Leserbrief
Zum Leserbrief von Karsten Erdmann (FAZ vom 2.10.2008) „Musik im Zwanzigsten Jahrhundert“.
Ich möchte die Meinung, die Karsten Erdmann in seinem Leserbrief vertritt, meinerseits nur bekräftigen und noch erweitern: Es ist das Dilemma unserer Musikkritik, daß sie voreilig nur wenige Namen zuläßt, denen sie Bedeutung zuspricht und somit den Reichtum an ästhetischen und stilistischen Positionen ausblendet, der eigentlich Merkmal von Kunst ganz allgemein ist.
Ohne Zweifel sind Zimmermann und Henze nicht minder wichtige Vertreter der Neuen Musik in Deutschland als ihr kürzlich verstorbener Zeitgenosse und Antipode Stockhausen. Und ich vermute, auf Dauer wird sich herausstellen, daß deren wie auch Hartmanns tief im Humanismus verwurzelte geistige Haltung uns Hörern mehr zu sagen hat als die "Privat-Religion" eines Stockhausen, die sich vor allem in seinen letzten Jahren immer stärker ausprägte. (Ziemlich belanglos klingen dessen nun nach und nach posthum uraufgeführten Werke aus dem unvollendet gebliebenen Stunden-Zyklus.)
Auch die Generation Lachenmann hat mehr bedeutende Repräsentanten aufzuweisen, als nur ihn: z. B. Aribert Reimann, dem neben Henze wohl wichtigsten Opernkomponisten, oder Hans Joachim Hespos, den unerschrockenen Individualisten, dessen Klangfindungen unser bürgerliches Musikdenken nicht weniger In Frage stellen als die von Lachenmann.
Und auch in der mittleren Generation gibt es neben Rihm weitere bemerkenswerte Stimmen, die aber vielleicht nur deshalb nicht als solche wahrgenommen werden, weil die gnadenlosen Marktmechanismen, von Besucherzahlen und Einschaltquoten angeblich diktiert, zu einem immer engeren Repertoire (übrigens auch bei der klassischen Musik) führen, so daß vielen Veranstaltern kaum noch ein anderer Name als Rihm einzufallen scheint, wenn sie sich einmal mit einer Uraufführung oder einem neuen Werk im Programm schmücken wollen.
Es gibt wenige beruhigende Ausnahmen, die zeigen, daß Originalität und Qualität irgendwann auch noch zu Lebzeiten der betreffenden Komponisten wahrgenommen und anerkannt werden. Ich denke z. B. an Conlon Nancarrow, aber es hat lang gedauert – auch, bis die deutsche und internationale Musikwelt bemerkte, es gibt neben Ligeti noch einen anderen ganz großen ungarischen Komponisten: György Kurtág.
Michael Denhoff, Bonn am 2. Oktober 2008
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