Brauchen wir die Musikschule?
Der Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Musikschulen in der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg ist beispiellos und wurde von unseren europäischen Nachbarn nicht ohne Bewunderung beobachtet! Und noch vor wenigen Jahren war es ein herausragendes lokales Ereignis, wenn die örtliche Musikschule nach Jahren provisorischer Unterbringung in diversen Schulräumen des Stadtgebietes endlich ein eigenes Gebäude beziehen konnte. Die stetig steigenden Schülerzahlen belegten eindringlich die Anziehungskraft dieser Einrichtungen, die nicht weniger als andere städtische Angebote die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt und die Lebensqualität bestimmten und mitprägten. Doch die Zeiten eines expandierenden Bildungs- und Kulturangebotes sind vorbei. Angesichts leerer Kassen und ins Immense gestiegener Verschuldung von Staat und Kommunen wird die Notwendigkeit eines Abspeckens unumgänglich. Den Stadtkämmerern obliegt die undankbare Aufgabe, den Rotstift auch dort anzusetzen, wo Liebgewordenes scheinbar auch schon selbstverständlich geworden war, von der öffentlichen Toilette bis zum Wasserbrunnen im Stadtpark. Daß bei aller Notwendigkeit zum Einsparen sich mancherorts inzwischen aber eine geradezu blinde Sparwut breitmacht und dabei - nicht zum ersten Mal - dem Kulturbereich mit einer Kahlschlags-Mentalität begegnet wird, gibt jedoch zu denken! Nicht nur Büchereien mußten schließen, auch das Musikschulsterben hat bereits begonnen! Die allgemeine Öffentlichkeit nimmt dies zwar nicht in dem Umfang zur Kenntnis, wie wenn in Berlin die Schließung des traditionsreichen Schiller-Theaters beschlossene Sache zu sein scheint; dennoch: die wirtschaftliche Rezession scheint keine Grenzen zu kennen bei dem, was sie mit in ihren Strudel zieht. Gerade hier wäre es aber die Aufgabe verantwortlichen Politikverständnisses, den Schaden abzuwägen, der durch derartige Streichungen entsteht und dem kulturellen Ausverkauf entgegenzuwirken; denn beschnitten wird eine der wesentlichsten Lebensadern unserer Gesellschaft. Dies gilt gleichermaßen für Opernhäuser und Orchester, wie für Musikschulen. Diese sind nicht, wie manche meinen, entbehrliche - weil elitäre und luxuriöse - Einrichtungen, es sind Orte der Kommunikation und des kreativen Handelns, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft widerspiegeln und definieren. Wenn allgemein die Vereinsamung und gleichzeitige Verrohung unserer Gesellschaft immer bedrohlichere Zustände annimmt, so hängt dies ursächlich auch mit ungelösten Fragen nach dem Sinn des Lebens zusammen. Wer wie ich seit nunmehr fast 20 Jahren die musikalische Erziehung der nachwachsenden Generation beobachten und aktiv mitgestalten konnte, wird feststellen, daß die Jugendlichen, die in ihrer Freizeit Musik machen, durchaus Antworten auf den Sinn ihres Lebens gefunden haben, der nicht allein darin besteht, daß die Freizeit mit dem Erlernen eines Instrumentes „sinnvoll” gestaltet ist. (Natürlich gibt es auch andere „sinnvolle” Beschäftigungen!) Aber die Kinder und Jugendlichen, die an die Musik herangeführt wurden und bei denen die Freude am aktiven Musizieren geweckt und verwurzelt wurde, erfahren im Kreise Gleichgesinnter, sowohl beim wöchentlichen Ensemble- oder Einzelunterricht als auch bei dem fast sportlichen Sich-Messen bei den so wichtigen und nicht mehr wegzudenkenden Wettbewerben „Jugend musiziert”, eine Form der Selbstbestätigung, die sie weit weniger als andere Altersgenossen anfällig macht für Alkohol- und Drogenkonsum und anderen Formen kriminellen Abgleitens. Ihr sich formendes Weltbild erliegt auch nicht so schnell und blind den Verführungen einer allzu oberflächlichen Vergnügungssucht, die unsere heutige Mediengesellschaft in schier unüberschaubarer Menge bereithält und die von vielen kritiklos als Form irdischen Glücks mißverstanden wird. Es ist wohl eines der großen und schönen Geheimnisse der Musik, daß sie bei Menschen, die sich ihr öffnen und sich intensiver mit ihr beschäftigen, Dinge in Bewegung zu setzen vermag, die auch zur Persönlichkeitsfindung erheblich beitragen. Neugierde, Aufgeschlossenheit, Begeisterungsfähigkeit, kritisches und kreatives Denken, soziales Verhalten sind Tugenden, die im Ungang mit Musik so selbstverständlich erlernt werden wie der richtige Fingersatz oder Bogenstrich. Neben der Erfahrbarmachung einer grundsätzlichen Lebensbereicherung durch Musik haben die Musikschulen natürlich auch die Aufgabe, herausragende Begabungen zu entdecken und dementsprechend zu fördern. Was hier von engagierten Lehrkräften geleistet wurde, bezeugen eindrucksvoll die musikalischen Spitzenleistungen bei den Wettbewerben auf Bundesebene, wo die jungen Musiker ihren professionellen Kollegen oft kaum noch im Können nachstehen. Und auch die überregionalen Jugendorchester haben inzwischen ein technisches wie musikalisches Niveau erreicht, das durch seine Spontaneität und Frische manches durchschnittliche Berufsorchester in den Schatten zu stellen vermag. So sind die Musikschulen auch zu ganz wesentlich Institutionen zur Vorbereitung auf das Musikstudium geworden. Zum diesjährigen Musikschuljubiläum in Brühl muß festgehalten werden, daß es hier gelungen scheint, eine Integration und Vernetzung der musikalischen Aktivitäten mit den Strukturen des städtischen Lebens zu finden und zu verfestigen, die eine radikale Kürzung der Mittel oder gar die Schließung der Tore in der Liblarer Straße verhindern konnte. Den dafür verantwortlichen Stadtvätern muß für ihre Weitsicht gedankt werden, denn: wir brauchen die Musikschule!
© 1993 Michael Denhoff
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