Musik für und auf Campanula
von Robert Schön
Dem Instrumentenbauer Helmut Bleffert ist mit der Campanula eine interessante und ernst-zunehmende Bereicherung der herkömmlichen Streicherfamilie geglückt. Dieses 1985 nach mehrjähriger Entwicklungsphase und akustischen wie physikalischen Untersuchungen neu entwickelte Instrument greift die Idee der Resonanzsaiten, wie sie etwa bei der Viola d’amore oder dem Baryton zu finden sind, wieder auf und führt sie auf eigenständige Art weiter. Durch die Stimmung der vier Spielsaiten in Quinten und durch die Mensur ist die Campanula dem Violoncello verwandt. Die Klang- und Oberton-stützende Wirkung der Resonanzsaiten kommt durch eine andere Bauweise weit deutlicher zum Tragen als vergleichsweise beim Baryton. Die 16 diatonisch (von F - g’) gestimmten Resonanzsaiten verlaufen parallel beiderseits des Griffbretts und können auf Bedarf anders eingestimmt werden. Die Umrisslinie des Instrumenten-corpus’ gleicht dem Längsschnitt durch eine Glockenblume. Sowohl diese Form als auch der Vergleich zum Obertonspektrum von Glocken haben dem Instrument den Namen Campanula gegeben. Durch die Klangstützung der Aliquotsaiten hat das Instrument einen obertonreich pedalisierten, warmen und weichen Klang. Der Komponist und Cellist Michael Denhoff, der sich seit 1985 als erster Musiker für dieses Instrument einsetzte, betont zwar immer wieder, man möge die spezifischen Klangeigenschaften der Campanula nicht vergleichend gegen die des Violoncellos ausspielen, es sei ein ganz eigenständiges Instrument, dennoch eignet sich die Campanula wegen der Pedalwirkung und ihrer besonderen Klangfarbe besonders für die Literatur des Barock (mit oder ohne Cembalo), als mögliche Alternative zur Gambe oder zum Violoncello. Und so beginnt das „komponierte” Programm dieser Ersteinspielung mit Musik für und auf Campanula in zweifacher Hinsicht zwingend mit einer Solo-Musik, dem d-moll Praeludium aus der 2. Suite BWV 1008 von Johann Sebastian Bach. Zum einen sind die Solo-Suiten von Bach für Cellisten wohl so etwas wie das „Alte Testament” der umfangreichen Literatur für ihr Instrument; von hier spannt sich ein Bogen über die Beethoven’schen Cellosonaten (dem „Neuen Testament” für Cellisten - um beim Vergleich zu bleiben) bis hin zu den neue spieltechnische Dimensionen erforschenden Werken für Cello von Bernd Alois Zimmermann. Zum anderen scheint die strukturelle Eigenart der Musik Bachs, und hier insbesondere der für ein unbegleitetes Melodie-Instrument, für die Darstellung auf Campanula besonders geeignet. was Carl Philipp Emanuel Bach über die Flüchtigkeit des Cembalo-Tons schreibt, läßt sich ohne weiteres auf die Solowerke seines Vaters anwenden: „Es kommen überhaupt bei der Musik viele Dinge vor, welche man sich einbilden muß, ohne daß man sie wirklich hört... Verständige Zuhörer ersetzen diesen Verlust durch ihre Vorstellungskraft”. Die latente Mehrstimmigkeit im harmonischen Verlauf der Linie, die ihr innewohnende Polyphonie kann nur angedeutet werden. Die Notwendigkeit des inneren Weiterhörens wird dem Zuhörer, hier nun auf Campanula gespielt, zwar nicht grundsätzlich abgenommen, dennoch wird die über die Einstimmigkeit hinausreichende Räumlichkeit durch die die Haupttöne stützende Wirkung der mitschwingenden Resonanzsaiten verstärkt. Wohl kaum ein anderer Satz aus den sechs Solo-Suiten für Violoncello zeugt so eindringlich und komprimiert wie die c-moll Sarabande der 5. Suite BWV 1011 von Bachs einzigartiger Kunst der Verschmelzung von weitgespannter Kantabilität und harmonisch akkordischen Verlauf. Karl Friedrich Zelter schrieb einmal an Goethe: „Bachs Urelement ist die Einsamkeit... er will belauscht sein.” Diese 20 Takte der c-moll Sarabande sind dazu geeignet: sie sind Musik der Stille. Eine durchaus verwandte Atmosphäre der Stille und Einsamkeit bestimmt auch die beiden kurzen Stücke von György Kurtág und Volker Blumenthaler. Die frappante gestische Nähe von Kurtágs „Cello-Interpretation” des Pilinszky-Gedichtes Gerard de Nerval zu Bachs c-moll Sarabande wird in der hier vorgenommenen direkten Koppelung überdeutlich. Dieses Lied ohne Worte weist den großen ungarischen Komponisten und Musiker Kurtág einmal mehr als einen genialen Meister der musikalischen Miniatur aus. Die Reduzierung der kompositorischen Mittel gemahnt an Anton Webern. Auch Kurtág vermag mit nur wenigen Tönen in verknappter, ausgesparter Form ein Höchstmaß an Ausdruck zu vermitteln, „einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen...” (Schönberg über Webern). György Kurtág hat übrigens ausdrücklich eine Adaption auf Campanula empfohlen, nachdem er durch Michael Denhoff das Instrument kennenlernte. Eine ebenfalls autorisierte Adaption eines zunächst originalen Cellowerkes ist der 1984 entstandene Canto von Volker Blumenthaler, der heute als Dozent für Komposition und Theorie am Meistersinger-Konservatorium in Nürnberg tätig ist. „Das Stück war ursprünglich als Schlußteil eines längeren Solowerks für Cello konzipiert. Die Eigenständigkeit des etwa fünfminütigen Gesangs gab den Anstoß, ihn als selbständige Komposition spielen zu lassen. Die langgezogenen Melodietöne als ein Charakteristikum des Canto, die besonders die Resonanzsaiten der Campanula zum Schwingen anregen, wodurch ein klanglicher Reiz und eine Räumlichkeit entsteht, die zu erzeugen auf dem Cello schwerlich möglich ist, kommen der Eigentümlichkeit der Campanula stark entgegen.” (Blumenthaler) Die Vier kurzen Studien von Bernd Alois Zimmermann, im Frühjahr 1970 kurz vor seinem Freitod auf Anregung von Siegfried Palm für eine Sammlung Studien zum Spielen Neuer Musik entstanden, sind weit mehr als ein Übungswerk, das sozusagen vorbereitend auf bestimmte technische Probleme, etwa in seiner Solosonate oder in den beiden Konzerten, eingeht (unterschiedliche Zeitverläufe durch voneinander abzuhbende Klangfärbungen, differenziertes Pizzicato-Spiel auch mit Flageolettönen, kantables Spiel in extremen Höhen). Sie sind so etwas wie eine verdichtete Rückschau auf etwa zwei Jahrzehnte kompositorischen Auslotens der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Streichinstrumentes, das Zimmermann - als der „Vox humana” am nächsten stehend - bevorzugt nutzte, weil „geeignet also, zu singen”. Die geistige Haltung Zimmermanns hat viele andere jüngere Komponisten, so auch Michael Denhoff in der eigenen kompositorischen Entwicklung mitgeprägt. Denhoff war übrigens als Cellist u.a. auch Schüler von Siegfried Palm und gewann 1986 mit seinem Werk Y sobre los instantes für drei Campanulen (es war das erste Originalwerk für Campanula) den von der Stadt Köln ausgeschriebenen Bernd-Alois-Zimmermann-Kompositionswettbewerb. Fasziniert von der „reichen Vielfalt der Flageolettmöglichkeiten... und vieler anderer Faktoren (Zimmermann über das Cello), die sich durch das Mitschwingen der Resonanzsaiten multiplizieren, schrieb Denhoff weitere Werke für die Campanula und regte auch andere Komponisten an, sich von den neuartigen Klangmöglichkeiten dieses Instrumentes inspirieren zu lassen. Die genaueste Kenntnis der spieltechnischen Möglichkeiten und der stete Umgang mit diesem Instrument ist in seinen beiden hier vertretenen Werken deutlich zu hören. Gleichzeitig glaubt man, die geistige Nähe zu Bernd Alois Zimmermann zu spüren. Wenn aber... (in memoriam C.S.) aus dem Jahre 1987 gehört als Teil II zu seinem abendfüllenden Zyklus Monologe I - V für fünf Solisten, und ist in sich - als Spiegel des Gesamtwerkes - ebenfalls in fünf Teile gegliedert. Auffälligstes Merkmal ist die hier vorgeschriebene Skordatur (die G-Saite wird auf Es herabgestimmt). Hierdurch verändert sich das Obertonfeld der natürlichen Flageolettöne und ermöglicht neue Klangfarbwechsel. Zudem kommen in diesem Stück (Teil 4 und 5) die Resonanzsaiten auch gezupft und lautenartig klingend zum Einsatz. Wenn aber... ist, wie der Komponist schreibt, „ein Requiem für einen ehemaligen Schüler und Freund, der 1987 den Freitod wählte. Die fünf Teile der Musik sind wie Erinnerungen an Vergangenes, wie plötzliches Aufbrechen des Unbekannten, wie die Fragilität von Idyllen." Auch Circula el tiempo (1994) beschwört eine ähnliche, scheinbar zeitgedehnte und in den Raum geweitete Klangwelt; es ist eine Musik, die auf ihre Art „die Temperaturen des Erlebens von Zeit, die vielfachen Dimensionen von Ton und Farbe, die Aspekte sensiblen Hineinhorchens in Klänge und deren Gegenbild, die Stille, beleuchtet.” (Denhoff). Dem Werk steht als Motto eine Gedichtstrophe von Jorge Guillén voran:
El instante, Der Augenblick Pulsado, sonado sobre gepulst, getönt auf Tantas cuerdas, so vielen Saiten, En susurro se recoge. nimmt sich zurück in Flüstern.
Circula el tiempo kann wahlweise von einem, zwei, drei oder vier Spielern ausgeführt werden und gehört zu jenen kompositorischen Entwürfen von Denhoff, in denen verschiedene Stücke mit raffinierten strukturellen Strategien ineinander geschichtet erscheinen, die auch allein und für sich bestehend gespielt werden können. Hier ist es ein mit vielen Pausen und Fermaten durchsetzter 1- bis 4-stimmiger Kanon in einer Kreisbahn mit kurzer abschließender Coda: jeder der vier Spieler beginnt seinen Part an einem unterschiedlichen Ausgangspunkt; nach exakt festgelegten Einsätzen spielt jeder dann metrisch unabhängig und frei „auf die schon klingenden Stimmen hörend und reagierend”. Die vier Spieler sind möglichst weit voneinander entfernt in einer Art „Kang-Rechteck” um die Zuhörer herum positioniert. Hierdurch wandert das äußerst leise und farblich ungemein differenzierte Klanggeschehen, sich nach und nach zur Vierstimmigkeit addierend und dann wieder ausdünnend, kreisförmig im Raum. Dabei nähern sich über die beiden Raumdiagonalen in der Mitte des musikalischen Ablaufs die Stimmen 1 und 3, bzw. 2 und 4 zu einem „Echo” in schwebender Nähe. Die Zeit verstreicht und scheint doch, in sich kreisend, gleichzeitig stillzustehen.
© 1995 Robert Schön (Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung des Autors) |