Klingende Leuchttürme (Aufzeichnungen - anläßlich des Henze-Projekts bei der Ruhr.2010)
Es war irgendwann im Frühsommer oder Herbst 1976, als ich Hans Werner Henze anläßlich der Proben zu seiner "Elegie für junge Liebende" an der Bonner Oper erstmals begegnete. Schon einige Zeit bewunderte ich als noch ganz junger Musiker und stets neugieriger Jungkomponist einige seiner Werke, die ich studiert hatte, z. B. die betörend schöne Kantate "Being Beauteous", die mich natürlich ebenso als Cellist faszinierte. Mutig sprach ich ihn als damals 21-Jähriger in einer Probenpause an und legte ihm einige meiner Partituren vor. Wie völlig selbstverständlich nahm er sich trotz meines überfallartigen Ansprechens sofort Zeit, blätterte in den Noten, sang mit leiser Stimme und dezent dirigierender Hand ein paar Stellen, die ihm offensichtlich auffielen, gab ein paar Anregungen und meinte gleich, wir sollten uns irgendwann in den nächsten Tagen nochmals treffen. Das geschah dann auch zwei oder drei Tage später in der damaligen Kölner Wohnung von Homero Francesch. Die sofort kollegiale Atmosphäre dieser beiden ersten Treffen, die den Alters- und Wissensunterschied zwischen uns beiden fast beiläufig wegzuwischen schien, sind für mich von bleibender Erinnerung. Ähnliches hatte ich zuvor nur bei Günter Bialas erlebt, der meine ersten Schritte als Komponist fast väterlich begleitet hatte, und mit dem mich bis an sein Lebensende 1995 eine sehr enge Freundschaft verband. Andere Komponisten, denen ich als junger Musiker auch meine Stücke gezeigt hatte, ließen deutlich spüren, daß sie es waren, zu denen ich aufschauen sollte, von denen ich zu lernen hätte ...
Gleich beim zweiten Treffen in Köln lud mich Hans Werner Henze zur 2. Cantierre Internazionale d'Arte 1977 nach Montepulciano ein. Als Komponist sollte ich ein Oktett in Schubert-Besetzung mit Bezug zum Orpheus-Mythos schreiben; so entstanden meine fünf lyrischen Stücke "O Orpheus singt" op. 15 nach den Sonetten an Orpheus von Rainer Maria Rilke. Zudem lud er mich ein, auch als Cellist beim international besetzen Festivalorchester mitzuwirken. Daß dieses Orchester dann der damals ganz junge, weitestgehend noch unbekannte, erst am Anfang einer inzwischen unumstrittenen Weltkarriere stehende Riccardo Chailly leitete, sehe ich heute ebenfalls als einen besonderen Glückfalls an. Erstmals erlebte ich in Montepulciano, was für ein musikalisches Vergnügen es bedeutet, unter solch kompetenter Leitung im Operngraben zu sitzen!
Wenige Jahre später, 1980, als Henze begann, für ein paar Jahre an der Kölner Musikhochschule eine Kompositionsklasse zu leiten, gehörte ich dort zu den ersten seiner "eingeschriebenen" Studenten, ohne eine richtige Aufnahmeprüfung absolviert zu haben, weil er – die offizielle Prozedur ignorierend – so eine Prüfung bei mir nicht für nötig erachtete, da er mich und meine Musik ja schon kannte.
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Mittlerweile bin ich selbst schon etwas älter als Henze damals bei unserer ersten Begegnung. Immer wieder sind wir uns nach meiner kurzen Kölner Studienzeit bei einigen seiner Uraufführungen oder auch während meiner Zeit als Stipendiat der Villa Massimo in Rom begegnet. Als Cellist habe ich seine Musik gespielt oder auch unterrichtet, aber unser Kontakt ist nach und nach über die Jahre eingeschlafen; wieso, das wissen wir möglicherweise beide nicht so ganz genau ... Gerne denke ich aber zurück an all das gemeinsam Erlebte und Durchlittene, in Montepulciano, Mürzzuschlag, Köln, Deutschlandsberg und andernorts; die Stunden mit ihm waren stets besondere.
Manche Musik von Henze hat sich mit den Jahren in ihrer Bedeutung und Wahrnehmung bei mir verändert. Aber es gibt ein paar Werke, die für mich bis heute – auch wenn meine eigene Klangsprache längst ganz andere Wege sucht und geht – an unverrückbarem Ort stehen wie klingende Leuchttürme, die einem das rettende Ufer anzuzeigen scheinen wollen, wenn die unabwägbaren Stürme des schöpferischen Tuns das eigene Boot manchmal arg durchwirbeln und ziemlich unsicher erscheinen lassen ...
Seitdem ich Henzes 2. Klavierkonzert aus dem Jahr 1967 erstmals hörte – das war noch vor unserer ersten persönlichen Begegnung 1976 – tauchen Klänge daraus, oftmals vermischt mit Fetzen aus Mahler-Symphonien, immer mal wieder in meinen Träumen und Nachtbildern auf, verstörend und beruhigend zugleich ...
© 2010 Michael Denhoff
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