Räumliche Aspekte in der Neuen Musik *)
I.
Wenn hier im Folgenden von räumlichen Aspekten in der Musik und im Speziellen der Neuen Musik die Rede sein soll, so muß selbstverständlich zunächst vorausgeschickt werden, daß Raum und Musik ganz generell untrennbar miteinander verknüpft sind, denn Musik ist eben nicht nur eine Zeit-Kunst, sondern im Wesentlichen auch eine Raum-Kunst. Jede Musik entfaltet sich in einem Raum und kann von verschiedenen Orten im Raum gehört werden. In einem großen Raum klingt sie anders als in einem kleinen Saal; der Nachhall (auch eine Raum- und Zeitkomponente) bestimmt und beeinflußt den Klang. Wie nah der Zuhörer der Klangquelle ist, entscheidet zudem, wie sich für ihn die Klänge mischen oder trennen. Ohne Räumlichkeit ist Musik gar nicht denkbar. Schon die Klänge und Töne selbst beschreiben und durchmessen ihren eigenen Raum: hohe und tiefe Töne – auch damit wird räumliche Distanz beschrieben und erlebt. Wenn Goethe bezogen auf die Architektur von einer „verstummten Musik“ spricht, so könnte man umgekehrt sagen: „Musik ist tönende Architektur“ – womit neben dem räumlichen Aspekt auch der Faktor des Schöpferischen, des Gestalteten hinzukommt. Daß daneben die zeitliche Ausdehnung von Klängen, ihre Dauer auch etwas mit Raum zu tun hat, daß Zeit und Raum also ebenso untrennbar miteinander verknüpft sind, darauf verweist schon allein das Wort „Zeitraum“, welches wir im Zusammenhang mit Musik ganz selbstverständlich nutzen. Aber was ist eigentlich die Zeit? Kann man sie eindeutig definieren? Läuft die Zeit von einem Punkt zum anderen? Und: ist Musik „in der Zeit", oder hat sie selbst „Zeit in sich"? Diese Fragen lassen sich wohl nicht eindeutig beantworten. Wir müßten uns mit den philosophischen Begriffen der Zeit sowie mit der Entstehung der Welt auseinandersetzen. Aber damit würden sich die Fragen noch vervielfältigen. Gibt es nur ein Universum oder mehrere? Wie unterscheiden sich die Zeitstrukturen und damit auch die Raumstrukturen der belebten Natur von der erstarrten Natur? „Was also die Zeit sei? Wenn mich niemand danach fragt, so weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht" sagte Augustinus in seinen „Bekenntnissen“. Wohl schon seit Menschengedenken beschäftigen sich Philosophen mit diesem Problem. Henri Bergson unterscheidet dabei zwei verschiedene Tempi: „le temps durée“ (die erlebte Zeit), und „le temps espace“ (die räumlich vorgestellte Zeit). Aber der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus merkte dazu an „Die Momente, die Bergson schroff voneinander trennte, sind aber nicht isoliert, sondern durch Wechselwirkung verbunden in der Erfahrung gegeben. Ist der ‚temps espace’, das leere Vor und Nach, eine Abstraktion vom ‚temps durée’, so sind andererseits die Dehnungen und Verkürzungen der erlebten Zeit erst faßlich vor dem Hintergrund der räumlichen. Und beide Momente, der ‚temps espace’ und der ‚temps durée’, sind, als Zeitgerüst und Bewegung, in der Musik wirksam." Igor Strawinsky sagte in seiner „Musikalischen Poetik“ zu diesem Thema fast lakonisch: “Das Phänomen der Zeit ist uns zu einem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen und hier vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit.“
Diese Gedanken, Zitate und Fragen seien vorab „in den Raum gestellt“, bevor nun anhand ausgewählter Beispiele im Detail von Musik die Rede sein soll, die neue Wege suchte, den Raum und die Zeit als kompositorische Dimension in klingendes Denken einzubeziehen.
II.
Am 24. März 1958 wurde im Rheinsaal des Kölner Messegeländes GRUPPEN für drei Orchester von Karlheinz Stockhausen uraufgeführt. In einer Einführung zur Erstausstrahlung des Konzertmitschnittes am 23. April 1958 sagte Stockhausen im Westdeutschen Rundfunk mit dem ihm eigenen, schon damals ausgeprägten Selbstbewußtsein: „Mit den GRUPPEN hat eine neue Entwicklung der Instrumentalmusik im Raum eingesetzt. Die neue Form vielschichtiger Zeitkomposition von Instrument zu Instrument wird auch in der äußeren Form klar gemacht. Mehrere selbständige Orchester – bei den GRUPPEN sind es drei – umgeben die Zuhörer; die Orchester spielen – jedes unter seinem Dirigenten – teilweise unabhängig in verschiedenen Tempi; von Zeit zu Zeit treffen sie sich im gemeinsamen Klangrhythmus; sie rufen sich zu und beantworten sich; das eine gibt des anderen Echo; eine Zeitlang hört man nur Musik von links, von vorne oder von rechts; der Klang wandert von einem Orchester zum anderen.“ In der Tat war die Kölner Uraufführung ein denkwürdiges Ereignis, sprengte dieses Werk doch die räumlichen Möglichkeiten herkömmlicher Konzertsäle. Man mußte in den Rheinsaal ausweichen, um die drei Orchester, die alle annähernd gleiche Stärke und Besetzung hatten (insgesamt sind 109 Spieler eingesetzt), hufeisenförmig um das Auditorium postieren zu können. Der Probenaufwand war, wie Stockhausen berichtet, enorm: zunächst mußten die drei Dirigenten (das waren neben Stockhausen selbst Pierre Boulez und Bruno Maderna) den Ablauf „trocken“, also noch ohne Orchester proben, dann mit den drei Orchestern getrennt arbeiten, wobei viele Widerstände bei den Musikern zu überwinden waren, die hier auf bisher ungewohnte Art und Weise gefordert waren. Erst die letzten drei Proben vor der Aufführung fanden auf den richtigen Podien statt. Das, was Stockhausen zuvor in seiner elektronischen Musik GESANG DER JÜNGLINGE schon durch die Verteilung von fünf Lautsprechergruppen erreichte, hat er in GRUPPEN also auf die Instrumentalmusik übertragen. Das Neue an der räumlichen Konzeption war zudem, daß sie aus der kompositorischen Struktur selbst entwickelt und abgeleitet wurde. Die theoretische Begründung und Entsprechung hierfür ist in seinem wohl wichtigsten Text zur Kompositionstheorie „… wie die Zeit vergeht …“ zu finden. In dieser Abhandlung, die etwa zeitgleich 1957 entstand und die, geprägt von rational logischen Denken über die Relationen zwischen Tonhöhen und Dauern, das Schlüsselproblem aller seriellen Kompositionstechniken untersucht, entwickelt Stockhausen eine Art „Zoombewußtsein“ (Klaus Kropfinger) für zeitliche Differenzierung und die Gleichzeitigkeit von Makro- und Mikrozeiten, die in der Musik verschmelzen zu einem zeitlichen Kontinuum aus Gruppen zusammengefaßter Zeitwerte. Im Orchesterstück GRUPPEN werden diese in Schichtungen orchestral in den Raum ausgefaltet.
Mit dem geschichtlichen Abstand von nunmehr fast einem halben Jahrhundert mag diese technisch-analytische Betrachtung und Legitimation seriellen Denkens das Handwerkliche der Partitur etwas zu sehr in den Vordergrund zu stellen und die haptisch-sinnlichen Qualitäten der Klänge weniger wichtig erscheinen lassen. Daß diese Musik aber über die kompositorischen Perspektiven hinaus von einer ungewöhnlichen Klangfarbendifferenzierung, von höchst virtuoser Instrumentenbehandlung zeugt, die sich in einer Skala zwischen extrem geballten und sich geradezu verflüchtigenden Klanggestalten bewegt, davon mögen Sie sich nun anhand eines kleinen Ausschnittes hörend überzeugen. Anmerken möchte ich dazu noch, daß der Eindruck einer solchen Raummusik natürlich selbst in einer stereophonen Wiedergabe nur eingeschränkt zu vermitteln ist. Die damalige Rundfunkübertragung war sogar noch in Mono, und in seiner Einführung stellte Stockhausen auch die Frage: „Warum sendet man solche Musik, die ganz für den Konzertsaal geschrieben ist, im Rundfunk?“. Und er gab auch gleich die Antwort: „Nun, es ist besser, schon einmal eine Photographie von einer Plastik zu sehen, als gar nichts; vielleicht bekommt man Lust, sich die Plastik auch einmal im Original anzuschauen: das gilt auch für die Musiksendung.“ Ohne Zweifel muß man sich in diese Musik einhören, muß sie wiederhören, und das möglichst live. Daran hat sich bis heute nichts geändert, denn es bleibt schwer, diese Komplexität beim ersten, auch noch so konzentrierten Hören in vollem Umfang „durchzuhören“, was sicherlich auch zu ihrer einmaligen Wirkung führt, die heute in nicht geringerem Maß als eine Art musikalisches Naturereignis erscheint, wie zur Zeit ihrer damaligen Entstehung.
Klangbeispiel: GRUPPEN (Stockhausen)
Was ich eben zur Komplexität der kompositorischen Textur sagte, gilt genau genommen ja eigentlich auch für eine Fuge von Johann Sebastian Bach: sie ist in ihrer kontrapunktischen Kunstfertigkeit ebenfalls beim ersten Hören kaum durchhörbar. Und doch transportiert sie auch ohne eine analytische Durchdringung sofort eine emotionale Kraft, wie es die eben gehörte Musik auf eine andere, ihre eigene Art tut. Und so sei vielleicht auch die Frage erlaubt: hat tatsächlich – wie Stockhausen behauptet – mit GRUPPEN eine neue Entwicklung der Instrumentalmusik im Raum begonnen? – wenn wir einmal die kompositorische Technik außer Acht lassen.
Die Einbeziehung des Raumes als Erweiterung der musikalischen Dimensionen, die im heutigen Schaffen vieler Komponisten eine wichtige Rolle einzunehmen scheint, hat ihre eigentlichen Wurzeln im antiphonalen Gegen-Gesang des Gregorianischen Chorals und fand ihre erste Blüte in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Venedig. Andrea und Giovanni Gabrieli gehörten zu den ersten Komponisten, die den Raum bewußt als kompositorisches Mittel eingesetzt haben. Die Effekte dieser Mehrchörigkeit resultierten aus einer architektonischen Besonderheit des Markusdoms in Venedig. Auf zwei gegenüberliegenden Emporen befanden sich zwei Orgeln, die zu den Attraktionen der Stadt gehörten. 1588 wurde noch eine dritte hinzugefügt. Angeregt durch diese räumliche Verteilung entwickelten die beiden Venezianer eine monumentale musikalische Raumklangkunst. Im Jahr 1615 veröffentlichte Giovanni Gabrieli seine „Canzoni e Sonate“, die ohne genaue Angaben zu den zu verwendenden Instrumenten für eine beliebige Besetzung geschrieben waren. 1962, also rund 350 Jahre später schreibt Karlheinz Stockhausen im Zusammenhang mit seinem Werk MOMENTE: "Die einmalige und unverwechselbare Komposition des Klangmaterials ist meines Erachtens heute genau so wichtig wie etwa in früheren Kompositionen die Auswahl von Themen, Motiven, Formschemata, denn die Komposition der Klangfarben ist ja nicht länger Kolorierung einer musikalischen Struktur..., sondern ist von Anfang an allen anderen Prozeduren gleichberechtigt, die man zur Herstellung einer musikalischen Komposition anwendet. Ich finde deshalb auch, daß die spezifische Auswahl und Zusammenstellung eines Instrumentariums für ein bestimmtes Werk für mich als auch für andere Komponisten unwiederholbar, unkopierbar bleiben sollte." Hiermit wird deutlich, wie sehr sich die Rolle der Instrumentation im Laufe der Zeit verändert hat. Wurde sie früher, auch noch zur Zeit von Johann Sebastian Bach (denken wir beispielsweise an die „Kunst der Fuge“), bloß als austauschbares Beiwerk betrachtet, als etwas, das nicht zur eigentlichen Komposition gehörte, sondern nur als sinnliches Transportmittel für das Geistige diente, so wurde die Instrumentation immer mehr untrennbar mit der kompositorischen Gesamtidee eines Werkes verbunden und wird heute, wie Tonhöhe und Tondauer, kompositorischen Prinzipien unterworfen: die Klang-Farbe hat das gleiche Gewicht und ebenso wesentliche Bedeutung, wie die zeitliche und rhythmische Gestalt von Tönen und Klängen. Und hierin liegt wohl auch der gravierendste Unterschied zwischen den mehrchörigen Musiken eines Gabrieli und den musikalischen Raumkonzepten eines Stockhausen. Zudem entstanden Gabrielis Werke als Reaktion auf eine schon existierende räumliche Gegebenheit, die ganz bewußt einkomponiert wurde; Stockhausens Klangvisionen im Raum hingegen sind für Aufführungsorte gedacht, die architektonisch noch zu entwerfen sind oder nach seinen Vorstellungen entstanden, wie beispielsweise das Kugelauditorium, das zur Weltausstellung 1970 in Osaka errichtet wurde. In dieser Kugel, die etwa 600 Zuhörer faßte, konnte er erstmals Erfahrungen sammeln mit akustischen Rundum-Klangbewegungen. Der Klang konnte über 55 Lautsprecher in Kreis- und Spiralbewegungen geregelt werden. Die Idee, die Stockhausen eigentlich seit GRUPPEN verfolgte, war hier elektroakustisch möglich geworden, und er schwärmte: „Im Klang zu sitzen, vom Klang umgeben zu sein, die Bewegung der Klänge, ihre Geschwindigkeiten und Bewegungsformen zu verfolgen und erleben zu können, schafft tatsächlich eine vollkommen neue Situation des musikalischen Erlebnisses. Die ‚musikalische Raumfahrt’ hat mit diesem Auditorium endlich ihre dreidimensionale Räumlichkeit bekommen…“
In vielen anderen Werken Stockhausens spielt die räumliche Verteilung der Klangquellen eine signifikante Rolle. Kurz nach GRUPPEN entstand CARRÉ für vier Orchester und Chöre, die ebenso um das Publikum herum postiert werden. Und in seinem Wagners „Ring“ übertrumpfen zu scheinenden siebenteiligen Opernprojekt LICHT, das kurz vor dem Abschluß steht, kommen zu den vielfältigen Anweisungen zur Aufstellung der Musiker noch gestische Aspekte hinzu. Wie schon andeutungsweise in INORI erkennbar, werden in ritueller Grundhaltung wandernde Instrumentalklänge durch sich im Auditorium bewegende Musiker mit Bewegungsabläufen verknüpft. Die sicherlich eigenwilligste und spektakulärste Form räumlicher Konzeption markiert wohl das sogenannte HELICOPTER-QUARTETT. Zunächst selbständig, als Auftrag der Salzburger Festspiele in den Jahren 1992-94 entstanden – quasi als kompositorische Realisation eines Traumes, in dem er die vier Musiker des Arditti-Quartetts in Helicoptern über die Festspielstadt schweben sah – hat er das Stück in den MITTWOCH des LICHT-ZYKLUS’ eingegliedert. Eine geradezu utopische Idee, die kommende Aufführungen nicht nur logistisch, sondern auch finanziell überstrapazieren wird: die Klänge der vier Spieler, die in den Helicoptern sitzen, werden über Lautsprecher ins Auditorium übertragen und diese Klänge mischen sich mit den Geräuschen der Rotorblätter der Helikopter über den Zuhörern … Es gibt mittlerweile eine CD-Aufnahme dieses gut halbstündigen Stückes, aber ich erspare mir an dieser Stelle ein Hörbeispiel daraus, weil mir persönlich das klangliche Ergebnis dieses ohne Zweifel alles andere bisher Vorstellbare an Raum-Musik in den Schatten zu Stellende letztlich doch ziemlich dürftig erscheint. – Aber unerwähnt sollte es nicht bleiben.
III.
Und noch einmal die Frage: hat Stockhausen mit den GRUPPEN tatsächlich den Grundstein zu neuen Formen von Raummusik gelegt? – Im 18. und 19. Jahrhundert spielte der Aspekt des Raumes eine untergeordnete Rolle für die Komponisten, sieht man einmal ab von ein paar Ausnahmen, wie beispielsweise den Ferntrompeten in Mahlers 2. Symphonie. Aber mit Beginn des 20. Jahrhunderts rückt – auch bedingt durch das Aufbrechen in die freie Tonalität und mitbefördert durch neue kompositorische Techniken, nicht zuletzt der elektronischen Musik – der Raum als Komponente deutlicher ins Bewußtsein der Komponisten. Und mir scheint, es war nicht Stockhausen, sondern vielmehr ein Außenseiter, ein unerschrockener Experimentator, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die entscheidenden Wurzeln für eine wirklich neuartige Einbeziehung des Raumes als musikalische Dimension ausprägte: es ist der amerikanische „Sonntagskomponist“ Charles Ives. Lange bevor der Begriff „Zeitschichten“ in theoretischen Auseinandersetzungen mit musikalischen Phänomenen auftauchte, schrieb Ives eine Musik, die mit Collage-Techniken genau dies tut: mehrere voneinander unabhängige musikalische Schichten überlagern sich, jede folgt ihren eigenen Ordnungsprinzipien und einer eigenen Logik. Sein kleines Orchesterstück THE UNANSWERED QUESTION aus dem Jahr 1908 mag dafür ein Beispiel sein: die innere Spannung der drei unterschiedlichen musikalischen Ebenen erwächst aus ihrer eigentlichen Bezugslosigkeit und dem Kontrast ihrer Gestik. Ein vierstimmiger, ganz tonaler Streichersatz, der einem weitgespannten Choral gleicht, durchzieht, stets ppp 'con sordino' gespielt, ohne Tempowechsel das ganze Stück und scheint auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit suggerieren zu wollen. Über diesem sehr langsamen und getragenen, rein diatonischen Klanghintergrund erklingt sieben Mal eine kurze unbestimmte, nicht tonale Phrase der Trompete (,Frage'), deren Gestalt sich nur unwesentlich verändert. Ohne rhythmischen Bezug zu den Streichern und in der Tonalität genauso unbestimmt wie die kurze Trompeten-Phrase scheinen die vier Holzbläser mit ihren Einwürfen, die jedesmal in ihrer Dynamik und ihrem Tempo unruhiger und hektischer werden, der Trompete antworten zu wollen. Nur bei den Holzbläsern ist eine deutliche, zunehmende Veränderung wahrzunehmen, während sowohl die Trompete als auch die Streicher ganz unbewegt davon in ihrem Ausdruck verharren. Der sich ins Nichts (pppp) auflösende, über 4 ½ Takte gehaltene G-Dur-Dreiklang scheint, wie in die Unendlichkeit gedehnt, die Unbestimmtheit der Trompeten-Phrase auffangen zu wollen. Doch ohne 'Antwort' der Holzbläser bleibt sie, über dem G-Dur-Streicherklang ein letztes Mal gespielt, imaginär im Raum hängen. Zwar sind hier die drei Instrumentalebenen nicht wirklich im Raum getrennt, aber ihre völlige Unabhängigkeit voneinander suggeriert eine imaginäre Räumlichkeit. Ähnliches gilt auch für sein schon zwei Jahre zuvor entstandenes Orchesterstück CENTRAL PARK IN THE DARK: auch hier gibt es unterschiedliche Klangebenen, die geschichtet werden, ja sogar zitathaft der damals beliebte Ragtime-Song „Hello My Baby“ zur Charakterisierung seiner programmatischen Idee als eine Schicht erscheint.
Der entscheidende Schritt in die akustisch räumliche Dimension gelingt Ives aber in seiner UNIVERSE SYMPHONY, einem geradezu visionären Entwurf, den er selber allerdings nicht mehr zu Ende führen konnte. Es war wohl seine ambitionierteste Komposition; die ersten Entwürfe stammen von 1911–15, weitere Skizzen kamen zwischen 1927 und 1932 hinzu und bis drei Jahre vor seinem Tod 1951 fügte er immer wieder ein paar Noten hinzu. Ives schwebte zunächst eine extrem, fast utopisch große Besetzung für die UNIVERSE SYMPHONY vor: es sollten bis zu 4520 Musiker eingesetzt werden, die in „5 bis 14 Gruppen“ aufzuteilen wären – so Ives in einem seiner Memos (schon er spricht hier also von „Gruppen“). Die Idee einer wahrhaft universalen Symphonie, mit der Ives alle Grenzen irdischer Musizierpraxis sprengen und die Trennung zwischen Klangquelle und Musikhörer aufheben wollte. Ein riesig besetztes Werk, im Freien aufgeführt, sollte den Zuhörern die Möglichkeit geben, zwischen ständig wechselnden Klängen zu wandeln. Viele Orchestergruppen, zahllose kompositorische Schichten, die übereinander gelegt und miteinander verschachtelt sind, machten das Werk zur grenzüberschreitenden Herausforderung für den Komponisten; später bat Ives Henry Cowell (einen ebenso unerschrockenen Experimentator), das Werk mit ihm zusammen zu vollenden. Dieser berichtete in einem imaginierten Szenario: „Mehrere unterschiedliche Orchester, mit großen Konklaven singender Männer und Weiber, sind in Tälern, an Abhängen und auf den Gipfeln zu postieren“ und „6 bis 10 verschiedene Orchester, untergebracht auf mehreren Berggipfeln, jedes in seinem eigenen, unabhängigen Zeitablauf in Bewegung, die einander nur treffen, wenn ihre Zeitzyklen zusammenfallen.“ Doch all dies blieb nur Plan. Erst der Komponist Larry Austin konnte nach Sichtung allen vorhandenen Materials und in langjähriger Arbeit (1974 – 93) eine aufführbare Fassung erstellen. Er reduzierte die Besetzung auf gut 200 Musiker, die in sieben Gruppen geteilt sind. Auch wenn die UNIVERSE SYMPHONY somit kein ganz authentischer Ives ist, läßt sich doch erahnen, welch visionäre, noch ungehörte Musik Ives vorgeschwebt hat: ein Klangkosmos überdimensionalen Zuschnitts. Ich hatte die Gelegenheit, eine Aufführung der UNIVERSE SYMPHONY im Rahmen der Kölner Triennale im Jahr 2000 mitzuerleben. Sie fand in einer großen romanischen Kirche statt. Der koordinierende Hauptdirigent, Peter Eötvös, forderte die Zuhörer auf, während der Aufführung durch den Kirchenraum zu wandern, denn nur so könne man einen richtigen Eindruck der Musik bekommen. Diese Form des wandernden Hörens entspricht ganz der Ives’schen Intention, und bei dieser Art der Rezeption hört jeder zur gleichen Zeit etwas anderes, denn die verschiedenen gleichzeitig spielenden Orchestergruppen sind somit jeweils unterschiedlich weit im Raum vom jeweiligen Hörer entfernt. Eigentlich ist es unmöglich, solch eine Musik adäquat auf einen Tonträger zu bannen, auch wenn sich seit kurzem durch die Surround-Technik die Abbildung räumlicher Musik ganz entscheidend verbessert hat. Hören wir dennoch einen Ausschnitt aus der UNIVERSE SYMPHONY, damit Sie zumindest eine Ahnung bekommen von der zukunftsweisenden Klangwelt, die Ives hier entworfen hat … und vielleicht bekommen Sie Lust, diese Klänge einmal real erklingend zu durchwandern …
Klangbeispiel: UNIVERSE SYMPHONY (Ives)
Einen an Ives gemahnenden utopischen Ansatz verfolgte auch Dieter Schnebel mit seiner monumentalen SINFONIE X, die zwischen den Jahren 1987 und 1992 entstand und bei den Donaueschinger Musiktagen 1992 uraufgeführt wurde. Dieses zweieinhalbstündige Werk bezieht zwischen seine Großteile den Einlaß des Publikums, die Konzertpause und den Ausgang als klingende Teile mit ein, wo Klangenvironments vom Tonband in den Zugangsräumen (Foyer, Treppen, Flure, etc.) unauffällig erklingen. Eingegliederte Fanfaren sollten sich möglichst draußen abspielen, z. B. auf den Balkonen des Konzertgebäudes. Schnebel schreibt zur Utopie der Sinfonie: „die aufs noch nicht Realisierbare aus ist, nicht nur in die Zukunft weist, sondern solche will. Darum Einbeziehung des Überdimensionalen, ja des Unmöglichen. Beethovens Neunte, Mahlers Achte meinen Zukunftsmusik – sind freilich als solche nicht recht gelungen, weil der ‚Wirklichkeitssinn’ (Musil) denn doch über den ‚Möglichkeitssinn’ obsiegte. Wirklich utopisch aber sind die Projekte Skrjabins und Ives’. Darin die Idee des Universalen, Allumfassenden.“
Ich möchte an dieser Stelle noch ein anderes monumentales Werk erwähnen, das mir ganz in der Tradition von Ives zu stehen scheint und welches sogar versucht, das von Henry Cowell zur UNIVERSE SYMPHONY Erträumte doch Wirklichkeit werden zu lassen. Zur Jahrtausendwende haben sich in Montreal 19 Komponisten unter der Federführung der kanadischen Komponisten Walter Boudreau und Denys Bouliane zusammengetan, um gemeinsam eine MILLENIUMS-SYMPHONY zu komponieren. Alle musikalischen Kräfte der Stadt, vom Sinfonieorchester über Chöre bis zur Feuerwerkskapelle, wurden aktiviert und am 3. Juni 2000 erklang dann diese Komposition auf 15 Bühnen, die ‚open air’ an verschiedenen Stellen auf einer Fläche von etwa einem Quadratkilometer verteilt waren; hinzu kamen noch die Glocken der Montrealer Kirchentürme. Etwa 70000 Zuhörer verfolgten das spektakuläre, über zweistündige Klang-Ereignis. Da Sie kaum Gelegenheit haben werden, diese Komposition irgendwo zu hören, denn diese Aufführung im Jahr 2000 wird vermutlich einmaliges Ereignis bleiben, möchte ich zumindest einen Satz daraus ganz kurz anspielen. INFERNO ist er betitelt: die Klänge springen filmschnitthaft, oftmals nur in kurzen Fetzen von Bühne zu Bühne – und damit von einer „Komponistenhandschrift“ zur anderen …
Klangbeispiel: MILLENIUMS-SYMPHONY
IV.
Daß die von Ives aufgeworfenen „offenen Fragen“ (auch Fragen die Dimensionen von Zeit und Raum betreffend) ihre Schatten bis weit in die jüngste Vergangenheit werfen, davon mag auch ein kleines Stück von György Kurtág zeugen, das ich Ihnen nun vorstellen möchte. 1989 komponierte er LIGATURA – MESSAGE TO FRANCES MARIE (The answered unanswered question) op. 31b für zwei Violoncelli, zwei Violinen und Celesta. Schon der in Klammern gesetzte Untertitel verweist auf das eben erwähnte Orchesterstück von Charles Ives. Die seltsam harmonisch offenen, langsam schreitenden Klänge der Celli, die mit zwei gleichzeitig verwendeten Bögen ausgeführt werden – sie erinnern ganz entfernt an den choralartigen Streichersatz in Ives’ Stück – finden hier ihr (auch räumlich) entferntes Echo (Antwort) in den entrückten und gedämpften Geigenklängen, zu denen ganz am Schluß als weitere „himmlische“ Entrückung noch wenige Celesta-Klänge hinzukommen.
Klangbeispiel: LIGATURA – MESSAGE TO FRANCES MARIE (Kurtág)
Aber auch in anderen Werken hat Kurtág den Raum als kompositorisches Element einbezogen. So etwa in seinem DOPPELKONZERT op. 27 Nr. 2 (1989/90), wo den beiden Soloinstrumenten Klavier und Violoncello zwei separate und räumlich getrennte Ensembles zugeteilt sind, die zudem jeweils in sich auf verschiedenen Raumebenen aufgestellt werden. In dem 1987/88 zuvor entstandenen Klavierkonzert „…QUASI UNA FANTASIA …“ op. 27 Nr.1, wünscht Kurtág eine Aufstellung des Ensembles, die die einzelnen Instrumentengruppen möglichst vollständig separiert. Dies kann flexibel nach den jeweiligen räumlichen Möglichkeiten geschehen. Im Idealfall sollen auf der herkömmlichen Bühne nur das Soloklavier und die Pauken aufgestellt werden. Wenn mehrstöckige Galerienreihen es erlauben, sollen die Klangfarb-Register nach genauen Angaben auf dem mittleren und obersten Niveau des Saales weit voneinander entfernt postiert werden. Hierdurch werden Echowirkungen erreicht, die Weite und Ferne ermöglichen. Diese Wirkung wird noch unterstützt durch Klänge und Gestalten, die wie Allusionen einer längst vergangen, entfernten Zeit aufscheinen, wie etwa beim ersten Beginn des Konzertes, der gerade einmal 9 Takte umfassenden „Introduzione“ und dem Schlußsatz „Aria – Adagio molto“, womit zur räumlich-akustischen Distanz der Klänge noch eine Distanz des kompositorischen Materials imaginär mit einkomponiert ist.
Klangbeispiel: „…QUASI UNA FANTASIA …“ (Kurtág)
Viele neuere Konzertsäle, wie etwa die Berliner oder auch die Kölner Philharmonie, ermöglichen durch ihre architektonische Anlage mittlerweile eine variable Aufstellung der Musiker im Raum und damit eine angemessene Umsetzung solch räumlicher Anforderungen neuer Partituren. Und so entstanden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Werke, die auf unterschiedlichste Art und Weise den Raumklang nicht mehr eindimensional allein von der Bühne aus sich entfalten und wirken lassen, sondern nach jeweils eigenen kompositorischen Vorstellungen Klänge und Töne im Raum wandern oder miteinander dialogisieren lassen.
V.
Wenn es heute überhaupt noch so etwas gibt wie Avantgarde im emphatischen Sinne, nicht als verstaubtes Relikt vergangener Tage der sogenannten „Neuen Musik“, sondern als eine Geisteshaltung bedingungslosen und unbeirrbaren, und damit unabhängigen Forschens in der Welt möglicher Klänge, so muß der Name Helmut Lachenmann wohl mit an allererster Stelle genannt werden! Wenn man einmal seine ‚Nicht-Oper’, die „Musik mit Bildern“ (wie er es nennt) DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN gehört hat, bei der ebenfalls mehrere Instrumentalensembles um das Publikum herum gruppiert sind, wird einem dies auf eine ganz besondere Art und Weise noch einmal bewußt: querständig zum allgemeinen „anything goes“ wird man als Hörer (und in meinem Fall zudem als Komponist) hier offenen Ohres in eine magische und faszinierende Welt des bisher Ungehörten, in eine Klangwelt des Unerhörten hineingezogen. Das dort Klang gewordene Denken überredet nicht, sondern überzeugt kraft des ihm innewohnenden Ernstes um der Sache willen. Und nirgends scheint es mir zwingender und gelungener als in diesen zwei Stunden Musik von Helmut Lachenmann. Diese Musik ist unabhängig von ihrem Sujet in geradezu beängstigender Weise authentisch und utopisch zugleich.
Auch für die Musik von Luigi Nono gilt Gleiches in uneingeschränktem Maße! Und spätestens seit den Werken, die nach seinem epochalen, Kritiker und Publikum zunächst verwirrenden Streichquartett FRAGMENTE – STILLE, AN DIOTIMA (1979/80) entstanden, ist der Raum ganz wesentlicher Bestandteil seines kompositorischen Denkens und Forschens geworden. Mit der „Wende“ hin zum verletzlichen, verinnerlichten Klang, die das Streichquartett in seinem Schaffen markiert, begann für Nono das Suchen neuer Wege und damit ein Sich-Klarheit-verschaffen. Diese Suche führte ihn auch in das Freiburger Experimentalstudio des Südwestfunks, wo er durch den damaligen Leiter Hans Peter Haller neue Möglichkeiten der Live-Elektronik kennenlernte. Die dort gesammelten Erfahrungen, das Experimentieren mit modulierten Klängen, die durch „Harmonizer“ und „Vocoder“ ein Eindringen in den Ton selbst und dessen Selektionierung ermöglichte, so daß er getrennt im Raum bewegt werden konnte, führten dazu, daß Nono manche Partitur in mehrere Fassungen brachte und manche erst nach ihrer Uraufführung endgültig schriftlich fixierte. Der Werkbegriff hatte sich durch den Einbezug live-elektronischer Verfahren ins Offene geweitet. Das erste Stück, das im Freiburger Studio entstand, war DAS ATMENDE KLARSEIN für A-cappella-Chor und Soloflöte, wobei die Live-Elektronik hier nur bei den Flötenteilen Verwendung findet, die zwischen die Chorabschnitte eingefügt sind. Dieses Werk wurde für Nono aber der entscheidende Durchbruch in eine neue Welt der Klänge und in eine neue Form ihrer räumlichen Gestalt. In erstaunlich gedrängter Folge und oftmals in überraschend kurzer Zeit entstanden nun bis 1987 eine ganze Reihe von meist ausgedehnten Werken, die bis 1984 wie Stationen auf dem Weg zu seinem zentralen Bühnenwerk, der „Tragedia dell’ ascolto“ PROMETEO zu betrachten sind. In all diesen Werken nutzt Nono den Raum nicht nur durch den Einsatz der Elektronik, sondern auch, indem er unterschiedlich große Gruppen im Saal verteilt. Dabei hat er immer wieder auf die venezianische Mehrchörigkeit verwiesen, die zu den für ihn persönlich wichtigsten Wurzeln solcher Raum-Nutzung zählte. Auch der PROMETEO für Solisten, Chor, vier Orchestergruppen und Live-Elektronik wurde nach seiner Uraufführung am 29. September 1984 in der Kirche San Lorenzo in Venedig 1985 noch einmal, in manchen Abschnitten grundlegend überarbeitet, gekürzt oder völlig neu komponiert. In dieser revidierten Fassung, die erstmals 1985 in Mailand erklang, hat Nonos PROMETEO seitdem - meist in konzertanten Aufführungen (wie erst kürzlich wieder in Köln bei der Nono-Retrospektive im Rahmen der diesjährigen Triennale) – seinen Siegeszug begonnen, trotz des beträchtlichen Aufwandes, der für eine Aufführung zu erbringen ist. Es wäre verlockend, hier umfassender auf dieses so zentrale Werk in Nonos Schaffen einzugehen. Aber um allen Aspekten von Zeit und Raum und den damit aufgeworfenen Fragen zur Wahrnehmung in ihren Mikro- und Makrobereichen gerecht zu werden, die in geistiger und philosophischer Verbindung stehen zu dem, was Nono hier als prometheische Vision zu verwirklichen suchte, wäre mehr Zeit von Nöten, als sie mir hier gegeben ist.
Dennoch möchte ich Nono doch auch klingend zu Worte kommen lassen. Hierfür möchte ich aber den dritten Teil seines „Caminantes-Zyklus“ wählen, der nach dem PROMOTEO in den Jahren 1986-89 entstand. Nono, der sich in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder mit ungeahnter Radikalität in Frage stellte, der ein unruhig Suchender, ein alles Ideologische abstreifende Wanderer wurde, entdeckte während einer Spanienreise auf einer Klostermauer in Toledo eine Inschrift, die er zunächst für mittelalterlich hielt und unmittelbar auf sich selber bezog: „Wanderer, es gibt keinen Weg, es gibt nur das Gehen.“ Dabei handelte es sich in Wirklichkeit um ein verändertes Zitat aus einem Gedicht von Antonio Machado. Als Metapher seines eigenen Selbstverständnisses wurden diese Worte Auslöser seiner letzten Werke. CAMINANTES … AYACUCHO für Mezzosopran, Flöte, kleinen und großen Chor, Orgel, drei Orchestergruppen und Live-Elektronik ist das abschließende Werk der „Caminantes-Trilogie“ und bietet ein gutes Beispiel für die Verflechtung von geistigen Bezügen und kompositorischen Mitteln. Da ist zunächst wieder das Bild des Wanderers (Caminantes), dann der Name der peruanischen Stadt Ayacucho, in deren Nähe 1824 die Entscheidungsschlacht gegen die spanischen Kolonialherren stattfand, und die weltweit zum Symbol für Widerstand gegen Unterdrückung wurde, und zum dritten ist es die Gestalt des von der Inquisition zum Tode verurteilten Renaissance-Philosophen Giordano Bruno, von dem seiner Komposition ein lateinisches Sonett als Text zugrunde liegt. In diesem Gedicht beschreibt Bruno, wie der Mensch zu den Sternen aufblickt, die für ihn Freiheit und Utopie verkörpern. Nono erwähnt auch die Venezianer Andrea und Giovanni Gabrieli und die zeitgleiche spanische Tradition der Chorpolyphonie. So verwundert auch nicht die Raumaufteilung der vokalen und instrumentalen Chöre in nicht nur horizontaler, sondern auch vertikaler und diagonaler Anordnung, die verbindlicher Bestandteil der Komposition ist. Mit Ayacucho und Giordano Bruno als geistigem Hintergrund kehrt Nono auch wieder zu den politisch revolutionären Beweggründen seines künstlerischen Denkens und Handelns zurück, die für den jungen Komponisten so prägend waren. Viel deutlicher als in anderen Werken seiner letzten Jahre beschwört er hier mit aufrührerischen Bläserattacken und Schlagzeugeruptionen den Gedanken des Protestes und der Utopie. Das ins Extrem geweitete Klangspektrum, das auch eine besondere vierteltönige Stimmung der Streichinstrumente zu irisierenden Schwebungen von Clusterklängen nutzt, reicht bis in allerhöchste, kaum noch wahrnehmbare Liegetöne der Orgel. Auch hierin ist das Stück eine Grenzbeschreitung des Raumes, oder – wie Josef Häusler es in einer Einführung formulierte - : „Wollte man nach einer knapp zusammenfassenden Charakteristik […] suchen, so ließe sie sich vielleicht umreißen als Zusammenschau von Spekulation und Direktheit, als Manifestation von ‚Räumlichkeit’ im physischen und denkerischen Sinn.“
Klangbeispiel: CAMINANTES … AYACUCHO (Nono)
VI.
Eine Verbindung und Verflechtung von geistig philosophischen und handwerklich kompositorischen Überlegungen prägte auch das Schaffen von Bernd Alois Zimmermann. Und damit komme ich zum Schluß zu dem Komponisten, der in der entscheidenden Phase des Aufbruchs der Neuen Musik nach dem 2. Weltkrieg seine wesentlichen Werke schrieb, die – wie etwa seine Oper DIE SOLDATEN – eine ganz eigene Idee von Raum, Klang und Zeit verwirklichen. Fast zeitlich mit Stockhausens Aufsatz „…wie die Zeit vergeht…“ schrieb Bernd Alois Zimmermann 1957 seinen Text „Intervall und Zeit“. Während Stockhausen die Aspekte von Zeit sehr ausführlich, analytisch pragmatisch und physikalisch logisch beschreibt, spannt Zimmermann in seinem relativ kurzen Text ein Netz von philosophischen Bezügen. Anhand des Unterschiedes zwischen effektiver und erlebter Zeit in all ihren Gesichtspunkten, wie er sie in der Auffassung von Zeit und Zeitbewußtsein bei Plato, Aristoteles, Augustinus über Leibniz, Husserl bis hin zu Joyce, Ezra Pound und Heidegger bestätigt sieht, findet Zimmermann den Weg zu seinem zentralen schöpferischen Gedanken eines philosophisch verstandenen Pluralismus, der schließlich zum Begriff der „Kugelgestalt der Zeit“ als Einheit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem führt. Sein Hauptwerk, die Oper DIE SOLDATEN, ist klingendes Dokument dieser pluralistischen Auffassung und stellt gleichzeitig die Zusammenfassung all dessen dar, was seinen Leitgedanken von der Einheit aller Zeiten und Räume bestimmt. So entsteht hier ein szenischer Pluralismus durch die Schichtung und Gleichzeitigkeit mehrerer Szenen der Textvorlage, ein stilistischer Pluralismus in der Wahl der künstlerischen Mittel durch die Gleichzeitigkeit von Musik, Tanz, Sprache, Film sowie konkreten Geräuschen und elektronischen Klängen, ein musikhistorischer Pluralismus in Form von Zitaten aus verschiedenen Epochen und ein Pluralismus in der musikalischen Struktur durch die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Tempi. All dies findet sich auch in seinem REQUIEM FÜR EINEN JUNGEN DICHTER, das in seinen letzten Jahren zwischen 1967 und 1969 entstand. Hier geht er jedoch noch einen Schritt weiter in den Simultanitäten und collage-artigen Schichtungen, und im REQUIEM umschließt Klang und Text permanent und nicht nur gelegentlich, wie in einigen Szenen der Oper, das Auditorium. Eine gewaltige Häufung musikalischen Materials und eine Kulmination an Klang- und Textverflechtungen, die an der Grenze der Realität selbst noch heutiger Aufführungspraxis liegt, lassen das einstündige Werk wie eine Synopsis unseres Zeitalters erscheinen.
Lassen Sie mich, bevor wir nun einen Ausschnitt aus dem REQUIEM hören, Zimmermann etwas ausführlicher zitieren; er schreibt: „Bei dem ‚Requiem für einen jungen Dichter’ ist nicht an einen bestimmten jungen Dichter gedacht (obwohl drei Dichter, nämlich Majakowski, Jessenin und Bayer, in dem Werk besonders hervortreten), sondern gewissermaßen an den jungen Dichter schlechthin, wie wir ihn uns für den Zeitraum der vergangenen fünfzig Jahre vorstellen können, in seinen vielfältigen Beziehungen zu dem, was seine geistige, kulturelle, geschichtliche und sprachliche Situation bestimmt - und damit die unsrige, die europäische von 1920-1970 meint. Die Auswahl der Texte wurde unter diesem Gesichtspunkt vorgenommen. Es sind dies neben dem lateinischen Text der Totenmesse Ausschnitte aus den Dichtungen von Majakowskij, Joyce, Pound, Camus, Jahnn, Weöres, Schwitters und Bayer, des weiteren Auszüge aus den philosophischen Untersuchungen von Wittgenstein und Abschnitte aus Reden von Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus den verschiedensten Anlässen innerhalb des genannten Zeitraumes. Das Requiem heißt im Untertitel ‚Lingual’: Sprachstück. In ihm treffen sich die Formen der oben genannten Dichtungen mit denen des Hörspiels, des Features, der Reportage mit solchen der Kantate und des Oratoriums. Es gibt darin vielfache Übergänge von der gesprochenen Sprache zum in Musik gesetztem Sprechen und endlich bis zum gesungenen Wort. Dabei wird die Sprache an sich in den verschiedensten Bereichen mannigfach behandelt: das Wort an sich bleibt jedoch in seinem Ganzen erhalten. Es wird vielmehr als Einzelnes, wie auch in Gruppen, aus dem syntaktischen Zusammenhang der Sprache herausgelöst und zu weiteren Gruppen zusammengefaßt, die dann nach Prinzipien der musikalischen Komposition zu sprachlichen Montagen gefügt werden. Das geschieht mittels rhythmischer Verfahren, die man vergleichsweise isorhythmisch nennen könnte. Infolge dieses Verfahrens tritt das Semantische zurück und der den jeweiligen Sprachen eigene Sprachklang vor allem gewinnt musikalische Qualifizierung. […] Zwischen Sprache und Musik befindet sich das Lingual gewissermaßen auf einer dritten Ebene. Das eine wird nicht der Herrschaft des anderen unterworfen, sondern beide zu einer weitestgehenden Durchdringung geführt. Chöre und elektronische Klänge, Geräusche und Montagen treffen sich auf dieser Ebene ebenso wie die Collagen politischer Geschehnisse und die Aktionen von Sprechern, Gesangssolisten, Jazz-Combo und Orchester. Das Werk […] besteht im wesentlichen aus vier großen Teilen, die ineinander übergehen, beginnend mit dem weit ausgeführten Prolog mit Zitaten aus Joyce, Wittgenstein, Ausschnitten aus Reden von Papst Johannes XXIII. und Dubcek und stimmlich sehr dicht geführten Männerchören, dann übergehend zum Requiem I, das fast ausschließlich von den Lautsprechergruppen kommt, die das Publikum ringförmig umgeben, zum Requiem II, das vornehmlich den Gesangs-Solisten, dem Chor und dem Orchester vorbehalten ist und schließlich zu dem »Dona nobis pacem«, in dem alle Mittel zusammengefaßt werden.“
Klangbeispiel: REQUIEM FÜR EINEN JUNGEN DICHTER (Zimmermann)
VII.
Nachdem nun fast ausschließlich größer besetzte Stücke vorgestellt wurden – zu kammermusikalischen komme ich anschließend im zweiten Vortrag über das „Komponieren unter Einbeziehung des Raumes“ am Beispiel der eigenen Arbeit **) – möchte ich als kurze „Nachlese“ zum Thema dieses Vortrages noch ein kleines Stück erwähnen, das Sie an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang vielleicht überraschen wird. Es entstand 1952, also fünf Jahre vor den beiden erwähnten wichtigen theoretischen Texten von Zimmermann und Stockhausen, und könnte als die wohl eigenwilligste und originellste Stellungnahme zu den Fragen, was ist Zeit, was ist Klang und was ist Raum, gedeutet werden: es ist das berühmte „stille“ Stück 4’ 33“ von John Cage. Scheinbar klingt nichts, denn die ausgemessene Zeit von 4 Minuten und 33 Sekunden verharrt der Musiker stumm vor seinem Instrument. Jedoch gibt es, wie wir wissen, die absolute Stille nicht. Selbst in einem schalltoten Raum hören wir: … nämlich unseren Körper. Es ist Cages Verdienst, bewußt gemacht zu haben, daß das Nicht-vorhanden-Sein von Klängen doch auch Klingen bedeutet. Und in diesem Fall beginnt in der Tat der Raum zu klingen: zunächst ist es der eigene Herzschlag, den man vielleicht vernimmt, dann das leise Ticken einer Uhr, möglicherweise ferne Geräusche außerhalb des Saales, und das in seiner Erwartung überraschte Publikum wird wahrscheinlich unruhig werden, womit weitere Geräusche entstehen … der Impuls, der durch Ereignislosigkeit auf der Bühne in den Zuhörerraum überspringt und dort nicht vorhersehbare „Klänge“ erzeugt, wird auch ein besonderes Empfinden für Zeit erzeugen: viereinhalb Minuten können plötzlich erstaunlich lang wirken …
Wir machen nun eine kleine Pause … und vielleicht nehmen Sie das, was Sie in dieser Pause um sich herum hören – Kaffeetassen, Saftgläser, Türenschlagen und Wortfetzen – weiter entfernt oder auch näher, ganz im Cage’schen Sinne als „Raumklang“ und „Klangraum“ wahr …
© 2004 Michael Denhoff
*) Vortrag, gehalten am 1. September 2004 im Rahmen der Tagung „Klangraum: Die Orte von Musik und Gesang im Kirchenraum“ in der Akademie „Franz Hitze Haus“ in Münster.
**) dieser Vortrag wurde in freier Rede gehalten. Dabei wurden u. a. folgende eigene Werke erläutert und vorgestellt:
Traumgesicht und Morgenlied op. 29, 1+2 Two once so one op. 66 Innenräume … erinnernd op. 71 Circula el tiempo op. 72 …as when no words op. 77 Hauptweg und Nebenwege op. 83 In unum Deum op. 93
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