NEUE MUSIK LEBEN Podcast Folge 253 – (18. 3. 2025)
Irene Kurka im Gespräch mit Michael Denhoff
Irene Kurka Hallo lieber Michael Denhoff, ich heiße dich heute ganz herzlich in meinem Podcast willkommen.
Michael Denhoff Ja, danke für die Einladung, ich freue mich mal hier zu sein.
IK Ja, ich freue mich auch, daß du hier bist, weil wir uns schon sehr lange kennen.
MD Das ist richtig.
IK Ich habe auch das große Glück, weil wir nicht so weit voneinander entfernt wohnen, daß ich dich hier so richtig live haben darf. Das habe ich ja auch nicht immer. Viele Gespräche gehen ja auch über Zoom. Ich habe dich tatsächlich damals über den Kollegen David Graham kennengelernt.
MD Ah, das war mir jetzt gar nicht mehr so bewußt.
IK Und der hat dich so interessant eingeführt. Ich hatte irgendwie mit ihm so ein bisschen zu tun, er war ja gerade ins Rheinland gezogen und dann sagte er: Irene, du mußt jetzt einen berühmten Komponisten kennenlernen. Das warst dann du. Und dann habe ich Klavierlieder von dir gesungen, die Heindrichs-Lieder. Und wir haben In Unum Deum gemacht.
MD Auch das, genau. Und last not least dann die Greguerías.
IK Ja, die jetzt auch wieder aufgeführt werden in Köln und in Bonn. - Ich möchte von dir wissen, wie bist du eigentlich zu dieser neuen Musik gekommen?
MD Ja, die Frage nach den Anfängen, die stellt man sich je älter man wird, vielleicht sogar noch eher als im normalen Betrieb des Nach-Vorne-Gehens. Zunächst, ich bin in einem musikalischen Haushalt groß geworden. Meine Eltern waren beide Schulmusiker und ich habe vier Brüder, die alle auch den Musikerberuf eingeschlagen haben. Einer, der zweitjüngste, exakt wie mein Vater, Schulmusiker, mit dem Zweitfach Deutsch, und dessen Sohn ist mittlerweile auch in derselben Kombination im Schulbetrieb. Ja, und die anderen sind alle ins Orchester gegangen. Einer als Flötist in Duisburg, der Jüngste in Münster als Bratschist im Städtischen Orchester, der einzige noch wirklich Aktive. Und der Bruder, mit dem ich am meisten musikalisch gemacht habe, allein schon dadurch, daß wir viele Jahre zusammen Klaviertrio gespielt haben, Johannes, der war bis vor wenigen Jahren erster Konzertmeister in Braunschweig im Staatstheater. Wir sind alle ganz früh ans Musikmachen gekommen. Wir drei Älteren, wie man so schön sagt – das war tatsächlich so, die beiden anderen fühlten sich selber auch eher als Nachzügler – waren altersmäßig zudem relativ nah beieinander. Wenn dann Weihnachten Besuch kam von der Verwandtschaft, wir die Kinderzimmer frei machen mußten, zusammenrücken mußten, alle drei in einem Zimmer, so kann ich mich noch erinnern, wie wir frei improvisiert, aber richtig schön, dreistimmig die Weihnachtslieder gesungen haben, die Gegenstimmen frei erfunden.
Der Jüngste, Johannes, hat dabei mit seiner hellen Stimme den Sopran gesungen. Davon gibt es sogar noch Aufnahmen. Mein Vater hat mit einem Philips Tonbandgerät, das er von der Schule in die Weihnachtsferien mit nach Hause genommen hat, unser Singen aufgenommen.
Ja, das sind so die ganz frühen Erinnerungen. Dann habe ich, wie jedes Kind, mit vier Jahren mit Blockflöte anfangen müssen, sage ich jetzt mal, das hat mich nämlich nicht lange gereizt. Dann kam mit etwa sechs Jahren das Klavier hinzu, bei meinem Vater zunächst. Und für die damalige Zeit noch relativ normal und nicht ungewöhnlich, ist mit zehn Jahren erst das Cello dazugekommen, was zum Schluss ja mein Hauptinstrument geworden ist. Heute fängt man früher an, was auch durchaus nicht schlecht ist, wie ich finde: man kann Kinder gar nicht früh genug ans Musikmachen heranführen. Aber bei mir war es, wie gesagt, erst mit zehn Jahren das Cello und ziemlich bald stellte sich heraus, daß das wohl auch ‚mein’ Instrument ist.
Ich spiele zwar auch bis heute noch Klavier und habe meine Schüler, meine jüngeren Schüler, gerne am Klavier begleitet. Das geht natürlich dann nicht mehr so richtig bei Beethoven und Brahms Sonaten, aber ein Haydn Cellokonzert und sowas, das kann ich noch am Klavier auch selber begleiten.
Und vielleicht es ist wirklich so, daß das Spielen der Musik, vor allem der Bartók Klavierstücke in den jungen Jahren, bei mir hat den Wunsch aufkommen lassen, selbst so etwas wie Komponieren zu versuchen. Und mir geht es eigentlich fast bis heute so, wenn ich Stücke von Bartók höre, wird mir einfach auf nicht erklärliche Art und Weise sehr warm ums Herz. Es ist eine unheimlich menschliche und im besten Sinne großartige und schöne Musik. Bartók, nicht nur Mikrokosmos, sondern auch die Sonatine und alles, was ich da von ihm gespielt habe, das war für mich neue Musik damals. Daran habe ich mich orientiert.
Als einer der ersten kompositorischen Gehversuche schrieb ich mit 10 Jahren Variationen über „Im Märzen in der Bauer“ für Cello. Beim örtlichen Musikschulwettbewerb habe ich das dann selber gespielt. Aber als das ein bisschen ernsthafter wurde, war es Bartóks Musiksprache, die ich nicht analysiert habe, sondern einfach nur inhaliert, möchte ich fast sagen, und ohne die Spielregeln, die da eine Rolle spielen, zu kennen oder zu erfassen, einfach imitierend nachempfunden. Aber ich glaube, so ist das bei allen Anfängen. Man imitiert zunächst mal als Komponist das, was einem gefällt, was einem gerade unterkommt. Und über das Nachmachen, nicht Nachäffen, sondern sich Einfinden in so eine Sprache, lernt man so nach und nach, was Komponieren bedeutet … und findet darüber vielleicht auch irgendwann die eigene, unverwechselbare Sprache. Die ist am Anfang selbstverständlich noch nicht gegeben. Da kann man nehmen, wen man will: Bei Mozart gab es auch Vorbilder am Anfang und so weiter. Aber das Interessante ist, finde ich eben immer wieder, daß doch relativ früh bei Komponisten, auch wenn man noch ganz klar das Vorbild hört, etwas Spezifisches, Eigenes schon hineinkommt, was bis ans Lebensende für den Komponisten in irgendeiner Weise signifikant bleibt.
Also ganz früh, auch bei Beethoven, wo man natürlich den Haydn oder Mozart in den frühen Werken noch deutlich spürt, da ist schon dieses Gegen-den-Strich-bürsten, was erst recht die Spätwerke ausmacht, im Ansatz alles schon vorhanden. Da ist schon die Physiognomie Beethovens sehr stark zu erkennen.
IK Also es war vieles früh erkennbar, viel Neugierde, viel Musik im Haushalt. Und dann hast du wahrscheinlich auch ein Musikstudium begonnen, und gleich Komposition oder erst einmal Cello?
MD Ja, die Neugierde war tatsächlich extrem groß. Ich sage jetzt mal, mit elf, zwölf war es Bartók. Dann so mit zwölf, dreizehn, vierzehn lernte ich die Musik von Ligeti und Penderecki und die neue polnische Schule kennen. Das habe ich natürlich auch nachgemacht. Ich fand es großartig, mit so einem großen schwarzen Balken über die Notenlinien zu schreiben. Da hörte man dann Cluster und so weiter.
Und dann gab es noch diese grandiose Editionsreihe von der Deutschen Grammophon, die Avantgarde-Serie, eine Schallplatten-Serie, die jetzt – glaube ich – sogar zum Teil wieder neu aufgelegt wurde auf CD. Andere Kinder haben sich vielleicht Rollschuhe gewünscht. Ich habe mir die Schallplatten-Edition von der Deutschen Grammophon gewünscht und auch Gott sei Dank bekommen … und mir sozusagen hörend wirklich alles davon erschlossen.
Mit Ende 14 war für mich Bernd Alois Zimmermann zum Beispiel der Komponist, wo ich mir gesagt habe: das ist ja wahnsinnige Musik. Es war sogar so, daß in der Zeit auch schon fast –mit 15 etwa – der Entschluß für mich feststand, wenn ich studiere (und ich werde sicherlich Musik studieren!), dann will ich zu Bernd Alois Zimmermann. Ich kann mich noch heute genau erinnern an die Situation, als wir am Abendessen-Tisch saßen (damals gab es noch kein Fernsehen in unserem elterlichen Haushalt), und nebenan im Radio um sieben Uhr die WDR-Nachrichtensendung kam die Nachricht, Bernd Alois Zimmermann hat sich das Leben genommen. Ich weiß nicht mehr so genau den exakten Wortlaut, aber das war für mich in dem Moment eine schockierende Nachricht.
Ja, ich konnte also nicht bei Zimmermann studieren. Ich glaube, es war fast sogar mit ein Grund, weswegen ich mich nicht entscheiden konnte, zu wem gehe ich als Komponist, als ich mein Studium 1973 in Köln begann, sogar schon neben den Vorbereitungen aufs Abitur mit einer eintägigen Beurlaubung vom Schulunterricht, um dann einmal wöchentlich in Köln bei Siegfried Palm Unterricht zu bekommen, Wer würde mich als Kompositions-Lehrer interessieren? –
Nun muß ich dazu sagen, und das gehört in meiner Biographie doch auch dazu, daß ich mit 13 Jahren glücklicherweise Günter Bialas kennengelernt habe, einen Komponisten, den du vielleicht auch vom Namen her kennst. Mit ihm war ich bis zu seinem Lebensende eng freundschaftlich verbunden. Er war ja nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Detmold, aber dann ziemlich bald in München, sicherlich einer der wichtigsten Kompositionslehrer in der Republik. Nikolaus A. Huber, Heinz Winbeck, Peter Michael Hamel usw., ganz unterschiedliche Stilistiken an kompositorischen Persönlichkeiten waren alle bei Günter Bialas Studenten. Er hat mich wirklich auf eine nette, väterliche, aber nicht – wie soll ich sagen – herablassende Art, wirklich ganz menschlich zugewandt, ganz wunderbar, sozusagen indirekt in seine Kompositionsklasse aufgenommen. Ich war nie offiziell eingeschrieben bei Bialas, aber in den ersten Jahren habe ich ihm immer meine neuesten Stücke gezeigt. Da gab es ein Stück für Zwölf Streicher und Cembalo, das hatte ich mit 16 geschrieben. Als ich es ihm zeigte – es war noch so ein bißchen in der Notationsweise wie Penderecki –, hat er sanft, aber deutlich Kritik geäußert, sodaß ich, und das ist nie wieder in meinem Leben passiert, von dem Stück nur 20 Prozent übrig behalten habe und 80 Prozent neu komponiert habe. Und da war er dann tatsächlich auch offensichtlich sehr begeistert und hat dafür gesorgt, daß das Münchner Kammerorchester dieses Stück uraufgeführt hat. Ich glaube, ich war knapp 18, als sie das dann gespielt haben. Das war für mich natürlich ein wunderbarer Glücksfall, so ein renommiertes Kammerorchester als Interpreten zu haben in so jungen Jahren, das hat mich damals schon sehr beglückt.
Ich verdanke Günter Bialas sehr viel und wie gesagt, wir haben die weitere Zeit unserer Begegnungen immer mehr ein ganz gleichwertiges, gegenseitig interessiertes Gespräch miteinander geführt, bis zu seinem Tod; er ist 88 Jahre alt geworden.
Ich weiß noch, ich hatte in Südamerika, Argentinien und Uruguay – das lief glaube ich über das Goethe-Institut – Vorträge über Neue Musik in der Bundesrepublik zu halten und hatte dabei ein Klavierkonzert von Günther Bialas mit im Programm, was ich dort vorstellen wollte. Und die erste Nacht wieder im heimischen Bett, ließ ich mich morgens vom Radio am Bett wecken und die Nachrichten vermeldeten, Günter Bialas ist gestorben. Ich wollte ihm eigentlich berichten, wie es mir ergangen ist und so weiter. Das fällt mir jetzt gerade so spontan ein, hatte es ganz vergessen.
Diese frühe Prägung und die Neugierde, die haben mich eigentlich bis heute getragen. Neugierig in alle Richtungen.
IK Du hast ja auch mit so vielen Interpreten gearbeitet, und da bin ich auch immer neugierig, was schätzt du denn besonders an Interpreten?
MD Ich schätze an Interpreten, wenn sie mit einer großen Ernsthaftigkeit und Genauigkeit versuchen, zunächst mal den Notentext für sich zu erarbeiten, zu erschließen und die Intention des Komponisten, so weit ihnen das möglich ist, darzustellen, natürlich unbedingt auch das, es gehört zur Interpretation dazu und ist ja das wichtige zweite Glied in dem Prozess von Musikmachen. Erst einmal gibt es da nur die Geheimschrift, die ein paar wenige lesen können auf dem Notenpapier, dann braucht es die, die dieses dechiffrieren, entschlüsseln, diese Geheimschrift in Klang umgestalten. Damit wird die Stimme des Komponisten hörbar, aber es wird auch die Welt des Interpreten damit hörbar. Er bringt ja seine musikalische Erfahrung, das was er bis dahin studiert und aufgeführt hat, das bringt er ja alles mit, wenn er sich mit einem neuen Stück befasst. Seine Erfahrung kann ihm dabei helfen, und er muß vielleicht auch Neues dazulernen, wenn er ein bis dahin unbekanntes Stück einstudiert, wo es noch keine Referenzaufnahme gibt, an der man sich vielleicht orientieren kann. Der Interpret, wie gesagt, spielt eine ebenso wichtige Rolle wie der Komponist. Und dann kommt das letzte und wichtigste Glied: der Zuhörer. Diese drei machen das Erlebnis Musik aus. Wenn das gut funktioniert, ist das einfach ein sehr beglückender Moment, wenn man merkt, daß was ich an Gedanken im Kopf hatte, an musikalischen Gedanken, geschafft habe, möglichst gut auf das Papier zu bringen, und ein Interpret das möglichst gut auch übersetzt, in Klang, in den realen Klang und das dann beim Zuhörer möglicherweise so eine feine Gänsehaut erzeugt. Glücklicher kann man gar nicht sein als Künstler … und auch als Interpret, glaube ich. Wenn man merkt, mit meiner Art, wie ich die Musik darstelle, kann ich die Leute, die Zuhörer in Bann ziehen, fesseln, für ein, zwei Stunden aus ihrer üblichen Welt, in eine (vielleicht) Traumwelt, aber auf jeden Fall eine völlig andere, neue, offene Welt der Imagination, der Schönheit, möglicherweise auch des Schreckens, entführen, ist das doch beglückend Und genau das schätze ich, wenn Interpreten das gelingt! Es gibt ja, und ich muß das leider aus eigener Erfahrung sagen - und manch anderer kann das bestätigen - es gibt Interpreten, die diese Sorgfaltspflicht nicht walten lassen und denken, bei neuer Musik kommt es ja nicht so genau darauf an, das merkt ja sowieso keiner.
Ich glaube, der Interpret neuer Musik hat eine noch viel größere Verantwortung gegenüber der Musik, die er dem Publikum nahe bringen will. Also: wenn ein Pianist eine Mozart-Sonate schlecht spielt, dann ist er fürs Publikum ein schlechter Pianist. Wenn aber ein Pianist ein Stockhausen Klavierstück schlecht spielt, dann denken die Leute oft, es ist ein schlechtes Stück. Deswegen meine ich, die Verantwortung ist sehr groß.
Meine Erfahrung grundsätzlich ist, daß Interpreten – und mit denen habe ich eigentlich fast immer bevorzugt gearbeitet –, die das gesamte Repertoire der Musikgeschichte verinnerlicht und sich damit auseinandergesetzt haben, also wer ein spätes Beethoven-Streichquartett spielen will, der muß schon wirklich etwas draufhaben, wenn man zudem der Konkurrenz anderer Ensembles standhalten will. Wenn solch ein Ensemble auch den Mut hat, sich mit meinen Streichquartetten auseinanderzusetzen, dann habe ich überhaupt keine Sorge, daß das nicht ganz großartig wird.
Meine Erfahrung beispielsweise mit dem Auryn-Quartett, das ja mehrfach Musik von mir gespielt hat, ging in diese Richtung: die haben das ganze klassische Repertoire drauf, haben aber auch neue Musik viel gespielt. Günter Bialas haben sie wunderbar aufgeführt und so weiter. Oder auch das Artemis-Quartett, die mein 8. und letztes Streichquartett uraufgeführt haben. Da fühlte ich mich immer in allerbesten Händen.
Es gibt hervorragende Spezialisten für neue Musik, die können Dinge spielen, wo die normalen Orchestermusiker nur mit Staunen sagen, wie kann man das nur ausführen? Wenn sie das Notenbild sehen: das kann man doch nicht spielen! – Man kann alles spielen.
Ich weiß noch, als ich in Hamburg meinen Mallarmé-Zyklus dirigieren sollte als Uraufführung, wurde zur gleichen Zeit die Lachenmann-Oper, das Schwefelhölzchen, von den gleichen Musikern gespielt. Und ich kam mit den Ensemblemitgliedern natürlich bei den Proben auch mal darauf zu sprechen, wie läuft es da mit Lachenmann? Die waren zutiefst überrascht, wie genau Lachenmann diese Klänge, die wirklich ungewöhnlich sind, wie genau seine Vorstellung ist und er alles vorführen und erklären kann. Wenn man den Musikern als Komponist wirklich zeigen kann, wie es geht, dann hat man bei ihnen gewonnen. Dann hat man auch das Herz der Musiker gewonnen. Und dann lösen sich manche scheinbar unspielbaren Stellen, die Schwierigkeit beginnt sich aufzulösen. Wenn man verstanden hat, warum das so und nicht anders sein soll, dann findet man eine Lösung. Im Idealfall.
Es gibt allerdings Dinge, die lassen sich wirklich nicht machen. Ich habe solche Stücke auch schon aufführen müssen. Wenn ein Komponist nicht weiß, wie eine Geige funktioniert, und einen Doppelgriff untere G-Saite und ein A darüber, eine Sekunde also, einfordert, das kann man einfach nicht auf der Geige spielen. Da muß man, wenn einem Komponisten das passiert, was hoffentlich nicht passiert (das sollte eigentlich nicht passieren!), dann muß man eine Lösung finden, eine Änderung durchführen.
Es ist glaube ich wichtig, daß man als Komponist das Instrumentarium fast besser kennt als die Instrumentalisten. Und bei Lachenmann: der weiß ganz genau, was er schreibt und einfordert. Deswegen hat er ja viele Jahre immer wieder auch darunter gelitten, daß die Musiker ihn nicht spielen wollten, weil sie es unmöglich fanden.
IK Ja, ich höre immer wieder, auch wenn ich mit Leuten spreche, die jetzt an der Hochschule lehren oder auch dort so ein Neue-Musik-Ensemble leiten, daß es manchmal leichter oder schwieriger ist, die Studierenden zu akquirieren, die Klassik und so weiter spielen. Aber daß da auch oft so Sachen zustande kommen, wenn sie eben Lachenmann oder so etwas gespielt haben oder irgendwie einen langen, kratzigen Ton oder besonders dünn, daß die dann plötzlich feststellen, wenn man das wirklich kann, daß plötzlich der Mozart oder Anderes besser läuft. Ich habe das auch immer wieder festgestellt, weil man ja auch zum Beispiel beim Singen, wenn ich jetzt was hauchig singe oder mit Druck oder wie auch immer, wenn ich das bewußt mache, bin ich schon wieder fünf Schritte weiter. Natürlich kann ich auch wieder alles schön singen, aber es ist immer diese Bewußtmachung.
Was mich auch noch interessiert, ist, da du ja auch Cello spielst und auch Campanula, würdest du sagen, du kannst dich mehr in die Interpreten einfühlen, weil du selber auch Musiker bist? Und bist vielleicht auch, wie soll ich sagen, vielleicht nicht so streng oder weißt wie man das verpacken muß, damit der Andere das vielleicht auch gut annehmen kann und wirklich, ich sag mal, über sich hinauswachsen kann und nicht sich irgendwie so gehemmt fühlt: Oh Gott, da sagt jetzt der Komponist lauter Sachen und eigentlich kann ich jetzt gar nichts mehr und bin ganz eingeschüchtert.
MD Ja, das glaube ich in jedem Fall! - früher war das ja der Normalfall. Der Interpret war ein Komponist und der Komponist war auch ein Interpret: Beethoven, Chopin, wer auch immer. Das hat sich ja erst so im 20. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so ein bißchen voneinander getrennt. Es gibt immer noch Komponisten, die auch Interpreten und auch gute Interpreten sind. Das gibt es schon, denke z. B. an so an jemand wie Heinz Holliger oder auch – was weiß ich – Jörg Wittmann als ein jüngerer Kollege. Das gibt es schon noch, aber es gibt auch das Spezialistentum Komponist. Ich bin ja in die Situation geraten, daß ich gar nicht Kompositionslehrer an einer Hochschule geworden bin, sondern an einer Hochschule nur Kammermusik unterrichtet habe. Was heißt ‚nur’?: Ich d u r f t e Kammermusik unterrichten. Ich glaube, es macht mindestens genauso viel Spaß und Freude, wie junge Komponisten auf ihrem Weg zu begleiten. Aber ich habe immer wieder auch mal private Kompositionsstudenten gehabt.
Meine Vorgabe ist immer, du mußt als Komponist, wenn du etwas schreibst, es selber darstellen können. Also du darfst eine rhythmische Komplexität, die du selber nicht mehr in der Lage bist darzustellen, nicht einfordern. Denn wenn der Musiker sagt, das kann man nicht spielen, dann mußt du ihm zeigen können, wie es geht. Nur dann hast du gute Karten.
Man lernt als Komponist beim Musikmachen, beim eigenen Musikmachen unendlich viel. Ich kann ein Mozart-Streichquartett oder auch ein Streichquartett von Nono analysieren. Ich kann Noten lesen, und für einen Nono braucht man vielleicht etwas länger bei der Lektüre, als bei einem Haydn- oder Mozart-Streichquartett. Aber wenn man dann das, was man theoretisch erfasst hat, in Klang umsetzt, das ist noch eine ganz wesentliche und weitere Dimension, die sich da öffnet. Man erkennt als Interpret manche formalen Dinge sogar noch viel besser, als wenn man es nur theoretisch in der Analyse macht.
Und insofern ist mir das wichtig geblieben, immer noch Musiker zu sein. Bis jetzt betreibe ich das, ja, erst vor wenigen Monaten ist eine neue Solo-CD erschienen, auch ein paar Stücke mit Harfe oder Zuspielung sind dabei. Ich bin dankbar, daß ich so lange noch spielen kann und spielen konnte, auch sehr Unterschiedliches, alles an Repertoire von vor-bachscher Musik bis eben zu vielen Uraufführungen. Natürlich mußte ich manchmal auch Musik spielen, bei der ich merkte, der Komponist hat leider nicht ganz so viel Ahnung von dem, was wirklich möglich oder nicht möglich ist. Das ist mir Gott sei Dank selbst nie passiert.
Man ärgert sich manchmal als Interpret, auch als der, der alles spielt, daß etwas unnötig verkompliziert notiert wurde. Man kann, man sollte immer versuchen, eine klare Notenschrift zu nutzen. Es gibt manchmal Notwendigkeiten, von der herkömmlichen Notenschrift abzuweichen, aber eigentlich kann man alles mit Erweiterung der klassischen, überlieferten Notenschrift notieren. Wenn man da erst ein riesiges Buch lesen muß, um zu wissen, was das und jenes zu bedeuten hat (das mag in Fällen wie bei Lachenmann wirklich notwendig sein), manchmal wird dann die Sache völlig unnötig kompliziert.
Für mich ein Beispiel, so ein Fall: Présense von Bernd Alois Zimmermann, dieses Klaviertrio. Da hat Zimmermann weiße Tasten mit weißen Noten und schwarze Tasten mit schwarzen Noten notiert. Das bringt derart viel Verwirrung beim Einstudieren und es wäre nicht nötig. Aber ich könnte mir denken, es gibt inzwischen einen Umschritt in eine ganz herkömmliche Art der Notation.
IK Ich glaube, da geht es auch in den praktikablen Bereich. Natürlich können wir auch irgendwelche neuen Notenschriften lernen, aber ich denke halt auch immer, wenn man das nimmt, was es schon gibt und damit klarkommt, mache ich es halt dem, der es lernt, auch leichter, weil ich nicht erst drei Wochen irgendwie eine neue Notenschrift lernen muß. Für mich gab es auch so einen Aha-Moment vor vielen Jahren. Ich wußte zwar schon immer, daß ich Berios Sequenza einstudieren will. Ich glaube, ich wußte es schon mit 14. Und dann habe ich sie tatsächlich irgendwann, ich glaube sogar, daß Du in dem Konzert warst, irgendwann in Köln, ich weiß nicht, 2011 oder so, aufgeführt.
Ich habe sie nach dem Studium gelernt, obwohl ich sie immer machen wollte, ich hatte die Noten schon ewig, ich habe sie aber immer von mir her geschoben, weil, wenn man die Noten aufschlägt, wird man erst mal mit zwei Seiten Legende erschlagen. Und dann habe ich die immer wieder zugemacht und dachte mir, also jetzt so nur als Freizeitvergnügen probiere ich das nicht. Dann kam tatsächlich der konkrete Auftrag mit Konzert, gleich mit Mitschnitt, also richtig gefordert. Das heißt, ich mußte. Dann habe ich mich mit diesem Stück natürlich beschäftigt; mittlerweile ist es Teil meines Repertoires, ich mache es auch sehr gerne.
MD Auch ein lohnendes Stück, muß man immer wieder sagen.
IK Das sowieso!
MD Wenngleich es natürlich in der Interpretation von Cathy Berberian bei Berio so besetzt, das ist eine singuläre Interpretation! - Ich weiß nicht, wie du es machst, aber ich würde denken, man darf sich heute gar nicht zu sehr daran orientieren.
IK Gar nicht.
MD Das ist auch richtig so.
IK Der Witz ist aber, und deswegen erwähne ich genau dieses Werk, wenn man das gemacht hat, und das ist auch meine Empfehlung an jeden Sänger, egal ob Mann oder Frau, der irgendwie da weitermachen will, ich habe mich da durchgearbeitet, durch diese Legende, ich habe das dann mehrfach gesungen, und ein Großteil dieser Notation ist geblieben, so wie die klassische Notation.
Das heißt, ich habe festgestellt, daß ich danach so viele neue Musikstücke singen oder aufführen konnte, weil sich alle danach ausgerichtet haben. Und das ist dann dieses Praktikable, wenn man sich irgendwie darauf verständigt, okay, mach es so und erfinde nicht schon wieder ein neues Bildchen, weil du machst das so einfacher. Und das Coole ist ja, am Schluß – sage ich immer – geht es ja darum, daß ich dann die Musik mache oder das darstelle und nicht, daß ich irgendwie in der Organisation hängen bleibe. Und da sage ich auch immer, mach es doch einfach. Und wenn es geniale Notationen gibt, nimm die bitte.
MD Ich meine, es wird manches, was irgendwo zum ersten Mal auftaucht, dann tatsächlich, wie du es selber gut beobachtet hast, einmal Standard. Und das ist gut so. Selbst in den sogenannten Notenschreibprogrammen, Sibelius etwa, Finale oder welches Programm auch immer, da sind ja bestimmte Dinge davon auch schon drin. Und da ja inzwischen die jüngeren Komponisten, die schreiben ja kaum noch von Hand, sondern arbeiten gleich mit Sibelius oder Finale, kommt allein dadurch schon, weil dort alles standardisiert ist, eine Vereinheitlichung bei neuen Werken zustande. Man muß die Möglichkeit haben, wenn man etwas im Sinn hat, wofür es noch keine plausible Notation gibt, dann halt selber etwas zu erfinden. Aber auch ansonsten, wie Space-Notation funktioniert und so weiter, das weiß eigentlich inzwischen jeder. Da hilft natürlich, daß bestimmte Symbole und bestimmte Zeichen irgendwann Standard werden und man nicht wieder neue Legenden lesen muß: Ist das jetzt ein Dreiviertelton, ist das ein Viertelton, der da gemeint ist?
IK Genau. – Du hast ja, wir haben es ja schon erwähnt, auch für Stimme geschrieben. Ich bin immer neugierig, wie das für dich ist. Fällt dir das leicht? Oder sind das Herausforderungen?
MD Mit Stimme oder Gesang ist es etwas ganz Seltsames. Ich habe eigentlich relativ spät erst zum Gesang gefunden. Und heute ist mir Gesang sehr wichtig.
Ich finde es so bedauerlich, daß, was weiß ich, ein Liederabend, egal ob mit Schumanns Dichterliebe oder auch die Winterreise von Schubert, kaum noch einen Konzertsaal füllt. Es ist eine so wunderbare Gattung, wie soll ich sagen, Oper in Kleinstformat, aber noch viel intensiver. Daß Liederabende nur noch so wenig wahrgenommen werden, finde ich extrem bedauerlich!
Ich habe einen ganz großen abendfüllenden Liederzyklus geschrieben. Schönste Lieder heißt der. Es sind 52 kurze Lieder. Du hast ja ein paar, fünf davon gesungen. Der ist bisher nicht komplett aufgeführt worden, ungefähr ein Viertel davon ist noch gar nicht gesungen worden. Weil Veranstalter kaum noch den Mut haben, so etwas unterzubringen in ihre Reihen. Daß Gesang am Anfang für mich eher ein rotes Tuch war, wo ich mich zurückhalten wollte, lag daran: mein Vater, der als Schuhmusiker damals natürlich auch Kompositionsunterricht gehabt hat bei Hermann Schroeder, er hat so für den ‚Hausgebrauch’, wie er selber mal sagte, viel Chormusik so im Stile von Jarnach und Distler geschrieben. Also Chor und Gesang war im Haushalt durch meinen Vater besetzt und deswegen wollte ich mich da zunächst heraushalten.
Und tatsächlich sind dann erst relativ spät die Heindrichs-Lieder entstanden. Sie waren eigentlich im Grunde mehr oder weniger das Erste, was ich überhaupt für Gesang schrieb. Es gibt nur drei Lieder auf schlesische Volksliedtexte, die ich zuvor komponiert habe, eine kleine private Gelegenheitsarbeit.
Jedenfalls heute spielt Gesang für mich eine große Rolle und ich finde die menschliche Stimme, das nächstliegende Instrument, das wir überhaupt haben, wunderbar! Ich kriege Gänsehaut, wenn ich jetzt nur mal so „Sopran“ und „Nono“ sage. Was mit Stimme an Ausdruck möglich ist, finde ich beeindruckend. Ich kann leider nicht singen … dafür kann ich auf dem Cello singen … würde mich aber nie als Sänger bezeichnen.
Es gibt weiteres, auch für mehrere Stimmen, ein Chor, als letztes drei Shakespeare-Lieder für fünf Stimmen
IK Und du hast ja jetzt sogar die Greguerias geschrieben, die ich ja auch wieder singen darf. Das ist ja sogar nur Stimme alleine, da ist gar nichts dabei, außer daß ich noch lustige Utensilien betätigen darf.
MD Ja, da gibt es einen Klavierstuhl und diverse Haushaltsgegenstände, die zum Einsatz kommen. Diese Texte sind ja, wie soll ich sagen, diese Greguerías (von Ramon Gomez de la Serna) sind eine neue literarische Form, die er erfunden hat, der Dichter. In ihrer Knappheit, haben sie auf der einen Seite fast etwas vom Haiku, aber sie sind keine echten Haikus. Es ist Weltbeobachtung mit der Lupe. Und sie haben immer einen sehr hintersinnigen Witz.
IK Und weil die so auf dem Punkt sind, hattest du dann auch die Idee, das für Solo-Stimme zu schreiben?
MD Ja, da brauche ich jetzt gar nicht unbedingt großartig was anderes. Das kann einer alleine machen. Die Idee ist ja, noch eine weitere Folge zu schreiben. Ich wollte ein weiteres Set mit 22 und eventuell dann auch im Original auf Spanisch gesungen, für Bariton oder Tenor und Kontrabaß schreiben. Also auch dabei ganz spartanisch in der Instrumentalbegleitung. Ich weiß nicht, ob das noch zustande kommt.
IK Ich hatte jetzt kürzlich letzten Herbst auch das Glück, endlich, das stand auch schon lange auf meiner Wunschliste, nicht alle, aber viele Kafka-Fragmente von Kurtág aufgeführt. Und ich merke jetzt, weil die auch so genial auf dem Punkt sind, also die machen so viel Spaß, wo ich auch sage, das sollte jeder mal gemacht haben, ist auch technisch spannend. Also selbst für eine klassische Sängerin finde ich die cool. Und ich merke jetzt, weil ich auch wieder ein bißchen dran bin, immer mal schon wieder in die Greguerías rein zu gucken, daß das was mit mir gemacht hat, den Kafka jetzt auch mal gemacht zu haben. Und das macht so Spaß!
MD Ich bin ja seit 1989 mit ihm befreundet, mit György, und bewundere, daß er jetzt, obwohl er mir damals vor noch nicht so langer Zeit sagte, die Oper Endspiel wird auch sein Endspiel sein, doch noch wieder an einer Oper-Szene arbeitet. Er wird in wenigen Tagen 99 ! Vier Wochen sind das, glaube ich, jetzt noch hin.
Es gibt einen Zyklus, den ich dem György gewidmet habe, das war damals zu seinem achtzigste Geburtstag: Silence, et puis - 17 Duras-Fragmente. Das ist in mehrfacher Hinsicht, auf Kurtág bezogen, es sind Fragmente wie die Kafka-Fragmente, auch ein Streichinstrument und eine Stimme, es sind aber nicht Sopran und Geige, sondern Mezzosopran und Viola. Das ist mir auch ein wahnsinnig wichtiger Zyklus, den die Mechthild Georg ganz großartig mit dem Vincent Royer aufgeführt hat. Und die Greguerías setzen im Grunde genommen letztendlich diesen Gedanken fort, von der Gesangsstimme auszugehen, mit kleinen Beigaben, welcher Art auch immer. Bei den Duras-Fragmenten geht es eigentlich um die essentiellen Dinge des Lebens: Liebe, Geburt, und vor allem auch Tod. Am Ende ihres Lebens sind diese Texte entstanden.
Die Greguerías, die spiegeln sozusagen mit Weitsicht alle Aspekte, auch die humorvollen Aspekte der Lebensumstände eines jeden, und Beobachtungen von Dingen und Situationen, die man täglich sieht und plötzlich bemerkt: ach ja, stimmt, habe ich nur noch nie so gesehen. Ganz wunderbare Texte! Ich nenne sie zwar nicht ein Gebetbuch, aber so ein Buch, das ich immer wieder gerne mitnehme, um mich inspirieren zu lassen.
So habe ich das Buch wieder mal mitgenommen, als ich mich 2019 in Paris zurückziehen konnte, um dort ungestört zu arbeiten. Es stand an, ein Sextett zu schreiben für ein Konzert mit dem Duo Smeyers-Zelinski und dem Asasello-Quartett, ein Sextett für Streichquartett und zwei Klarinetten. Da wollte ich dort reinkommen in der Zeit. Und dann las ich - so mein Ritual, wenn man kein Programm hat, sondern wirklich nur für sich ist, keine Ablenkung, welche Art auch immer - nach dem morgendlichen Kaffee zunächst ein bißchen in den Greguerías. Fast schon am ersten Morgen dachte ich mir: schreib jeden Morgen als Fingerübungen eine kleine Notiz, eine musikalische Miniatur für Geige. Der Impuls kam tatsächlich durch die Lektüre dieser kleinen Texte. Die stehen jetzt bei diesen acht kurzen Stücken nur am Ende unter den Noten, wie man das von Debussy auch kennt, wo vielleicht bildhafte Assoziationen im Nachhinein aufgerufen werden sollen. So hatte ich damit mal wieder Feuer gefangen, habe sozusagen zum ersten Mal tatsächlich eine musikalische Auseinandersetzung gewagt, wo der Impuls tatsächlich direkt daher kam, mich an den Schreibtisch zu setzen und Musik zu machen. Und dann dachte ich: jetzt sollte ich doch auch einmal ein paar vertonen.
Plötzlich war ich drin und in einem relativ kurzen Arbeitsprozeß sind 33 Texte ausgewählt und vertont worden. Ich glaube auch, mir ist gelungen, was ja gar nicht leicht ist, nämlich Heiterkeit in die Musik reinzubringen. Tragische Musik ist viel leichter zu schreiben als heitere Musik. Und meistens geht uns tragische Musik auch tiefer ans Herz als heitere Musik. Aber so eine ‚Serenitas“, wie man das auch bezeichnen könnte, wie wir sie zum Beispiel bei Haydn finden, der an vielen Stellen vom musikalischen Humor und Witz lebt, das ist wirklich eine ganz schwierige Disziplin. Das scheint mir, glaube ich zumindest, bei diesen Greguerías tatsächlich mal gelungen. Und György Kurtág, der hat ja bisher nur die Noten gelesen, war auch ganz angetan, als ich ihm das zeigte.
IK Also ich kenne dich ja auch eben schon eine ganze Weile und habe ja auch immer wieder so verschiedene Prozesse, teilweise aus der Ferne, teilweise näher beobachten können. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß du dich auch irgendwie gehäutet hast, daß manchmal der Stil vielleicht sogar schlichter wird. Und gleichzeitig hast du ja immer wieder so Sachen gemacht, wie du es jetzt auch erwähnt hast oder wie wohl auch diese Schönsten Lieder entstanden sind, daß du dir so Routinen, zugelegt hast die du dann irgendwie ein ganzes Jahr lang oder jede Woche oder so durchgehalten hast, du hast dich ja da immer irgendwie neu gefordert.
MD Ja, ich glaube, das hat mir auch gut getan. Ich weiß, wenn ich mich richtig erinnere, hast du in deinem Gespräch mit Walter Zimmermann das auch angesprochen, wo Walter auch mal versucht hat, so täglich zu schreiben. Ich weiß, er hat das auch eine Zeit lang durchgehalten, was er für sich als ideal angesehen hat. Und ich kann mich auch erinnern, er war sehr neugierig, meine Haupt- und Nebenwege zu hören, ein ganz langes, fast dreistündiges Klavierquintett. Als es beim Beethoven-Fest 2000 aufgeführt wurde, ist er extra angereist, um das zu hören, weil ihn wahrscheinlich zunächst nur allein die Idee so fasziniert hat, daß sich da jemand jeden Tag hinsetzt und ein Stück weiterschreibt. Ich habe diese sozusagen tagebuchartige Musik – das ist jetzt in den seltensten Fällen tagebuchartig in der Art, wie man als normaler Mensch ein Tagebuch schreibt – nur als Arbeitsprozeß so festgelegt.
Es gibt in der Tat eine ganze Reihe Jahresprojekte.
Das erste Jahresprojekt war das Klangtagebuch 1984, da habe ich mich hingesetzt und wollte jeden Tag einen Klang aufschreiben, der mir die Atmosphäre, meine Stimmung des Tages sozusagen kondensiert einfängt. So die ersten Jahre danach brauchte ich die Klänge nur zu lesen, und wußte sofort wieder genau, was an dem Tag gewesen ist. Das ist mit der Zeit natürlich verblaßt. Bei manchen Klängen weiß ich das heute aber noch immer, obwohl es jetzt schon 41 Jahre zurückliegt, was da an dem und dem Tag passiert ist. Ja, das war eines der ersten Jahresprojekte.
Dann kam Hebdomadaire, das sind jetzt bereits 35 Jahre her, 1990. Da habe ich – wenn ich das so mit dem Abstand des jetzt älteren Komponisten sehe, so genau auf der Lebensmitte, die es im Augenblick bildet, wahrscheinlich auch aus dem Bedürfnis heraus mal zu zeigen, was ich alles kann oder wie breit mein Spektrum der musikalischen Rede inzwischen gereift ist – mir vorgenommen, jede Woche ein Klavierstück zu schreiben und auch mit bewußter Beschränkung auf das Klavier. Es gibt da zwar auch in einem Heft Erweiterung mit Schlagwerk, aber sozusagen reduziert auf das, was ein Pianist mit zehn Fingern an der Tastatur bewerkstelligen kann. Ich wollte mal eine Art Kompendium meiner musikalischen Sprache schaffen. Es hat sehr viel Spaß gemacht, es hat mich gefordert, und es war gleichzeitig das Jahr, in dem unser Sohn geboren wurde, und ich glaube ein bißchen hat auch eine Rolle gespielt, daß ich in dem Moment mir selbst beweisen wollte, die Familie ist jetzt erweitert, aber das ändert nichts daran, es ändert dein kompositorisches Leben (hoffentlich) nicht. Also es war auch ein Versuch des Selbstbeweises, auch in seiner Vielgestaltigkeit. Es wäre jetzt eine Sendung für sich – es gibt glaube ich sogar eine Sendung darüber –, über die formale Anlage von Hebdomadaire zu sprechen. Tatsache ist: ich habe es geschafft, jede Woche ein Klavierstück zu schreiben.
IK Und was würdest du sagen passiert, wenn man so konsequent ist versus – keine Ahnung –wie du vielleicht andere Stücke komponierst, was ist da so dann der Unterschied?
MD Man kann nicht erwarten und hoffen, daß jedem Tag Geniales entsteht, das kann man nicht. Man bleibt aber im Rede- oder im Gedankenfluß. Und als ich mir vorgenommen habe, Haupt- und Nebenwege anzufangen – es war so eine Idee, die kurz vor Beginn eines neuen Jahres, also Ende 1997 gekommen war – war es zunächst nur ein Versuch.
Und so wie Walter sich auch gesagt hat, ich weiß nicht, ob ich das schaffe, habe ich mir das natürlich auch offen gehalten: ich gucke mal, ob das gelingt oder nicht gelingt. Aber ich wollte mich disziplinieren. Und egal, was am Tag anstand, irgendwann, und seien es nur 20 Minuten, dann entstand vielleicht nur ein Takt, oder wenn ich den ganzen Tag frei hatte, dann konnte vielleicht sogar eine Zeitstrecke von drei Minuten, wenn ich Glück hatte, entstehen, was tatsächlich mehrfach passiert ist. Also immer anknüpfend, das Gesponnene sozusagen auf einen gedachten, imaginären Faden, jeden Tag wie eine kleine Perle aufstecken, die zur vorherigen irgendwie paßt, dort anschließt und fortsetzt.
Anknüpfen und fortsetzen … was eigentlich, alles Komponieren überhaupt ausmacht: alles knüpft an, alles setzt fort. Ich setze die Arbeit meiner Kollegen, die vor mir komponiert haben, fort, und so weiter. Beethoven setzt Mozart fort, Brahms hat an Beethoven angeknüpft und, und, und … Hier war es jetzt mal in so einem kleinen, privaten Erlebnis, dieses Anknüpfen und Fortsetzen.
Manchmal saß ich nach Konzerten erst abends um elf im Hotelzimmer und hatte noch keine Note geschrieben, dann habe ich die letzte Stunde des Tages noch genutzt, irgendwas zu tun. Die Partitur war wirklich jeden Tag dabei und jeden Tag wurde daran gearbeitet. Natürlich war die Verführung groß, wenn ich das Gefühl hatte, jetzt stimmt es, wenn ein ganzer freier Tag war, konnte das schon morgens um elf Uhr passiert sein, zu überlegen, wie geht es morgen weiter? Aber ich habe es mir bewußt verboten, auch dann, wenn ich vielleicht in irgendeinem guten Schwung war.
IK Es verändert auch etwas in der Kreativität, wenn man sich so festlegt?
MD Ja, ich glaube, es verdichtet die Konzentration und die allgemeine Wahrnehmung. Da ist man mit 100 Prozent und vielleicht sogar 150 Prozent auf Empfang gerichtet. Alles was passiert, kann relevant sein. Auch die Bahnfahrt zum Konzertort. Alles kann Einfluß nehmen, wenn ich weiß, irgendwann heute am Tag wird für mich diese ‚heilige Zeit’ kommen, wo ich nur mit diesem Stück beschäftigt bin ...
IK Und wie ist es dann, wenn du nicht so gearbeitet hast? Ist es dann irgendwie auch befreiend: Ich muß jetzt nicht jeden Tag ein Stück schreiben?
MD Gute und interessante Frage. Also, ich habe es des Öfteren als Druck erlebt, wenn es ein Auftragswerk gab, der Abgabetermin immer näher rückte und noch nichts fertig oder vielleicht noch gar nichts Bestand hatte.
Es war einmal so bei einem WDR-Auftrag, da habe ich gedacht, ich muß ihn absagen. Ich war auch mal wieder in Paris, hatte angefangen und nach etwa acht, zwölf Seiten fertig gestellter Partitur lese ich durch und frage mich: was hast du hier Neues gemacht? Es ist nur ganz ordentliches Handwerk, aber was habe ich dabei Neues entdeckt? Ich habe alles in den Papierkorb geworfen und neu angefangen und innerhalb von drei, vier, fünf Tagen ist ein ganz neues Stück entstanden. Immer noch halte ich es für ein sehr gutes. Das ging es so schnell, daß man manchmal das Gefühl hat, jemand anderes führt meine Hand, nicht ich selber steuere das noch. Da war man in so einem – ja, ein Musiker kennt das auch manchmal – so einem Flow. Das sind ganz beglückende Momente! Ich konnte kaum so schnell schreiben, wie sich die Musik einstellte. Und so konnte ich das Stück dann noch gerade auf den allerletzten Drücker termingenau abgeben.
Ja, aber wie gesagt, ich empfand das eher als Druck und habe mir lieber den eigenen Druck gemacht durch solche Aufgabenstellungen. Vor allem, weil es dann ja nicht schlimm ist, wenn es nicht klappt.
Bei Haupt- und Nebenwege, bei diesem großen Klavierquintett war es eigentlich so, je länger ich fortgeschritten war, um so mehr hatte ich das Gefühl: lieber Gott, gib mir die Zeit, das möchte, das muß ich noch unbedingt zu Ende bringen! Würde ich am Tag danach von der Straßenbahn überfahren werden, nähme ich es Dir nicht übel. - So ein bißchen bildhaft gesprochen. Ich will nur sagen, es hatte einfach eine Eigendynamik entwickelt, von magischer Kraft.
Bei mir gab es immer Phasen, wo ich dann mal zwei, drei, vier Monate gar nichts geschrieben habe und mich dann wieder drangesetzt habe. Es funktioniert nicht nur mit Auftrag. Ich habe auch Stücke geschrieben, die nicht irgendeinem Auftrag geschuldet waren, sondern einfach nur, weil plötzlich der innere Impuls dazu da war, das zu tun.
IK Ja, sehr spannend. Also es gibt ja so viel, was wir noch besprechen könnten. Ich meine, du kennst dich mit Haikus aus, du hast auch eine großartige Konzertreihe in Bonn gemacht. Da fand ich aber auch sehr bemerkenswert, nicht nur, daß du sie über Jahre gemacht hast, bis zur 100. Ausgabe, aber dann auch diese Konsequenz, das fand ich auch irgendwie sehr bemerkenswert: Jetzt ist Ende, …weil, es lief ja super, du hättest ja auch weitermachen können. Also daß du dann auch irgendwie merkst, jetzt ist etwas abgeschlossen oder ich mache wieder Raum für was Neues, das finde ich auch total klasse.
MD Ja, ich glaube, man muß als Komponist, aber auch als Veranstalter oder Kurator tatsächlich ein Gespür dafür kriegen, wo es jetzt richtig ist, aufzuhören.
Früher, das gilt vielleicht auch fürs Komponieren, früher, wenn ich ein Stück anfing, da mußte ich eigentlich schon, bevor ich anfing, wissen, wo es enden wird. Das könnte ich überhaupt nicht mehr, das kann ich schon lange nicht mehr. Ich begebe mich auf den Weg, gucke und weiß noch nicht, wo ich enden werde. Und das macht das Ganze sehr spannend. Aber irgendwann merkt man, es geht jetzt auf ein Ende zu. Und wenn man das spürt, dann muß man dem auch nachgeben. Und witzigerweise, ich könnte fast sagen, wenn zwei Drittel geschrieben sind – da weiß man in dem Moment, wo man schreibt, aber noch nicht, daß das letztendlich dann zwei Drittel sein werden – wenn etwa zwei Drittel fertig sind, dann spürt man, wo das Ende sein wird.
Natürlich hätte ich die Reihe „WortKlangRaum“ noch weitermachen können, die Ideen wären mir nicht ausgegangen. Ich bin auch gefragt worden, das weiter zu machen. Aber wo dann enden? Ich möchte nicht, daß die Reihe endet, wenn ich plötzlich nicht mehr kann. Sondern ich wollte, daß auch diese Reihe einen schönen runden Bogen ergibt.
Wir hatten ja erst einmal nur 8 Veranstaltungen geplant für ein Jahr lang. Dann war die Begeisterung aber so groß, daß man mich gebeten hat, ein weiteres Jahr zu gestalten Was zwei Jahre im Rheinland läuft, ist schon Tradition, und so ging es erst mal weiter, und schließlich hatte ich zugesagt: wir machen 50 Veranstaltungen.
Bei der 50. Veranstaltung, die hatte einen wunderbar riesigen Zulauf von Menschen. Wir konnten fast kaum alle unterbringen. Und auch von der Presse wurde das nett begleitet. Da habe ich mich dann bereit erklärt, okay, wir gehen auf die 100 zu. Ich verspreche nochmals 50 Ausgaben.
IK Aber ich finde auch dieses Aufhören, das ist ja auch eine große Gabe. Weil manche Leute können das ja gar nicht.
MD Ja, das ist richtig. Jetzt im Nachhinein sehe ich noch mehr, noch viel mehr, wie richtig es war, in diesem Moment aufzuhören.
IK Du kannst dann ja immer noch was Neues starten.
MD Ja, ja. - Ich mache inzwischen ganz andere Dinge, habe jetzt innerhalb von drei Jahren drei Ausstellungen kuratiert. Zwei hatten etwas mit Musik zu tun, die letzte vor einem halben Jahr aber gar nicht mehr.
Die Zeiten ändern sich im Augenblick. Das wirst du vielleicht auch als Interpretin spüren. Wir leben in einer Umbruchzeit, wobei ich leider die Sorge habe, daß das Bewußtsein von und für Kultur auf erschreckende Weise nachläßt, deren Bedeutung und Wichtigkeit für viele scheinbar nicht mehr relevant zu sein scheint. Was mich wirklich traurig macht. Diesen schleichenden Untergang möchte ich eben nicht miterleben.
Und deswegen ist es immer besser, im richtigen Moment abzuschließen.
Ich habe ja auch im Jahr 2000 - das waren dann nur 50 Konzerte – mit der Pianistin Susanne Kessel zusammen eine Konzertreihe gemacht, einen Rückblick über das 20. Jahrhundert, aus jedem Jahr ein Klavierstück ausgesucht. Da war die interne Vorgabe, wir machen einen Rückblick, und wenn man in jedem Konzert zwei Stücke spielen läßt, dann ist das nach 50 Konzerten im Wochenrhythmus einfach zu Ende.
Nach 20 Jahren kriegten wir Mails, könnt ihr nicht jetzt die letzten 20 Jahre noch nachtragen? Nein, das ergibt keinen Sinn. Das ist so für sich eine schöne Runde Sache gewesen.
Wenn man wie beim „WortKlangRaum“ weiß, man will auf die 100 zugehen, dann richtet man auch die jeweiligen Motti dahingehend aus. Du weißt, es hatte jeder Abend ein Motto, wozu ich zunächst erst einmal die Musik und danach auch die Texte, die sich miteinander bespiegeln oder Synapsen bilden sollten, ausgesucht habe. Und so habe ich als letztes Motto „final“ gewählt, nach „genial“ und „vital“. In jedem Jahrgang gab es bestimmte andere Spielregeln. Zum Beispiel im Beethoven-Jahr, das dann ja in der sogenannten Corona-Krise leider sehr ‚kulturfern“ ablief. Da hatten wir am ersten Abend „umschlungen“ – natürlich denkt man sofort an Beethoven. Das Wort „um“ geisterte durch alle Motti, bis hin zu „drumherum“, und es „drumherum“ um Beethovens Große Fuge ging.
IK Ich geh jetzt mal rein, weil ich glaube, ich will noch andere Sachen von dir wissen. Und ich glaube, es lohnt sich auch auf jeden Fall, sage ich an dieser Stelle auch, auf deine Webseite zu gehen, denn die ist auch sehr umfangreich. Da kann man das alles finden.
Was ich mich aber auch immer frage, wenn man so viele Interessen und Begabungen hat wie du, wie kriegt man das unter einen Hut? Wie strukturierst du deinen Tag oder strukturierst du ihn überhaupt oder wie schaffst du das alles?
MD Habe ich nie drüber nachgedacht. Ich habe einfach gemacht. - Nun gut, ich glaube, ich bin ein Cellist, der mit dem geringsten Überaufwand das Konzertexamen gemacht hat. Ich habe nie länger als drei Stunden geübt, nie, auch während meines Studiums. Ich weiß, manche Kollegen haben damals sieben, acht Stunden geübt. Vielleicht hat mir da meine Begabung, mein Talent geholfen, das zu können. Ich glaube sogar, meine Cello-Schüler konnten davon profitieren. Ich habe gelernt, in möglichst kurzer Zeit möglichst effektiv zu arbeiten. Und das gilt beim Üben, was ja nur eine nachschöpferische Arbeit ist, besonders. Es sind vornehmlich mechanische, natürlich auch andere Vorgänge, aber jedenfalls ist stets die Frage, wie man arbeitet, daß man sich gleich beim ersten Einstudieren sofort Notizen macht, Fingersätze, Bogenstriche und so weiter. jedenfalls nicht Zeit verplempert. Und das habe ich vielleicht auch in anderen Dingen angewandt,
Ich habe viele Interessen. Die Literatur spielt mindestens eine genauso große Rolle. Ich bin jetzt, nachdem ich nun im Ruhestand bin, in der glücklichen Lage, noch mehr lesen zu können als früher. Ich hätte gerne zwei Leben gehabt, solange ich noch in allen Bereichen aktiv war, Zwei Leben: eines für die Literatur und Kunst und das andere für die Musik, nur dafür. Das geht auch zusammen, es befruchtet sich ja gegenseitig. Von da aus bin ich ganz glücklich. Natürlich wird, auch im Nachhinein, die Musik sicherlich die wichtigste Sparte bleiben.
IK Genau, also ich finde es auch super, das mit der Musik, und diese unglaubliche Neugierde, die du hast. Und wenn du jetzt auch über so alles blickst oder auch zurückblickst, was bedeutet für dich Erfolg?
MD Ja, ich glaube, jeder Künstler wünscht sich in irgendeiner Weise Erfolg. Erfolg bemißt sich natürlich auch daran, wie man wahrgenommen wird, ob man wahrgenommen wird. Es gibt Komponisten, oder Komponistinnen, ja vor allem diese, denen das scheinbar nicht so wichtig ist. Der letzte Fall, für mich eine Neuentdeckung: Wußtest du, daß Yvonne Loriod, die Frau von Messiaen, komponiert hat? Ganz beachtliche Sachen. Das wird jetzt erst entdeckt. Das ist eine der letzten, großartigen neuen Entdeckungen! Da wird der Erfolg posthum kommen.
Es gibt Komponisten, die stehen zu ihren Lebzeiten in der allgemeinen Wahrnehmung eher im Schatten. Nicht daß ihre Namen nicht mal aufgetaucht sind, aber die eigentlich erst posthum wirklich entdeckt wurden. Selbst Schubert ist eigentlich umfassend erst viel später entdeckt worden. Oder Nancarrow, er hat es gerade noch miterleben dürfen, wie plötzlich der Weltruhm kam. Das kann man aber nicht wirklich steuern. Natürlich hätte jeder gerne eine Resonanz, sei es durch gute Besprechungen, durch viele Aufführungen und so weiter.
Mir ist fast am wichtigsten, wenn ich spüre, daß die Kollegen, die Künstler, die mir selber sehr viel bedeuten, mit denen ich befreundet bin oder die ich schätze, wenn ich da eine gute, positive, begeisterte Resonanz bekomme.
Ich erinnere mich noch an Hans Otte, der ja ganz andere Musik schrieb als ich. Wir waren uns aber freundschaftlich zugetan, haben immer wieder Kontakt gehabt. Als er mein Haupt- und Nebenwege gehört hat, hat er mir geschrieben, einen ganz langen Brief und er hat gesagt, er hätte eine derartige Liebeserklärung einem Kollegen noch nie gemacht, er müsse es einfach loswerden. Für ihn war das eines der genialsten Werke. So hat er es mir gesagt.
Oder auch: mich freut jede positive Reaktion von György, wenn ich ihm etwas Neues schicke in Aufnahme oder auch nur die Partitur. Da weiß ich, das sind kompetente Menschen, die tatsächlich irgend etwas bei mir entdeckt haben, was sie anspricht.
Natürlich wird es mir jetzt wahrscheinlich, glaube ich jedenfalls, nicht noch mal passieren, wie es in meiner jugendlichen Phase des Komponierens geschah, daß ich in Dresden dreimal die Philharmonie voll bekomme, volles Haus, über tausend Leute jedes Mal. Das war aber zur Zeit, als es noch den ‚eisernen Vorhang’ gab, wo jeder, der aus dem Westen in der DDR auftrat, per se schon erst einmal interessant war. Gut, aber das ist nicht das Wichtigste.
Ich glaube sogar fast, ich bin der schärfste Kritiker meiner selbst. Wenn ich, wenn die Musik, die ich da in die Öffentlichkeit freigebe, wenn ich das gut finde, dann ist das auch ein Erfolg. Ich habe zwar viel geschrieben, aber weiß Gott oft mit Zweifeln und Selbstzweifeln, und zu kämpfen gehabt, aber wenn ich dann weiß – das weiß man in ganz gelegentlichen Fällen nicht sofort, es braucht manchmal ein bißchen Zeit –, es stimmt so, dann ist das auch für mich ein Erfolg. Wenn ich selber sehe, es hat alles Hand und Fuß.
Und ich meine, jedes neue Werk muß sich ja im Umfeld und mit dem messen, was es an genialen Meisterwerken schon gibt. Und es gibt unendlich viele musikalische Meisterwerke. Ich kann sie gar nicht aufzählen. Wenn man nur in eine Gattung schaut, Streichquartett, da wimmelt es nur so von Meisterwerken! Wenn man selber ein Streichquartett schreibt, muß das daneben Bestand haben. Und wenn einem das gelungen ist, das ist auch ein Erfolg, ein privater Erfolg, ganz privater. Und der ist auch nicht unwichtig.
IK Auf jeden Fall. Wir sind jetzt auch bei der letzten Frage angekommen. Da möchte ich gerne von dir wissen, welchen Tipp möchtest du jungen KünstlerInnen geben?
MD Das schließt eigentlich ganz gut daran an, was ich jetzt eben gesagt habe. Die Selbstkritik ist sehr wichtig. Aber zunächst mal: alle Sinne offen, in alle Richtungen, auch in alle künstlerischen Disziplinen. Neugierig bleiben: Was passiert da? Was gibt es dort? Sich auch mit Dingen beschäftigen, die ganz weit zurückliegen. Die können nämlich eine enorme Energie auch für das eigene Schaffen bringen, wenn man sich damit auseinandersetzt.
Also nochmals: nach außen alle Sinne offen halten, aber gleichzeitig die Innenschau nicht vergessen, und vor allen Dingen auch die eigene innere Stimme hören! Und sich nicht verstellen, weil: angeblich schreibt man heute so, angeblich habe ich Erfolg, wenn ich das mache. Wenn ich aber jenes mache, wird mir das keiner abkaufen.
Nur so kann eine ureigene, ganz persönliche Handschrift entstehen. Das ist das Wichtigste.
Es gibt viele Stücke, die sind austauschbar. Da kann man nicht die Handschrift des Komponisten erkennen, oder weiß allenfalls, es ist wohl in den 60er-Jahre geschrieben. Manche pseudo-seriellen Stücke klingen völlig austauschbar. Damals wurde so geschrieben. Das hat mich nie interessiert.
Natürlich habe ich mich mit allen Stilrichtungen und allen Entwicklungen der Musik beschäftigt. Und das sollte man eben, wie gesagt, als junger Komponist auch tun. Dann, wenn die Selbstkritik nicht selbstzerstörerisch, dafür aber kreativ ist, dann kann was werden … Dies würde ich auf jeden Fall meinen jüngsten Kollegen gerne mit auf den Weg geben.
IK Ich danke dir sehr. Ich danke dir sehr für dieses Gespräch und daß du heute zu mir nach Düsseldorf gekommen bist.
MD Ja, gerne natürlich. Ich fand es auch ein spannendes Gespräch. Man kann natürlich immer über die eigene Musik oder über die Kunst im Allgemeinen reden, aber spannend wird es ja erst dann, wenn man mit einem Gegenüber auf bestimmte Dinge eingeht. Dann werden Dinge plötzlich aufgerufen, die man fast vergessen hatte, wie jetzt eben mit Bialas, die Todesnachricht. Oder auch die Frage, die ich immer noch nicht untersucht habe, ob es inzwischen eine Notenausgabe von Présence in der herkömmlichen Notenschrift gibt. (Ich habe eine Partitur zu Hause, das ist natürlich die damalige von Schott, als es ganz frisch war.) Dann entdeckt man in so einem Gespräch auch selbst noch etwas. Dann war es ein gutes Gespräch.
IK Danke.
Das Gespräch fand am 22. Januar 2025 in Düsseldorf statt. Es wurde für eine geplante Teilveröffentlichung in einem Magazin – dezent in den originalen Wortlaut eingreifend – in Schriftform gebracht
|