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NEUE MUSIK LEBEN

Podcast Folge 253 – (18. 3. 2025)

 

Irene Kurka im Gespräch mit Michael Denhoff

(Auszug für MATRIX, Heft 2025/4)

 

 

Irene Kurka

Lieber Michael, ich möchte von dir wissen, wie du eigentlich zur ‚Neuen Musik’ gekommen bist.

 

Michael Denhoff Ja, die Frage nach den Anfängen, die stellt man sich, je älter man wird, vielleicht sogar noch eher als im normalen Betrieb des Nach-Vorne-Gehens.

Zunächst: ich bin in einem musikalischen Haushalt groß geworden. Meine Eltern waren beide Schulmusiker und ich habe vier jüngere Brüder, die alle auch den Musikerberuf eingeschlagen haben. Wir sind alle ganz früh ans Musikmachen herangeführt worden.

Wie damals fast jedes Kind habe ich mit vier Jahren mit der Blockflöte anfangen müssen. Dann kam mit etwa sechs Jahren das Klavier hinzu, Und mit zehn Jahren begann ich Cello zu spielen, was letztendlich mein Hauptinstrument geworden ist.

Zu meinen ganz frühen Erinnerungen gehört auch, daß das Spielen der Musik von Bartók bei mir den Wunsch hat aufkommen lassen, selbst so etwas wie Komponieren zu versuchen. Und mir geht es eigentlich bis heute so: wenn ich Stücke von Bartók höre, wird mir einfach auf nicht erklärliche Art und Weise sehr warm ums Herz. Es ist eine unheimlich menschliche und im besten Sinne großartige und schöne Musik. Daran habe ich mich zunächst orientiert.

 

IK Also es war vieles früh erkennbar, viel Neugierde, viel Musik im Haushalt. Und dann hast du wahrscheinlich auch ein Musikstudium begonnen; gleich Komposition oder erst einmal Cello?

 

MD Ja, die Neugierde war tatsächlich unersättlich. Mit neun, zehn war es Bartók, dann so mit zwölf, dreizehn, vierzehn lernte ich die Musik von Stockhausen, Ligeti, Penderecki und die sogenannte Neue polnische Schule kennen; auch die imitierte ich in den eigenen Versuchen.

Mit Ende vierzehn wurde für mich Bernd Alois Zimmermann der Komponist, der alles zuvor Entdeckte in den Schatten zu stellen schien. Es führte – ich war da etwa 15 Jahre alt – zum Entschluß, bei Bernd Alois Zimmermann studieren zu wollen.

Ich kann mich noch heute genau an die Situation erinnern, wie ich vom Suizid Zimmermanns erfuhr: wir saßen als Familie am Abendessen-Tisch (damals gab es noch kein TV in unserem elterlichen Haushalt), und nebenan im Radio lief um sieben Uhr die WDR-Nachrichtensendung. Es war für mich in dem Moment eine schockierende Nachricht:

Ich konnte also nicht bei Zimmermann studieren. Es war mit einer der Gründe, weswegen ich mich nicht entscheiden konnte, welchen Lehrer ich als Komponist wählen sollte, als ich mein Studium 1973 in Köln bei Siegfried Palm als Cellist begann.

Nun muß ich dazu sagen, und das gehört in meiner Biographie doch auch dazu, daß ich mit 13 Jahren glücklicherweise Günter Bialas kennengelernt habe, einen Komponisten, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Detmold, aber dann ziemlich bald in München, sicherlich einer der wichtigsten Kompositionslehrer in der Republik wurde. Nikolaus A. Huber, Heinz Winbeck, Peter Michael Hamel usw., ganz unterschiedliche Stilistiken an kompositorischen Persönlichkeiten waren alle bei Günter Bialas Studenten.

Er hat mich wirklich auf eine nette, väterliche Art, wirklich zutiefst menschlich zugewandt, sozusagen indirekt in seine Kompositionsklasse aufgenommen. Ich war nie offiziell eingeschrieben bei Bialas, aber in den ersten Jahren habe ich ihm immer meine neuesten Stücke gezeigt.

Da gab es ein Stück für Zwölf Streicher und Cembalo, das hatte ich mit 16 geschrieben.

Als ich es ihm zeigte – es war noch so ein bißchen in der Notationsweise wie Penderecki –, hat er sanft, aber deutlich Kritik geäußert, sodaß ich – und das ist nie wieder in meinem Leben passiert – von dem Stück nur 20 Prozent übrig behalten und 80 Prozent neu komponiert habe. Und da war er dann offensichtlich sehr begeistert und hat dafür gesorgt, daß das Münchner Kammerorchester dieses Stück uraufgeführt hat. Ich glaube, ich war knapp 18, als sie das dann gespielt haben.

Das war für mich natürlich ein wunderbarer Glücksfall, so ein renommiertes Kammerorchester als Interpreten zu haben in so jungen Jahren, das hat mich damals schon sehr beglückt.

Ich verdanke Günter Bialas sehr viel und wir haben die weitere Zeit unserer Begegnungen immer mehr ein ganz gleichwertiges, gegenseitig interessiertes Gespräch miteinander geführt, wurden Freunde bis zu seinem Tod 1995.

 

IK Du hast ja auch mit so vielen Interpreten gearbeitet, und da bin ich auch immer neugierig: was schätzt du denn besonders an Interpreten?

 

MD Ich schätze an Interpreten, wenn sie mit einer großen Ernsthaftigkeit und einfühlender Genauigkeit versuchen, zunächst einmal den Notentext für sich zu erarbeiten, zu erschließen und die Intention des Komponisten, so weit ihnen das möglich ist, zu erfassen und darzustellen.

Erst einmal gibt es ja nur die ‚Geheimschrift’, die ein paar wenige lesen können auf dem Notenpapier, dann braucht es die, die diese dechiffrieren, entschlüsseln, diese ‚Geheimschrift’ in Klang übersetzen. Damit wird die Stimme des Komponisten hörbar, aber es wird auch die Welt des Interpreten damit hörbar. Er bringt ja seine musikalische Erfahrung mit. Der Interpret, wie gesagt, spielt eine ebenso wichtige Rolle wie der Komponist. Und dann kommt das letzte und wichtigste Glied: der Zuhörer. Diese drei machen das Erlebnis Musik aus.

Wenn dies passiert und beim Hörer möglicherweise ein feines Gänsehautgefühl ausgelöst wird, ist es das tiefgreifendste Glück für einen Künstler (ich denke gerade an Rilkes Gedicht An die Musik).

Wenn man merkt, mit meiner Art, Musik zu denken, kann ich die Leute, die Zuhörer in Bann ziehen, fesseln, sie für ein, zwei Stunden aus ihrer üblichen Welt in eine (vielleicht) Traumwelt, aber auf jeden Fall eine völlig andere, neue, offene Welt der Imagination, der Schönheit, möglicherweise auch des Schreckens, entführen, ist das ein besonders eindringliches Erlebnis.

Und genau das schätze ich, wenn Interpreten dies gelingt.

Es gibt aber, und ich muß das leider aus eigener Erfahrung bestätigen, auch Interpreten, die diese Sorgfaltspflicht nicht walten lassen und denken, bei neuer Musik kommt es ja nicht so genau darauf an, es merkt ja sowieso keiner, wenn ich nur halbwegs die richtigen Töne spiele.

Ich glaube, der Interpret neuer Musik hat eine noch viel größere Verantwortung gegenüber der Musik, die er dem Publikum nahe bringen will. Wenn ein Pianist eine Mozart-Sonate schlecht spielt, dann ist er für’s Publikum ein schlechter Pianist. Wenn aber ein Pianist ein Stockhausen Klavierstück schlecht spielt, dann denken die Leute, es ist ein schlechtes Stück. Deswegen meine ich, die Verantwortung ist sehr groß.

 

Meine Erfahrung grundsätzlich ist, daß Interpreten – und mit denen habe ich eigentlich fast immer bevorzugt gearbeitet –, die das gesamte Repertoire der Musikgeschichte verinnerlicht und sich damit auseinandergesetzt haben, wenn sie z.B. ein spätes Beethoven-Streichquartett hervorragend interpretieren, werden sie mit gleichwertiger Sorgfalt und Emotion auch ein Streichquartett von mir aufführen.

Meine Erfahrungen beispielsweise mit dem Auryn-Quartett oder auch dem Artemis-Quartett und erst jüngst mit dem jungen Eliot-Quartett waren von dieser Art, da fühlte ich mich immer in allerbesten Händen.

 

IK Was mich auch noch interessiert, ist, da du ja auch Cello spielst und auch Campanula, würdest du sagen, du kannst dich mehr in die Interpreten einfühlen, weil du selber auch Musiker bist? Und bist vielleicht auch, wie soll ich sagen, vielleicht nicht so streng oder weißt wie man Kritik verpacken muß, damit der Musiker das vielleicht gut annehmen kann und wirklich, ich sag mal, über sich hinauswachsen kann.

 

MD Ja, das glaube ich in jedem Fall. Früher war das ja der Normalfall. Der Interpret war Komponist und der Komponist war auch Interpret: Beethoven, Chopin, Rachmaninow, wer auch immer. Das hat sich ja erst so in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ein bißchen voneinander getrennt.  Es gibt immer noch Komponisten, die auch ausgezeichnete Interpreten sind, so wie etwa Heinz Holliger. Aber es gibt auch das Spezialistentum Komponist, reine ‚Schreibtisch-Täter’.

Meine Vorgabe ist stets gewesen: du mußt als Komponist, wenn du etwas schreibst, es selber darstellen können, du darfst eine rhythmische Komplexität, die du selber nicht mehr in der Lage bist, darzustellen, nicht einfordern. Denn wenn der Musiker sagt, das kann man nicht spielen, mußt du ihm zeigen können, wie es geht. Nur dann hast du gute Karten bei deinen Interpreten.

Bei mir hat es sich ergeben, daß ich gar nicht Kompositionslehrer an einer Hochschule geworden bin, sondern an einer Hochschule ‚nur’ Kammermusik unterrichtet habe, unterrichten durfte. Das macht mindestens genauso viel Freude, wie junge Komponisten auf ihrem künstlerischen Weg zu begleiten. Aber mich haben immer wieder auch private Kompositionsstudenten aufgesucht.

 

Man lernt als Komponist beim eigenen Musikmachen unendlich viel. Ich kann ein Mozart-Streichquartett oder auch eines von Nono analysieren und bei der Lektüre theoretisch erfassen, aber die Musik praktisch in Klang umzusetzen, öffnet noch eine weitere und ganz wesentliche Dimension. Man erkennt als Interpret manche formalen Aspekte sogar noch viel besser, als es die nur theoretische Analyse ermöglicht. Und insofern ist es mir wichtig geblieben, immer noch Musiker zu sein.

 

Man ärgert sich zwar manchmal als Interpret, daß etwas unnötig verkompliziert notiert wurde. Man kann und man sollte immer versuchen, eine klare Notenschrift zu nutzen. Natürlich gibt es immer wieder mal die Notwendigkeit, von der herkömmlichen Notenschrift abzuweichen, aber eigentlich kann man fast alles mit Erweiterung der klassischen, überlieferten Notenschrift notieren. Wenn man als Interpret zunächst ein mehrseitige Legende lesen muß, um zu erfahren, was dies und jenes Symbol zu bedeuten hat, wie es auszuführen ist (es mag in einigen Fällen wirklich notwendig sein), schreckt es selbst willige Musiker manchmal ab.

 

IK Ich glaube, da geht es auch in den praktikablen  Bereich. Natürlich können wir auch irgendwelche neuen Notenschriften lernen, aber ich denke auch immer, wenn man das nimmt, was es schon gibt und damit klarkommt, mache ich es dem, der es lernt, auch leichter, weil ich nicht erst drei Wochen irgendwie eine neue Notenschrift lernen muß. Für mich gab es aber so einen Aha-Moment vor vielen Jahren. Ich habe Berios Sequenza erst nach dem Studium gelernt, obwohl ich sie immer singen wollte, aber wenn man die Noten aufschlägt, wird man erst einmal mit zwei Seiten Legende erschlagen und ich dachte mir, nur als Freizeitvergnügen probiere ich das nicht. Dann kam tatsächlich der konkrete Auftrag mit Konzert, das hieß, ich mußte mich damit auseinandersetzen. Mittlerweile ist die Sequenza Teil meines Repertoires.

 

MD Auch ein sehr lohnendes Stück, muß man immer wieder sagen.

 

IK Das sowieso.

 

MD Wenngleich bei dieser Sequenza natürlich Cathy Berberian mit ihrer Interpretation Maßstäbe setzte: eine singuläre Interpretation! – Ich weiß nicht, wie du sie gestaltest, aber ich würde denken, man darf sich heute gar nicht zu sehr an ihrer Interpretation orientieren.

 

IK Der Witz ist aber, und deswegen erwähne ich genau dieses Werk, wenn man sich damit beschäftigt hat, wird man feststellen, daß danach so viele neuere Musikstücke sich alle danach ausgerichtet haben. Und das ist dann dieses Praktikable, wenn man sich irgendwie darauf verständigt hat, mach es so und erfinde nicht schon wieder ein neues Symbol. Und das Coole ist ja, am Schluß geht es doch darum, daß ich Musik darstelle und nicht irgendwie in der Organisation des Notentextes hängen bleibe.

Wenn es schon eine geniale Notationen gibt, nutze die bitte.

 

MD Ich meine, es wird manches, was irgendwo zum ersten Mal auftaucht, dann tatsächlich, wie du es selber gut beobachtet hast, Standard. Und das ist gut so.

Selbst in den sogenannten Notenschreibprogrammen, Sibelius etwa, Finale oder welches Programm auch immer, da sind ja bestimmte Dinge wie Vierteltöne etc. auch schon drin. Und da ja inzwischen die jüngeren Komponisten kaum noch von Hand schreiben, sondern gleich mit Sibelius oder Finale, kommt allein dadurch schon, weil dort alles standardisiert ist, eine Vereinheitlichung bei neuen Werken zustande. Man muß allerdings die Möglichkeit haben, wenn man etwas im Sinn hat, wofür es noch keine plausible Notation gibt, dann halt selber etwas zu erfinden.

 

IK Genau. –

Du hast ja auch für Stimme geschrieben. Ich bin neugierig, wie das für dich ist. Fällt dir das leicht? Oder sind das Herausforderungen?

 

MD Mit Stimme oder Gesang ist es etwas ganz Seltsames. Ich habe eigentlich erst relativ spät zum Gesang gefunden. Und heute ist mir Gesang sehr wichtig.

 

Ich finde es so bedauerlich, daß, was weiß ich, ein Liederabend, egal ob mit Schumanns Dichterliebe oder auch der Winterreise von Schubert, kaum noch einen Konzertsaal füllt. Es ist eine so wunderbare Gattung, wie soll ich sagen: Oper in Kleinstformat, aber noch viel intensiver.

Daß Liederabende nur noch so wenig wahrgenommen werden, finde ich extrem bedauerlich!

 

Ich habe vor etwa zehn Jahren einen ganz großen abendfüllenden Liederzyklus geschrieben, Schönste Lieder (nach Michael Donhauser). Es sind 52 kurze Lieder, bei denen Schuberts Winterreise sozusagen Pate stand. Du hast ja fünf davon gesungen. Aber noch immer ist der Zyklus nicht ganz komplett aufgeführt worden

Daß Gesang am Anfang für mich eher eine gemiedene Gattung war, lag wohl auch daran, daß   mein Vater für den ‚Hausgebrauch’, wie er selber mal sagte, viel Chormusik so im Stile von Jarnach und Distler geschrieben hat.

Und tatsächlich sind erst relativ spät meine Heindrichs-Lieder entstanden. Sie waren eigentlich mehr oder weniger das Erste, was ich überhaupt für Gesang schrieb.

 

IK Und du hast ja erst kürzlich die Greguerías (nach Ramón Gómez de la Serna) geschrieben, nur für Stimme alleine, die ich ja nun auch wieder singen darf.

 

MD Ja, da gibt es aber zudem einen Klavierstuhl und diverse Haushaltsgegenstände, die zum Einsatz kommen.

Diese Texte sind ja eine neue literarische Form, die der Dichter erfunden hat. In ihrer Kürze haben die Greguerías  fast etwas vom Haiku, sind Weltbeobachtung mit der Lupe und haben immer einen sehr hinter- und feinsinnigen Humor und Witz.

 

Es gibt einen weiteren Zyklus, den ich György Kurtág gewidmet habe, das war damals zu seinem 80. Geburtstag: Silence, et puis - 17 Duras-Fragmente. Dieses Vokalwerk ist in mehrfacher Hinsicht auf Kurtág bezogen: es sind Fragmente (wie seine Kafka-Fragmente), auch für Stimme und ein Streichinstrument, aber nicht Sopran und Geige, sondern bei mir herabgedunkelt auf Mezzosopran und Viola. Er ist ein mir selbst besonders wichtiger Zyklus, der im Grunde genommen letztendlich diesen Gedanken fortsetzt, von der Gesangsstimme auszugehen, mit nur kleinen instrumentalen Beigaben, welcher Art auch immer.

Bei den Duras-Fragmenten geht es radikal um die essentiellen Dinge des Lebens: Geburt, Liebe, Leidenschaft und vor allem auch Tod. Die Greguerías hingegen spiegeln mit Weitsicht alle Aspekte, auch die humorvollen Lebensumstände eines jeden, sie sind Beobachtungen von Dingen und Situationen, die man eigentlich täglich erleben kann, aber auf besondere Art betrachtet und zu einem Satz verdichtet (im doppelten Sinne). Ganz wunderbare Texte! Ein Buch, das ich immer wieder gerne mitnehme auf Reisen, um mich inspirieren zu lassen, wie etwa 2019 nach Paris, wo durch die erneute Lektüre meine Huit esquisses du matin für Violine solo entstanden.

 

Es ist viel leichter tragische Musik zu schreiben als heitere. Und meistens geht uns tragische Musik auch tiefer ans Herz als heitere Musik. Aber so eine ‚Serenitas’, wie man es bezeichnen könnte, wie wir sie zum Beispiel bei Haydn finden, der an vielen Stellen vom musikalischen Humor und der Überraschung lebt, das ist wirklich eine besonders schwierige Disziplin. Mir erscheint es zumindest so, als sei bei mir dies bei den Greguerías tatsächlich erstmals wirklich gelungen.

 

IK Ich kenne dich ja auch eben schon eine ganze Weile und habe auch immer wieder so verschiedene Prozesse, teilweise aus der Ferne, teilweise näher beobachten können. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß du dich auch irgendwie gehäutet hast, daß manchmal der Stil vielleicht sogar schlichter wird.

Und gleichzeitig hast du ja immer wieder solch umfangreichere Jahresprojekte gemacht, wie die erwähnten 52 Schönsten Lieder, die innerhalb von 52 Wochen entstanden sind.

Da hast du dich ja immer irgendwie neu gefordert.

 

MD Ja, ich glaube, das hat mir auch gut getan.

Meine Haupt- und Nebenwege, ein ganz langes, fast dreistündiges Klavierquintett, wären ohne diese Selbstdisziplin nicht entstanden. Als es beim Beethoven-Fest 2000 aufgeführt wurde, ist mein Kollege und Freund Walter Zimmermann extra aus Berlin angereist, um diese Musik zu hören, weil ihn wahrscheinlich zunächst nur allein die Idee so fasziniert hat, daß sich da jemand jeden Tag hinsetzt und Stück um Stück weiterschreibt.

 

Es gibt in der Tat eine ganze Reihe Jahresprojekte.

Das erste war das Klangtagebuch 1984, da wollte ich jeden Tag einen Klang aufschreiben, der mir die Atmosphäre, meine Stimmung des Tages sozusagen kondensiert einfängt.

Die ersten Jahre danach brauchte ich die Klänge nur zu lesen, und wußte sofort wieder genau, was an dem Tag passiert ist. Das ist mit der Zeit natürlich etwas verblaßt.

 

Dann entstand 1990 Hebdomadaire, das ist mittlerweile bereits 35 Jahre her. Da habe ich mir vorgenommen – wenn ich das so mit dem Abstand des jetzt älteren Komponisten sehe, genau auf der augenblicklichen Lebensmitte –, wohl auch aus dem Bedürfnis heraus, mal zu zeigen, wie breit mein Spektrum der musikalischen Rede inzwischen gereift ist, ein Jahr lang jede Woche ein Klavierstück zu schreiben, auch mit bewußter Beschränkung auf das Klavier, auf das, was ein Pianist mit zehn Fingern auf der Tastatur bewerkstelligen kann. Ich wollte eine Art Kompendium meiner musikalischen Sprache schaffen.

Es war also auch ein Versuch des Selbstbeweises.

 

IK Und was würdest du sagen passiert, wenn man so konsequent ist, im Gegensatz zu vielleicht andere Stücken, was ist da der Unterschied?

 

MD Man kann nicht erwarten und hoffen, daß jeden Tag Geniales entsteht, nein, das kann man nicht. Man bleibt aber so im steten Rede- oder Gedankenfluß.

Egal, was am Tag anstand, irgendwann, und seien es nur 20 Minuten (dann schrieb ich vielleicht nur ein Takt), oder bei einem ganz freien Tag (dann konnte vielleicht sogar eine Zeitstrecke von drei Minuten entstehen) gab es diese Zeit der inneren Konzentration im Anknüpfen an das tags zuvor Entstandene, ein oftmals magischer Zustand.

Anknüpfen und fortsetzen … was eigentlich alles Komponieren überhaupt ausmacht: alles knüpft an, alles setzt fort. Ich setze die Arbeit meiner Kollegen, die vor mir komponiert haben, fort, und so weiter. Beethoven setzt Mozart fort, Brahms hat an Beethoven angeknüpft und, und, und …

 

IK Verändert es auch etwas in der Kreativität, wenn man sich im Arbeitsprozeß so festlegt?

 

MD Ja, ich glaube es verdichtet die Konzentration und die allgemeine Wahrnehmung. Da ist alles mit 100 Prozent und vielleicht sogar 150 Prozent auf Empfang gerichtet. Alles was sich ereignet, kann relevant werden, auch z.B. eine Bahnfahrt zum Konzertort. Alles kann Einfluß nehmen, wenn ich weiß, irgendwann heute am Tag wird diese mir ‚heilige Zeit’ kommen, wo ich nur mit diesem Stück beschäftigt bin ...

 

IK Und wie ist es dann, wenn du nicht so gearbeitet hast? Ist es dann irgendwie auch befreiend: Ich muß jetzt nicht jeden Tag ein Stück weiterschreiben?

 

MD Gute und interessante Frage.

Also, ich habe es des Öfteren als Druck erlebt, wenn es ein Auftragswerk gab, der Abgabetermin immer näher rückte und ich trotz vieler Skizzen noch nicht das Gefühl hatte, die Richtung stimmt immerhin.

Bei einem WDR-Auftrag für ein Ensemblestück dachte ich schon, ich muß kurzfristig absagen. Dann entstanden wenige Tage vor der geforderten Abgabe doch die ersten 12 Partiturseiten, aber ich spürte, da habe ich nur Handwerk abgespult, habe alles in den Papierkorb geworfen und erneut angefangen. Und unerwartet, fast in so einer Art Flow komponierte ich innerhalb von knapp fünf Tagen eine für mich in dem Moment ganz neue und ungewöhnliche Musik, ausgelöst allein durch das Hören einer fernen Autosirene über Dächern des nächtlichen Paris. Das ging so schnell, daß ich manchmal das Gefühl hatte, jemand anderes führt meine Hand, nicht ich selber steuere das noch. Ich konnte kaum so schnell schreiben, wie sich die Musik einstellte. Das sind seltene aber ganz beglückend magische Momente bei der schöpferischen Tätigkeit!

Und so konnte ich das Stück dann noch gerade auf den allerletzten Drücker termingenau abgeben.

 

Bei eigenen Aufgabenstellungen ist es ja nicht tragisch, wenn es nicht klappt.

Bei mir gab es immer Phasen, wo ich mal zwei, drei, vier Monate gar nichts geschrieben habe. Viele Stücke entstanden ohne irgendeinem Auftrag, sondern einfach nur, weil mir plötzlich der innere Impuls dazu – wodurch auch immer ausgelöst – zuflog.

 

IK Ja, sehr spannend. Wir könnten noch Vieles besprechen. Du kennst dich mit Haikus aus, du hast auch die großartige Konzertreihe WortKlangRaum in Bonn kuratiert, und vieles mehr. Ich fand sehr bemerkenswert, daß du die Reihe über Jahre gemacht hast, bis zur 100. Ausgabe, dann aber auch diese Konsequenz, zu sagen: Jetzt ist Ende. Die Reihe lief ja super, du hättest ja auch weitermachen können.

Also, daß du irgendwie merkst, jetzt ist etwas abgeschlossen. Oder ich mache wieder Raum für etwas Neues, das finde ich großartig.

 

MD Ja, ich glaube, man muß als Komponist, aber auch als Veranstalter oder Kurator tatsächlich ein Gespür dafür bekommen, wo es richtig und zwingend ist, aufzuhören.

Natürlich hätte ich die Reihe WortKlangRaum noch weitermachen können, die Ideen wären mir nicht ausgegangen.

Ich wollte die Reihe aber nicht enden lassen, wenn ich plötzlich nicht mehr kann. Sondern ich wollte, daß diese 100 Ausgaben als Ganzes einen schönen in sich geschlossenen Bogen ergeben.

 

IK Ich finde dieses Aufhören-Können ist ja auch eine große Gabe. Manche Leute können das gar nicht …

 

MD Ja, das ist richtig.

Jetzt im Nachhinein sehe ich noch viel deutlicher, wie richtig es war, genau in diesem Moment aufzuhören.

 

IK Du kannst dann ja immer noch was Neues starten.

 

MD Ja.

Ich mache inzwischen ganz andere Dinge, habe z.B. innerhalb von drei Jahren drei Ausstellungen kuratiert. Zwei hatten etwas mit Musik zu tun, die letzte vor einem halben Jahr aber gar nicht mehr.

 

Die Zeiten ändern sich im Augenblick. Das wirst du vielleicht auch als Interpretin spüren.

Wir leben in einer Umbruchzeit, wobei ich leider die Sorge habe, daß das Bewußtsein für die Notwendigkeit von anspruchsvoller Kultur zum Selbstverständnis des Menschseins gehört, auf erschreckende Weise nachläßt, deren essentielle Bedeutung für viele scheinbar nicht mehr relevant zu sein scheint. Das macht mich wirklich traurig.

Diesen schleichenden Untergang der Kultur, den wir beobachten können, durch oberflächige Vergnügungssucht und billige Ablenkungen, beobachte ich mit Sorge.

 

Auch deswegen ist es immer besser, im richtigen Moment abzuschließen.

 

IK Was ich mich aber auch immer frage, wenn man so viele Interessen und Begabungen hat wie du, wie kriegt man das unter einen Hut? Wie strukturierst du deinen Tag oder strukturierst du ihn überhaupt oder wie schaffst du das alles?

 

MD … habe ich nie drüber nachgedacht. Ich habe einfach gemacht.  

Ja, ich habe viele Interessen. Die Literatur spielt eine ähnlich große Rolle in meinem Leben wie die Musik. Alles befruchtet sich ja gegenseitig. Natürlich wird die Musik weiterhin die mir wichtigste Sparte bleiben.

 

IK Wenn du jetzt so über alles blickst oder auch zurückblickst, was bedeutet für dich Erfolg?

 

MD Ich glaube jeder Künstler wünscht sich in irgendeiner Weise Erfolg.

Erfolg bemißt sich natürlich auch daran, wie man wahrgenommen wird, ob man wahrgenommen wird. Es gibt Komponisten, oder Komponistinnen (ja vor allem diese), denen das scheinbar nicht so wichtig ist.

Der letzte Fall für mich eine absolute Überraschung! Wußtest Du, daß Yvonne Loriod, die Frau von Olivier Messiaen, komponiert hat? Ganz beachtliche Werke. Das wird jetzt erst nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Das ist eine der letzten, großartigen neuen Entdeckungen für mich! Da wird der Erfolg posthum kommen.

 

Es gab immer Komponisten, die standen zu ihren Lebzeiten in der allgemeinen Wahrnehmung eher im Schatten. Nicht daß ihre Namen nicht aufgetaucht sind, aber die eigentlich erst posthum wirklich berühmt wurden. Selbst Schubert ist eigentlich umfassend erst nach seinem frühen Tod entdeckt worden. Oder Conlon Nancarrow, er hat es gerade noch miterleben dürfen, wie plötzlich der Weltruhm kam.

Das kann man aber selbst nicht wirklich steuern oder beeinflußen.

Natürlich hätte jeder gerne eine Resonanz, sei es durch gute Besprechungen, durch viele Aufführungen und so weiter.

Mir ist es fast am wichtigsten, wenn ich spüre, daß die Kollegen, die Künstler, die mir selber sehr viel bedeuten, mit denen ich befreundet bin oder die ich schätze, wenn ich von denen eine gute, positive, oder gar begeisterte Resonanz bekomme.

Und eh bin ich wohl der schärfste Kritiker meiner selbst.

Wenn ich die Musik, die ich in die Öffentlichkeit freigebe, wenn diese der Selbstkritik standhält, dann ist das auch ein Erfolg.

Ich habe zwar viel geschrieben, aber weiß Gott oft mit Skrupeln und Selbstzweifeln zu kämpfen gehabt, aber wenn ich dann weiß, es stimmt genau so, dann ist das ein sehr befriedigendes Gefühl.

Und ich denke, jedes neue Werk muß sich ja auch im Umfeld dessen messen, was es an genialen Meisterwerken schon gibt … und es gibt unendlich viele musikalische Meisterwerke! Ich kann sie gar nicht aufzählen. Wenn man nur in die Gattung Streichquartett schaut, da wimmelt es nur so von Meisterwerken.

Wenn man selber ein Streichquartett schreibt, muß das daneben Bestand haben.

Und wenn einem das gelungen scheint, dann empfinde ich dies als einen Erfolg, einen ganz privaten Erfolg. Und der ist auch nicht unwichtig.

 

IK Auf jeden Fall.

Wir sind jetzt auch bei meiner letzten Frage angekommen.

Da möchte ich gerne von dir wissen: welchen Tipp möchtest du jungen KünstlerInnen geben?

 

MD Das schließt eigentlich ganz gut daran an, was ich eben schon gesagt habe.

Die Selbstkritik ist sehr wichtig.

Aber zunächst einmal: alle Sinne offen, in alle Richtungen, auch in alle künstlerischen Disziplinen. Neugierig bleiben: Was passiert da? Was gibt es dort?

Sich auch mit Dingen beschäftigen, die ganz weit zurückliegen. Die können nämlich eine enorme Energie auch für das eigene Schaffen zeitigen.

Und nochmals: stets alle Sinne offen halten, gleichzeitig aber die Innenschau nicht vergessen, und vor allen Dingen auch die eigene innere Stimme wahrnehmen und ihr folgen! Nicht sich anpassen oder verstellen. Nur so kann eine ureigene, ganz persönliche Handschrift entstehen.

Dann, wenn die Selbstkritik nicht selbstzerstörerisch sondern kreativ ist, dann kann etwas Unverwechselbares entstehen.

Dies würde ich meinen jungen Kollegen gerne mit auf den Weg geben.

 

IK Danke für das Gespräch.

 

 

 

 

(Das Gespräch fand am 22. Januar 2025 in Düsseldorf statt.

Es wurde für diese gekürzte Veröffentlichung – dezent in den originalen Wortlaut eingreifend – in Schriftform gebracht)

                                                                                    

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