Jürgen Hocker – in memoriam
Wer in Europa von Conlon Nancarrow spricht, muß zwingend auch von Jürgen Hocker sprechen, denn er war es, der es ab Mitte der 80er Jahren erst ermöglichte, daß die Musik des mexikanischen Einsiedlers Nancarrow hier endlich umfassend „live“ gehört werden konnte und somit sein einmaliges Werk einen festen Platz im Konzertleben und im Bewußtsein der Musikwelt bekam. Jürgen Hockers Enthusiasmus für mechanische Instrumente brachte ihn dazu, zunächst einen – später einen zweiten – alten Flügel mit der Ampico-Mechanik restaurieren zu lassen, damit man die Musik von Nancarrow nicht nur über Tonträger kennenlernen konnte, sondern nun in ihrer ganzen klanglichen Wucht auf den Selbstspielklavieren erlebte. Später ließ sich Jürgen Hocker noch eine Möglichkeit einrichten, beide Instrumente auch computer-gesteuert zu nutzen, so daß es erstmals möglich war, Nancarrows „Studies“ für zwei Instrumente perfekt zu synchronisieren, was zuvor über das Abspielen per Rolle nicht realisierbar war. Wie alle anderen Komponistenkollegen war auch ich von Nancarrows musikalischem Universum seiner „Studies“ überwältigt, als wir diese Musik nun endlich auf den Instrumenten von Jürgen Hocker hören konnten.
Mitte der 90er Jahren, nachdem ich Jürgen Hocker von diversen Veranstaltungen mit Nancarrows Musik persönlich schon näher kannte und er auch meine Musik - die er sehr schätzte -, fragte er mich, ob es mich nicht reizen könnte, auch für das Player-Piano zu schreiben. Ich schlug dies spontan aus, mit dem Argument, Nancarrow habe doch schon alles für dieses Instrument ausgereizt. Doch Jürgen blieb hartnäckig und wiederholte seine Frage in fast regelmäßigen Abständen, zuletzt im Jahr 1999 ganz speziell für seine geplanten Konzerte im Rahmen der Kölner Triennale 2000. Es war diesmal eine günstige Konstellation. Zum einen hatte ich mittlerweile Nancarrows „Studies“ eingehender studiert und zudem hatte ich gerade mein fast dreistündiges Klavierquintett „Hauptweg und Nebenwege“ abgeschlossen, das nach einjähriger Arbeit fast so etwas wie eine Art Resümee meines bisherigen Komponierens geworden war, und bis heute ein zentrales Hauptwerk geblieben ist. Ich wußte, ich müßte nun neue Wege einschlagen, wollte ich nach diesem sehr persönlichen und bekenntnishaften Werk überhaupt weiterschreiben. So kam mir Jürgens Bitte nun fast gelegen, denn die Herausforderung, für die atemberaubenden Möglichkeiten der Player-Pianos zu schreiben, bedeutete in jedem Fall eine Hinwendung zu bisher unbekanntem Terrain. Eine Möglichkeit, sich von Nancarrow abzugrenzen, sah ich darin, mich vornehmlich auf harmonische Aspekte der Musik zu konzentrieren, die bei seiner Musik eine eher zweitrangige Rolle spielen, da er im Wesentlichen an den Möglichkeiten rhythmischer und kontrapunktischer Komplexitäten interessiert war.
So entstanden Ende 1999 bis Anfang 2000 meine ersten drei „Inventionen“, die von meinem Bleistift-Entwurf aus von Jürgen in eine Computer-Fassung für seine Instrumente gebracht wurden. Es war der Beginn einer mehrjährigen und intensiven Zusammenarbeit mit Jürgen, denn nach der Aufführung im Rahmen der Kölner Triennale beschloß ich, einen Zyklus von insgesamt zwölf „Inventionen“ für Player-Piano(s) zu schreiben, eine Arbeit, die mich mit Unterbrechungen bis 2005 beschäftigte. Viele Tage und viele Stunden verbrachten wir im Laufe der Jahre zusammen, um Dynamik- und Pedal-Steuerung sorgfältig einzurichten. Es war stets eine intensive und gleichzeitig entspannte Zusammenarbeit, die uns immer wieder gegenseitig befruchtete. So regte Jürgen auch an, ich möge doch eine spezielle Version meines „Cadenabbiaer Glockenbuches“ für ein und zwei Player-Piano einrichten. Gern griff ich diese Idee auf. Und so bin ich, wie Jürgen einmal bemerkte – nicht ohne einen gewissen Stolz darauf, daß er letztlich dafür mitverantwortlich war –, der Komponist geworden, der nach Nancarrow das umfangreichste Werk für Player-Piano geschrieben hat.
Stets freute ich mich auf unsere Begegnungen, die zahlreichen bei ihm zu Hause beim Einrichten meiner Stücke für seine Instrumente, aber natürlich freute ich mich ebenso auf die gemeinsamen Auftritte bei den Konzerten, wenn er neben Nancarrows „Studies“ auch die eine oder andere meiner „Inventionen“ auf seine eigene unverwechselbare Art vorstellte. Ein letztes Mal geschah dies am 29. Januar dieses Jahres im Schloß Morsbroich in Leverkusen. Wenige Tage später, am 10. Februar, verstarb Jürgen Hocker. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag von Conlon Nancarrow, die wir zusammen im April in Bonn geplant hatten, mußte somit bedauerlicherweise abgesagt werden.
Wir können froh und dankbar sein, daß Jürgen Hocker neben seinem wunderbaren und anregenden Buch über seine Begegnungen mit Conlon Nancarrow auch noch die von ihm eingerichtete Website www.nancarrow.de mit umfangreichem Material und Informationen zu Leben und Werk des Komponisten weitestgehend abgeschlossen hinterlassen hat. Mit seinem unermüdlichen Einsatz hat er zudem alle „Studies“ und weitere Rollen von anderen Komponisten auf YouTube (http://www.youtube.com/user/playerpianoJH/videos) einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Dennoch vermisse ich nun seine angenehme und stets gelassene und humorvolle Art, seinen unermüdlichen Einsatz für die Musik für mechanische Instrumente. Sein Vermächtnis aber wird weiterleben.
Michael Denhoff, Bonn am 1. August 2012
Conlon Nancarrow und Jürgen Hocker vor dem ersten Player Piano-Konzert in Europa, Holland Festival, Amsterdam 1987. Foto: Beatrix Hocker. Jürgen Hocker – in memoriam
Who speaks of Conlon Nancarrow in Europe must necessarily speak of Jürgen Hocker, because he was the one who made it possible for the first time in the mid-80s to hear the music of the Mexican recluse here finally fully "live", thereby creating a permanent place in the concert life and awareness of the music world of Nancarrow’s unique work. Jürgen’s enthusiasm for mechanical instruments led him to restore first one old grand piano—and later a second—with an Ampico mechanism, so that one got to know the music of Nancarrow not only on record, but in its entire sonic force on the self-playing pianos. Later, Jürgen Hocker able to realize another possibility, to control both instruments with a computer, so that it was possible for the first time to perfectly synchronize Nancarrow'sStudies for two instruments, which was previously not possible from the rolls. Like all my other composer colleagues, I was overwhelmed by Nancarrow's musical universe in his Studies when we finally were able to hear this music on Jürgen’s instruments.
I got to know Jürgen from various events featuring Nancarrow’s music in the mid-1990‘s. He very much appreciated my music and asked me whether it would be possible for me to write for player piano. I immediately replied that Nancarrow had all but exhausted the possibilities for that instrument. But Jürgen insisted and regularly repeated his question, most recently in 1999 especially for the concert he was planning for the 2000 Cologne Triennale. This time the stars were favorably aligned. I had meanwhile studied Nancarrow’s Studies in great detail, and had also just finished a nearly three-hour long piano quintet Hauptweg und Nebenwege, which had become a kind of summary of my compositions so far, and remains a central main work. I knew I had to take a new path after this personal and confessional work. Jürgen’s challenge meant writing for the awesome possibilities of the player pianos, in each case a turn into unknown terrain. One way I saw to distinguish the music was for me to concentrate on its harmonic aspects, which played a rather secondary role for Nancarrow, as he was interested mainly in the possibilities of complexities of rhythm and counterpoint.
So it was from the end of 1999 to early 2000 that Jürgen made computer versions of my first three Inventions from pencil drafts. It was the beginning of several years of intensive cooperation, because after the show in Cologne I decided to write a cycle of twelve Inventions for player piano(s), with which I was occupied until 2005. We spent many hours and days together over the years carefully setting up dynamics and sustain pedaling. There was always an intense, but at the same time relaxed cooperation, that was always mutually stimulating. Jürgen then suggested that I make a special version of my Cadenabbiaer Glockenbuches for one and two player pianos, an idea I gladly took up. I am proud, as Jürgen was for suggesting it, for being the composer to write the most comprehensive work for player piano after Nancarrow.
I always looked forward to our meeting, many of which took place in his home while setting up my pieces for his instrument, and of course enjoyed as well the joint appearances at concerts when one or more of my Inventions were played along with Nancarrow’s inimitable Studies. The last time was this year on January 29th in Schloß Morsbroich in Leverkusen. A few days later, on February 10th, Jürgen Hocker died. An exhibition to mark Conlon Nancarrow’s 100th birthday, that we planned together to take place in Bonn in April, regrettably had to be cancelled.
We can be happy and grateful for Jürgen’s wonderful and inspiring book Begegnungen mit Conlon Nancarrow (Encounters with Conlon Nancarrow) and his mostly completed website www.nancarrow.de, with its extensive material and information on the life and work of the composer. With his unflagging efforts he also made all the Studies and rolls of other composers available on YouTube for an interested public.
Nevertheless, I miss his pleasant, and always relaxed and humorous manner, and his tireless dedication to the music for mechanical instruments. His legacy will live on.
— Michael Denhoff (translated Robert Willey)
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