertitelten Stücke Nr. 9 Erinnerungen, Nr. 22. Aulodie und Nr. 35 Mezza voce, die, jedes auf seine Art, eine ganz eigene neue Gesanglichkeit entwerfen. Die Hefte I und II werden jeweils mit einer Klangszene, einer sehr gestisch erruptiven Musik voll emotionaler Kraft beendet.

Aus diesen beiden Heften ragt, schon allein wegen ihres zeitlichen Umfangs,  die Nr. 19 Stele seltsam eratisch heraus. Am 10. Mai 1990 geschrieben ist sie eine ganz spontane und sehr persönliche Trauerarbeit, ein musikalisches Gedenken an den großen italienischen Komponisten Luigi Nono, der zwei Tage zuvor am 8. Mai gestorben war. Denhoff nutzt hier die „scala enigmatica” aus dem Ave Maria der Pezzi sacri von Verdi, die im Spätwerk Nonos so zentrale Bedeutung bekommen sollte. Wohl kaum ein anderes Stück des gesamten Zyklus’ dringt in solch entlegene und abgründige Tiefen des musikalischen Ausdrucks vor, wie gerade diese fast quälend langsame und in den dynamischen Kontrasten schroffe Musik, die den zyklischen Bogen des zweiten Heftes geradezu schockhaft zu unterbrechen scheint. Es ist wohl das einzige Stück, das bei der formalen Vorplanung von Hebdomadaire noch nicht vorgesehen war. Und doch ist  es zusammen mit der Nr. 33 Étude, einer hommage an György Ligeti, der Nr. 34 Stille, Rufe - in memoriam Bernd Alois Zimmermann oder auch der Nr. 36 FISsione mit der Widmung an György Kurtág so etwas wie die Vorwegnahme des zentralen Gedankens des abschließenden vierten Heftes: das Aufgreifen und Sich-Aneignen typischer kompositorischer Eigenarten der musikalischen Sprache großer „Kollegen” der Vergangenheit in Form von Klangbriefen, die trotz der  genannten Adressaten nie die eigene Sprache Denhoffs verlieren.

Im Heft III wird der Klavierklang durch die zusätzliche Verwendung einiger Schlaginstrumente (Tamtam, 3 Crotales, 3 Tempelblocks, Bongos, koreanische Peitsche), eines mechanischen Metronoms und der menschlichen Stimme erweitert, mit der Tendenz einer graduellen Zunahme der klavier-fremden Klänge. So sind die beiden Randstücke (Nr. 27 Prolog (Klangszene III) und Nr. 39 Epilog (Klangszene IV)) spiegelbildlich aufeinender bezogen: gibt es in den insistierenden Repetitionen eines punktierten Rhythmus bei Nr. 27 gegen Schluß, vor dem Beginn des klanglichen Zersetzungsprozesses, nur einen einzigen Tamtamschlag, so wird die Nr. 39 mit Ausnahme des auftaktigen Beginns zu einem reinen Schlagzeugstück. Genau im Zentrum dieses Heftes steht die schon erwähnte Étude, bei der der Pianist wie in der  ersten der Etüden Ligetis mit der rechten Hand nur weiße und mit der linken nur schwarze Tasten spielt. Nicht ohne Augenzwinkern setzt Denhoff hier zusätzlich ein Metronom ein (eine Anspielung an Ligetis Poéme symphonique für 100 Metronome), das - auf 8tel = 160 gestellt - wie ein eisernes Raster mal auf der Zeit, mal synkopisch gegen die sich metrisch verkürzenden Hauptzeiten der verschiedenen 16tel-Takte des Klaviers schlägt. Bemerkenswert und spannend ist an allen Stücken dieses Heftes, wie zwingend sich diese Klangerweiterungen in die jeweiligen Klavierfarben integrieren oder mit ihnen dialogisieren; sie sind nicht Fremdkörper, sondern in der Art ihrer Verwendung als wesentlicher Bestandteil in die Strukturen des Klangsatzes eingebunden. Wenn, wie in Nr. 35 Mezza voce, der Pianist  - hier in einer eigens für die Pianistin dieser Einspielung um eine Quart noch oben transponierten Version - in die leisen choralartigen Klangphrasen des Klaviers hinein einzelne Töne der Klänge kaum hörbar, wie für sich, mitsingt, entsteht der Eindruck einer besonders intimen und innigen Verschmelzung von Musiker und Instrument.

Mit dem Heft IV gelingt Denhoff eine eigene und sehr persönliche Form des „Anknüpfen und Fortsetzen”, wie er es in Bezug auf das kompositorische Handwerk in seinem Aufsatz Tradition und Fortschritt einmal formuliert hat: die zwölf Klangbriefe und das eröffnende ENIGMA greifen einen mit einer signifikannten Geste oder einem typischen musikalischen Baustein gekoppelten Klang eines Komponisten der Vergangenheit auf und entwickeln daraus ganz eigenständige Charakterstücke, die in ihrer Textur zwar die Bezüge nicht leugnen, dennoch aber unverkennbar Denhoffs eigenes Klang- und Struktur-Denken widerspiegelt. Entfernt vergleichbar der alten Variationsform über ein nicht eigenes Thema wird hier die Form der Beschäftigung mit Vergangenem neu definiert.

Im ENIGMA, einer hommage an Morton Feldmann, werden der Schlußklang aus dessen Intermission 5 und die weiteren zwölf Bezugsklänge, wie durch ein sich langsam drehendes Prisma betrachtet, zu immer neuen Konstellationen sich verkürzender linearer Folgen gereiht, dabei unterliegen Dynamik und Dauern quasi seriellen Prinzipien.

Der Klangbrief über ein Tremolo erinnert an den unheimlichen Beginn der Schubert’schen C-Dur Fantasie für Violine und Klavier. Das erste Stück aus Schumanns Gesänge der Frühe schimmert im Klangbrief über eine Sequenz auf, und eine harmonisch seltsam schwebende Begleitfigur aus dem späten Klavierstück Nuages gris wird im Klangbrief an Liszt weitergedacht. Saties Vexations werden im Klangbrief über eine Wiederholung in einer harmonischen Überblendtechnik nach und nach auf den rhythmischen Duktus reduziert, je mehr das Original in Gänze erscheint; die Widmung an John Cage ist hier beziehungsreich gewählt, war es doch Cage, der erstmals eine Aufführung der 840mal zu wiederholenden Vexations zustande brachte.

Der Klangbrief über einen Namen horcht in akkordischen Verbindungen in die Töne B-A-C-H hinein und reiht sich damit als kleine Miniatur in die vielen Stücke über B-A-C-H der Vergangenheit ein. 

Das Trompeten-Signal am Beginn der 5. Sinfonie wird im Klangbrief an Mahler zum Ausgangspunkt eines emotional sehr aufgeheizten und komplexen Klavierklangsatzes. Im Klangbrief über einen Akkord wird Skrjabins „Prometheus-Akkord” in einer Modulationsfolge über seine Einzeltöne mystisch-ekstatisch ausgeleuchtet. Janáceks Vorliebe für insistierende Kleinmotivik mit formal vorantreibendem Charakter spiegelt sich, ausgehend von einer extrem knappen Klavier-Spielfigur seines Concertinos, im Klangbrief über ein Motiv wieder. Und Weberns Konstruktionsprinzipien bei 12-Ton-Reihen finden im Klangbrief über ein Intervall ihre Entsprechung in harmonischen, metrischen und formalen Komplementär-Gebilden von kristalliner Transparenz.

Wie schon in der Nr. 19, der Stele für Luigi Nono, greift Denhoff im Klangbrief an Verdi noch einmal die „scala enigmatica” aus den Pezzi sacri auf; hier zieht sie sich wie ein imaginärer Faden durch eine in sich ruhende, kantable Dreistimmigkeit. Der Klangbrief über einen Rhythmus übernimmt den Duktus des 2. Satzes aus Beethovens Klaviersonate op. 101. Im abschließenden Klangbrief über ein Echo gibt es mit dem Prinzip der stumm niedergedrückten Tasten und dem damit erzeugten Mitschwingen von Obertönen einen zitathaften, reflektierenden Verweis auf ein eigenes früheres Klavierstück (Sotto voce) Denhoffs. Wie eine musikalische Unterschrift beschließt dieses Stück den gesamten Zyklus.

 

© 1997 Robert Schön

(Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 

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