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DER PELIKAN op. 64  (1990-92)

Kammeroper in 14 Szenen

 

„Die Menschen verwechseln ihre Lügen und Betrügereien mit Illusionen, darum schreien sie, wenn man Ihnen den Deckmantel abreißt”

 

MEIN WEG ZUR STRINDBERG-OPER „DER PELIKAN”

 

Eigentlich bin ich nie ein richtig besessener Opernfan gewesen. (Früher - als zugegebenermaßen noch sehr junger Musiker - konnte ich Oper gar nicht ertragen, empfand diese Form als einen Anachronismus.) Und doch gibt es Opern, die ich liebe, aber es sind nicht sehr viele: Monteverdis „Orfeo” (die erste vollgültige Oper der Musikgeschichte), Mozarts „Don Giovanni” (natürlich!... und von allen Mozart-Opern am meisten), Beethovens „Fidelio” (und doch bedeuten mir seine späten Streichquartette und Klaviersonaten ungleich mehr), Strauss’ „Salome” (eben nicht den „Rosenkavalier”!), Verdis „Traviata” (aber auch „Don Carlos” und „Othello”), Wagners „Tristan” (den „Parsival” möchte ich lieben, kann es aber nicht uneingeschränkt), Janáceks „Aus einem Totenhaus” (und alle seine Bühnenwerke ohne Einschränkung), Schönbergs „Moses und Aron” (weil es eigentlich keine Oper ist), Bergs „Wozzeck” (...das war überhaupt mein erstes einschneidendes Opern-Erlebnis!) und Zimmermanns „Soldaten” (um die mir wichtigste nach dem „Wozzeck” aufzulisten).

Mich interessiert an Oper in erster Linie die Musik und erst dann Handlung und Bühne. Doch in allen oben genannten Opern bilden Sujet und Musik für mich eine geheimnisvolle, geradezu ideale Einheit. Als sich bei mir in den vergangenen Jahren nach und nach der Plan konkretisierte, selbst einmal eine Oper zu schreiben, und als mit dem Auftrag aus Münster der direkte Anstoß zur Umsetzung des Planes kam, ging ich auf die Suche nach dem literarischen Stoff, der mir die Möglichkeit einer ähnlich dichten Verzahnung bei der Transformation eines szenischen Ablaufes in musikalische Form bot. In Strindbergs Familiendrama „Der Pelikan” fand ich schließlich das, was ich suchte.

Mit  „Kammerspiel opus 4” hat Strindberg sein Stück untertitelt und reiht es damit in seinen spektakulären Versuch ein, die Prinzipien der Beethovenschen Kammermusik auf die Form des Dramas zu übertragen. So ist das Material auf wenige Stimmen verdichtet; die Musikalität der Sprache, Klang und Rhythmus der Dialoge, wiederkehrende variierte Motive und ein Handlungsaufbau mit aufsteigender Spannungslinie und sich zuspitzender Beschleunigung zeugen von kompositorischem Denken, das sogar soweit geht, daß Strindberg auch Vorgaben zur Bühnenmusik macht. Wie ein klangliches Sinnbild für das aufgewühlte Seelenleben läßt sich so das ungestüme Fantasie-Impromtu op.66 von Chopin verstehen, das er z.B. für den ersten Akt vorschreibt.

Aber es waren nicht nur diese musikalischen Aspekte, die mich an diesem Stück faszinierten, es war auch der Symbolcharakter des Stoffes, denn diese heraufziehende Katastrophe, die Selbstzerstörung der Formation Familie ist auch ein Stück Apokalypse im Kleinen. Strindberg schreibt einmal: „Die Menschen verwechseln ihre Lügen und Betrügereien mit Illusionen, deshalb schreien sie, wenn man ihnen den Deckmantel abreißt. Die Illusionen im eigentlichen Sinne sind keine Lügen, sondern bestehen aus mangelhaften Spiegelungen der vollkommenen Urbilder. Die Liebe ist kein Betrug, sondern eine schwache Wirklichkeit, die etwas vom ewigen Leben in sich hat; eine Illusion durch ihre Unvollkommenheit.”  Die selbstsüchtige Mutter, die sich selbst die Rolle der aufopfernden Beschützerin vorspielt, Tochter und Sohn, die wie Schlafwandler die Realität ihres Lebens verkennen, der Schwiegersohn, der nur seinen ökonomischen Vorteil sucht und ein Verhältnis mit der Mutter seiner Ehefrau hat, sie alle treiben mit ihrem Seelenterror auf den Untergang zu. Einsam und gefangen in einer Lebensordnung gegenseitiger Ausbeutung kämpfen sie - sich selbst täuschend - auf verlorenem Posten um Liebe und machen den verstorbenen Vater zur Projektionsfläche ihrer Rechtfertigungsstrategien. Die Entlarvung einer aufrechterhaltenen Scheinwirklichkeit und die Demaskierung der Selbsttäuschung  sind Thema dieses Kammerspiels, das Strindberg - wie mit offen liegenden Nervenenden geschrieben - in die Atmosphäre eines Alptraumes taucht. Und gerade hier, im Wahn-Sinn der psychologisch aufgeheizten Bühnensituation, der die Realität ver-rückt, konnte ich als Komponist anknüpfen, löste sich für mich die alte Frage „warum müssen die Darsteller auf der Bühne singen?”. Strindberg benutzt zudem Metaphern, die Entsprechungen in musikalischer Textur zulassen. So steht die Kälte im Haus für die Kälte der menschlichen Beziehungen und das Inferno zum Schluß für die erlösende und reinigende Kraft des Feuers und die - nur durch zerstörerische Sucht - in Trance wiedergefundene Wärme und Zuneigung der Geschwister.

Bei der Straffung und Umgestaltung zum Libretto ist der Szenenablauf im Wesentlichen beibehalten. Während des Kompositionsprozesses wurden aber immer wieder textliche Umstellungen und Veränderungen im Sinne der musikalischen Form notwendig. Durch einen bestimmten melodisch gestischen Duktus der Gesangsführung und die Zuordnung eines selbständigen Instrumentaltrios zu jeder Person (MUTTER: Klarinette, 1. Violine, Schlagzeug; SOHN: Trompete, Violoncello, Klavier; TOCHTER: Flöte, Horn, 2. Violine; SCHWIEGERSOHN: Fagott, Posaune, Kontrabaß; MAGD: Englisch Horn, Viola, Tuba) erhalten die Protagonisten ihr jeweilig eigenes musikalisches Psychogramm und jeder Dialog seine besondere klangliche Färbung. Der verstorbene, aber in den Köpfen stets anwesende Vater, der auf der Bühne halluzinatorisch mit dem vom Wehen des Windes in Bewegung gesetzten Schaukelstuhl in Verbindung steht, erscheint musikalisch in unterschiedlichen Instrumentalgruppen bis hin zum Orchestertutti, wobei ich hier Strindbergs Angabe aufgreife und die Textur in steter Variation vom Beginn des Chopinschen Fantasie-Impromptu ableite. Zudem gibt es einige Motive und Themen,  die in zunehmender kontrapunktischer Verdichtung als musikalische Zeichen für Selbsttäuschung, Lüge und deren Demaskierung stehen. Durch entlehnte Formen der absoluten Musik, wie Rondo, Variation, Passacaglia, Fuge, usw. wird die Szenenfolge übergreifend gegliedert und findet eine Entsprechung in der kompositorischen Anlage des dramatischen Stoffes von Strindberg.

 

© 1992 Michael Denhoff

 

 

Hanna Fahlbusch-Wald

Hanna Fahlbusch-Wald

Günter Kiefer und Doreen DeFeis

Günter Kiefer und Doreen DeFeis

 

Anneliese Fried

Anneliese Fried

 

 

(Szene-Fotos der UA in Münster am 18. Dezember 1992)

 

 

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