MICHAEL DENHOFF

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Max Reger, ein für die Musik des 20. Jahrhunderts

zu Recht unterschätzter Komponist!?

 

Eine Musikbefragung

 

 

Max Reger, ein für die Musik des 20. Jahrhunderts zu Recht unterschätzter Komponist !? - Wertende Behauptung und offene Frage zugleich. Ziel meiner Überlegungen ist es, anhand einiger Aspekte des Reger'schen Werkes aus der ganz persönlichen Sicht eines Komponisten zu Regers Bedeutung Stellung zu nehmen, also zu einer Antwort auf die bewußt janusköpfig formulierte Fragestellung zu kommen. Grundsätzlich muß zunächst einmal festgestellt werden, daß der Musik Regers, unabhängig von ihrer möglichen kompositorischen Bedeutung, diese Bedeutung im normalen Konzertbetrieb bisher versagt geblieben ist. Allenfalls die Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132 haben sich einen sicheren Platz im Repertoire erobert. Dies sicherlich zu Recht, nicht nur wegen des gewiß populären Variationsthemas aus Mozarts oft gespielter Klaviersonate. Die Variationen dieses Themas zeigen die volle Meisterschaft im Umgang mit polyphonen Kunstmitteln und strengen Satzformen, zudem erscheint dieses Werk gleichzeitig wie ein Gipfel der Reger'schen Instrumentationskunst. Gewiß darf man auch dem recht umfangreichen Orgelwerk die Bedeutung nicht absprechen, es gehört vielleicht zum Wichtigsten, was seit Bach für dieses Instrument geschrieben wurde, und Reger bezieht sich vielfältig auf Bach, was nicht nur seine Äußerung jede Orgelmusik, die nicht im Innersten mit Bach verwandt ist, ist unmöglich" [1] bezeugt. Auch indem er die Orgel nicht nur als rein liturgisches Instrument versteht, sondern eben auch als "Konzertinstrument ersten Ranges“ [2], stellt er sich in die Nähe zu Bach. Die Reger'sche Orgelmusik hat ihren festen Platz im Repertoire fast jedes Organisten, wenngleich sie damit im eigentlichen Sinn noch nicht populär geworden ist. Aber Popularität ist per se noch kein Qualitätsmaßstab, oder besagt etwas über den Stellenwert.

 

Wie steht es nun um andere Werke von Reger? Wann sind seine Orchesterwerke im Konzertsaal zu hören? Wer kennt seine umfangreiche Kammermusik, die fast alle Gattungen von den Solowerken für Violine, Viola und Violoncello, den diversen Sonaten mit Klavier, über die Streichquartette, Klavierquartette, bis hin zum Klarinettenquintett und dem Streichsextett berücksichtigt? Wer spielt die zahlreichen Klavierstücke? Und wer weiß gar von der Unmenge an Liedern? Regers Musik ist heute zu ihrem größten Teil nahezu unbekannt. Die Rezeption seines Werkes hat nach seinem frühen Tode 1916 im umfassenden Sinn nie begonnen. Kolportiert wird eher Anekdotisches von und über Reger; hier teilt er das Schicksal mit Hans Pfitzner.

Trotz etlicher Erfolge zu Lebzeiten ist Regers Musik eigentlich stets als problematisch empfunden worden, und das, von welchem Standpunkt aus auch immer betrachtet, bis heute. Den Versuch einer relativ objektiven Begründung der schweren Eingängigkeit unternahm Alban Berg, wenn er sagte, daß Reger "als einzige Ausnahme (neben Schönberg) [...] ziemlich freie und, wie er selbst sagt, an Prosa gemahnende Konstruktionen bevorzugt", während weder "Harmonik, geschweige der Kontrapunkt seiner Satzweise [...] danach angetan [sind], das Verständnis seiner musikalischen Sprache zu erschweren“ [3]. Ansonsten überwiegen die kontroversesten Urteile und Wertungen zu seiner Musik, die oft in einem Atemzug auch die künstlerische Persönlichkeit einbeziehen. Die Palette der Stellungnahmen reicht von heftigster Ablehnung bis zu kritikloser Bewunderung. Interessant und gleichzeitig bezeichnend im Hinblick auf den Wirkungskreis der Reger'schen Musik auf nur wenig jüngere Komponisten mögen die beiden folgenden Äußerungen sein; während Paul Hindemith sagt: Max Reger war der letzte Riese in der Musik. Ich bin ohne ihn gar nicht zu denken" [4] äußert sich lgor Strawinsky 1957 so: „Ich erinnere mich auch, Max Reger in diesen Jahren getroffen zu haben [ ... ] Ich fand ihn ebenso abstoßend wie seine Musik." [5] Hier wird in zwei Extremen das ausgesprochen, was das Phänomen Reger ausmacht: Reger ist und war der Inbegriff des Riesenhaften, des Opulenten und Gewaltigen, der Maßlosigkeit und Übertreibung. Im Umfeld meiner Überlegungen zu diesem Vortrag stellte sich im übrigen bei Gesprächen mit einigen meiner Komponistenkollegen heraus, daß dieses Reger-Bild fast unverändert weiterbesteht. (Amüsant und vielleicht nur für Insider der deutschen Komponistenszene nachvollziehbar ist die Tatsache, daß bei diesen Gesprächen bei der Namensnennung Regers oft sofort der Name Wolfgang Rihm assoziiert wurde, der z. Z. wohl erfolgreichste Komponist unserer Generation, den auch ich selbst gerne als den 'Reger des ausgehenden 20. Jahrhunderts' bezeichne, ohne dabei die Musik Rihms mit der von Reger qualitativ gleichsetzen zu wollen; hier deckt sich nur das oberflächlich äußere Erscheinungsbild von Person und Musik.)

 

Die klangliche, harmonische und kontrapunktische Überfrachtung, die man der Reger'schen Musik zuschreibt, lassen ihn auf den ersten Blick eher als einen Vertreter der Spätromantik des 19. Jahrhunderts in Übertreibung erscheinen. Dabei vergißt man allzu leicht, daß der wesentliche Teil seines kompositorischen Schaffens in den Beginn unseres Jahrhunderts fällt. Und so zeigt sich an Reger nur beispielhaft die Widersprüchlichkeit dieser Zeit und die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Strömungen, die heterogenen Tendenzen und Gestalten faßlich zuzuordnen. Noch 1950 steht in der 10. Auflage des Lehrbuches der Musikgeschichte von Hans Joachim Moser: „Die Gesamterscheinung Regers gibt dem um die Frage nach seiner geschichtlichen Sendung Bemühten viele Rätsel auf: sollte er der Schlußpunkt hinter Brahmssens Spätklassik, der Vollender der musikhistorischen Renaissance des 19. Jh.s werden? Oder der endliche Versöhner der Brahmswelt mit dem Neudeutschtum? Der Wiederbeleber kammermusikalischer Intimität und feiner Hausmusik oder der Wegweiser eines neuen Dekorativstils in Kirche und Konzert? [ ... ] War seine polyphone Gabe ein Treppenwitz des Musikschicksals, das ihn besser zu Bachs Zeiten in die Welt hätte entsenden sollen, oder ist er machtvoller Wegbereiter eines neuen musikalischen Denkens in waagrechten Verwebungen gewesen? Vielleicht all dies Zeitgemäße und Unzeitige zugleich, [ ... ] ein echter Besessener; und eines der seltsamen Janusbilder, wie sie immer als ernste Torsogestalten auf der Paßhöhe kunstgeschichtlich entscheidender Übergangszeiten stehen.“ [6]

 

Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal die musikgeschichtliche Situation, in die die Lebensdaten Regers fallen. Max Reger ist 1873 fast zeitgleich mit Alexander Skrjabin (1872), Arnold Schönberg (1874) und Maurice Ravel (1875) geboren. Zudem ist er quasi auch noch Zeitgenosse von Gustav Mahler, der, knapp dreizehn Jahre älter als Reger, nur fünf Jahre vor ihm stirbt. Andere Zeitgenossen, wie etwa Debussy, Strauss, Busoni, Pfitzner - um nur einige zu erwähnen - wären zu nennen, doch markieren schon die erstgenannten signifikant das musikalische Umfeld. Es ist die Zeit des Überganges vom 19. in das 20. Jahrhundert, eine Epoche, die, wie keine andere zuvor, einen radikalen Umbruch der musikalischen Sprache mit sich brachte. Eigentlich die Situation aller Künste war zur Jahrhundertwende bestimmt durch die Übersteigerung all dessen, was man vom 19. Jahrhundert ererbt hatte. Gleichzeitig ging es um den Versuch eines Neubeginns, denn die formalen Bildungen im Harmonischen wie im Instrumentalen waren an ihre Grenzen gestoßen und ließen keine Weiterentwicklung mehr zu. Analog zur Abstraktion in der bildenden Kunst, wo Farben und Formen sich als Elemente der Bildkompositionen verselbständigten, löste sich die traditionelle Harmonik des funktional eingebundenen Satzgefüges auf, ein Akkord hatte nicht mehr sein eindeutiges Vorher und Nachher, sondern wie Liszt sagte: jeder Akkord konnte jedem Akkord folgen. Was mit dem oft bemühten Tristan-Akkord begonnen hatte, führte zur Aufbrechung des alten Systems. Offene, mehrdeutige Akkorde, deren Fortschreiten nicht mehr vorhörbar ist, finden sich in vielen Werken der Jahrhundertwende, in Strauss „Elektra“, in Mahlers Neunter und Zehnter Symphonie, bei Debussy, der Klangrückungen wie Farbwerte behandelt, bei Skrjabin, der eine eigene harmonische Sprache entwickelte, wofür als Beispiel nur sein Prometheus-Akkord, ein 6-Ton-Gebilde aus reinen, übermäßigen und verminderten Quarten, genannt sein soll. Und eben auch Reger war um eine Ausweitung der tonalen Basis bemüht und hat damit das musikalische Weltbild um die Jahrhundertwende mitgeprägt. Den vierten Satz des Zweiten Streichquartetts op. 10 von Schönberg, der oft vielleicht etwas voreilig als der Beginn des musikalischen 20. Jahrhunderts gewertet wird, sah Schönberg selbst als eine Zusammenfassung der nach Auflösung des traditionellen Gefüges strebenden Tendenzen seiner Zeit und er formulierte: "Die Entwicklung hat dazu gedrängt. Am meisten vielleicht hat Richard Strauss ein Verdienst hieran und Gustav Mahler, aber auch Debussy und Max Reger, ja auch Pfitzner haben kräftig vorgestoßen" [7]. Nicht nur hier artikuliert sich, welche Bedeutung Reger für die Neuorientierung der Harmonik eingeräumt wird, bemerkenswert ist außerdem, daß gerade in den ersten Jahren des „Vereins für musikalische Privataufführungen“ im Kreis um Schönberg Reger einer der meistgespieltesten Komponisten war. (Dort erklangen laut Prospekt vorn September 1919 die Violoncellosonate op. 116, Introduktion, Passacaglia und Fuge für zwei Klaviere op. 96, die Klarinettensonate op. 107, Acht Klavierstücke op. 115 und das Klarinettenquintett op. 146 [8].) Hier, im Umkreis der zweiten Wiener Schule mit Schönberg, Berg und Webern, hatte die Musik Regers ihren Stellenwert gleichberechtigt neben Strawinsky, Debussy, Ravel und Bartók. Sicherlich nicht zufällig erscheinen in diesen Programmen ausschließlich späte Werke Regers, die alle gerade in den langsamen Sätzen eine unverwechselbare Eigensprachlichkeit entwickeln, die allenfalls auf den Sprachduktus der langsamen Sätze in Beethovens Spätwerk beziehbar oder von ihm ableitbar sind. Hier findet man in den melodischen Gestalten auch jenen Hang zur Auflösung der eindeutigen Beziehbarkeit, ein harmonischer Schwebezustand entsteht durch die reichhaltige Verwendung von Alterationen, chromatischen Durchgängen, harmoniefremden Vorhalten, etc. Wollte man mit der Meßlatte der herkömmlichen Analyse an diese Musik herangehen, so würden die Grenzen der Definition mit traditionellen Mustern deutlich werden. Dies gilt sowohl für die harmonische Analyse als auch für die Merkmale des periodischen Phrasenbaus der Themengestalten.

 

Um eine Klangahnung davon zu vermitteln, möchte ich den Anfang des Adagios aus dem fis-moll Streichquartett op. 121 hier anführen. Dies nicht ohne Grund! Zum einen meine ich, daß dieser Satz exemplarisch für das Bestreben um Grenzerweiterung der Tonalität bei Reger stehen kann und dies in diesem Fall in der vielleicht glücklichsten Form, ohne damit die eigenartige Poetik anderer langsamer Sätze, z. B. den der Cellosonate op. 116, abwerten zu wollen. Zum anderen steht dieses Streichquartett von Reger in direkter zeitlicher Nähe zum Zweiten Streichquartett von Schönberg, das, nur drei Jahre vor Regers Quartett entstanden, im dritten und vierten Satz über die chromatische Vieldeutigkeit in den Bereich der freien Tonalität vorstößt. Beide Streichquartette stehen übrigens in fis-moll, was Zufall sein mag, aber auch Anlaß zu Spekulationen geben könnte.

 

Beispiel 1: Streichquartett fis-moll op. 121, 3. Satz, T. 1-12

 

 

       (Mit freundlicher Genehmigung des Ernst Eulenburg Verlages, Mainz)

 

Aus der ersten musikalischen Einheit von zwölf Takten entwickelt sich ein langatmiger Bogen von äußerster innerer Intensität, bei dessen Entwicklung nicht nur melodisch intervallische Bestandteile der Linienführung, sondern auch gestisch rhythmische Gestalten formbildend werden. Der Reger oft gemachte Vorwurf der melodischen Kurzatmigkeit greift hier nur oberflächlich. Das musikalische Innehalten oder kleine motivische Absplitterungen sind nur Bestandteile eines größeren gedanklichen Redeflusses, sie signalisieren den Sprachcharakter der Musik.

 

Schon allein an der melodischen Linie der ersten Violine zeigt sich, wie hier der klare periodische Bau vermieden wird zugunsten eines frei gestalteten, fast rezitativisch anmutenden Gesanges. Nach dem noch klaren Beginn mit einem kleinen Terzsprung nach oben fällt die Linie in scheinbarer Zufälligkeit und rhythmischer Ziellosigkeit über eineinhalb Oktaven, wobei die nahezu vollständige Verwendung aller chromatischen Töne auffällt. Hiermit entzieht sie sich sofort einem tonalen Zentrum. Auch der harmonische Begleitsatz der drei anderen Streicher befindet sich in stetigem Strömen, da klare Akkordbildungen nur rudimentär und flüchtig entstehen. Die Ausgangstonart des Satzes, B-dur, wird gleich im ersten Takt verlassen, und in Gegenbewegung zur Oberstimme der ersten Violine bewegt sich der Satz in einem harmonischen Schwebezustand. Der steten harmonischen Umdeutung einzelner Akkordtöne entspricht die Verunklarung von Phrasenende und Phrasenanfang bei der Linienführung der einzelnen Stimmen. Es ist eine Musik der Übergänge und Zwischenwerte: musikalische Prosa [9].

 

Zwar wurde der Begriff der musikalischen Prosa erstmals bei Reger angewendet - und Schönberg hat ihn unabhängig von Reger übernommen -, doch gibt es schon frühere Beispiele der Tendenz zur Prosaisierung in vielfacher Gestalt. So etwa bei Wagner, dessen Opernkonzept vom Ideal des Durchkomponierens bestimmt war, oder auch bei Liszt und Strauss, den Vertretern der Programmsinfonie, ebenso bei Berlioz, dessen epochemachende Symphonie fantastique als musikalisches Psychogramm starre Periodik oder Symmetriebildungen vermeidet. Vielleicht läßt sich sogar das, was Reger und auch Schönberg unter dem Begriff der Prosa verstanden, schon wie einen frühen Vorläufer in der Renaissance-Musik finden, die das Gesetz der festen Metrums- und Takteinteilung ignorierte, oder zumindest nicht so starr anwendete, freie Periodenbildungen hatte und oft auch in der kontrapunktischen Verflechtung harmonisch aufregende Wendungen benutzt. Der Aspekt der ,freien Rede' von Musik trat, nachdem er im Barock und in der Klassik eine untergeordnete Rolle spielte, als sprengende Kraft nicht ohne Zufall gleichzeitig mit dem Bemühen um eine neue klanglich-harmonische Sprache um die Jahrhundertwende in das Bewußtsein des kompositorischen Denkens, und hat, - wenngleich den Terminus ,Prosa' auch nicht direkt benutzend, Bedeutung für viele Komponisten bis heute.

 

Doch werfen wir nun einen Blick in das fis-moll-Quartett von Schönberg, um zu sehen, wie sich das Bestreben um formale und harmonische Erweiterungen dort artikuliert. In den beiden letzten Sätzen tritt eine Singstimme mit zwei Gedichten von Stefan George zum Quartett. Der dritte Satz ist als Thema mit Variationen angelegt, das rein instrumentale Thema umfaßt ganze neun Takte:

 

Beispiel 2: Arnold Schönberg, Streichquartett fis-moll op. 10, 3. Satz, T. 1 – 9

 

 

(© Copyright 1912 by Universal Edition. Copyright renewed 1940.

Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G., Wien)

 

Der Streichquartettsatz ist hier extrem ausgedünnt zu einem Solo der Viola, die rezitativisch zwei im Gestus gegensätzliche Phrasen intoniert. Harmonisch beleuchtet wird dies nur rudimentär von einer versetzten Wechselnotenbewegung im Terzabstand von Violine 1 und Violoncello. Quasi als Nachsatz folgt ein amorphes Unisono in großen Notenwerten von Violine 2 und Violoncello. Die erste Phrase der Viola scheint sich harmonisch eindeutig in es-moll zu bewegen, weicht lediglich auf der Schlußnote in die Dur-Terz g aus. Doch durch das spätere Einsetzen der ersten Violine und des Violoncellos auf ges und b wird dem Bratschensolo sein tonales Zentrum entzogen. Der dadurch entstandene harmonische Schwebezustand zwischen den beiden terzverwandten Tonarten es-moll und Ges-Dur mündet auf leichter Zeit überraschend in ein klingendes G-Dur, welches durch das Zurückfallen der Violine auf b sich darauf flüchtig zu g-moll eintrübt; die eigentliche Dur-Terz der Viola hat sich als neuer Grundton entpuppt. Schon die zweite Phrase der Viola bringt eine weitere Auflösung der tonalen Zielstrebigkeit, nach dem es-moll Auftakt mündet sie über eine übermäßige Dreiklangsbildung in die alleinstehende Schlußnote f. Damit ist jede harmonische Orientierung verloren gegangen. Dieser Zustand wird durch die amorphe Gestalt des Unisono, welches sich anschließt, noch bekräftigt.

 

Es wird deutlich, daß es in Varianten Ähnlichkeiten in der Verunsicherung formaler wie harmonischer Gestalten bei Schönberg und Reger gibt, wobei Schönberg dies mehr in der Reduktion erzielt, bei Reger hingegen eher eine komplexe Verzahnung diesen Auflösungsprozeß einleitet. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch Reger sehr oft die scheinbare Ziellosigkeit eines amorphen Unisono oder die Reduktion in die Einstimmigkeit als kompositorische Mittel zur Aufhebung einer tonalen Zielgerichtetheit einsetzt.

 

Noch einen entscheidenden, radikalen Schritt weiter geht Schönberg im vierten Satz seines Streichquartetts, in dem, wie schon erwähnt, in weiten Teilen der Bezug auf einen Grundton fehlt. Dies wird schon allein daran deutlich, daß hier erstmals auf die übliche Fixierung der Tonart durch Vorzeichen verzichtet wird. Die chromatisch harmonische Vieldeutigkeit ist unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen und hat zur Absage an die Dur-Moll-Tonalität geführt. Stefan Georges prophetische Worte Ich fühle Luft von anderem Planeten finden hier ihre musikalische Entsprechung.

 

Beispiel 3: Amold Schönberg, Streichquartett fis-moll op. 10, 4. Satz, T. 15 – 28

 

 

Diese ‚Luft von anderem Planeten’ hat Reger nicht gefühlt, wollte und konnte es nicht. In den Sternstunden der Reger'schen Musik - und dazu zähle ich ohne Einschränkungen das zuvor erwähnte Adagio seines fis-moll-Quartetts - gibt es lediglich Tuchfühlung mit dem Umkippen in die freie Tonalität. Auch Regers eigene Äußerungen zeugen von seinem inneren Widerspruch zwischen Fortschrittsglauben und bewahrendem Traditionsbewußtsein. So prangert er in dem ihm typischen Sarkasmus das regressive Denken bei Musikinstituten an "bei denen die Musik mit Schumann, Brahms überhaupt ein Ende hat; [...] daß man oft in Gefahr kommen könnte, ernstliche Zweifel in die Intelligenz dieser Herren setzen zu müssen, wenn man nicht genauer wüßte, daß da lediglich fette Bequemlichkeit, Denkfaulheit, Neid, Verbitterung [ ... ] die Triebfeder solch' modernfeindlicher, damit aber auch kulturwidriger Denkungsart über uns Modeme sind!" [10] Und wenig später reagiert er in einem Brief an den Freund August Stradal auf die Klavierstücke op. 11 von Schönberg, die den Weg, der sich mit dem letzten Satz seines fis-moll-Quartetts geöffnet hatte, konsequent weitergehen, mit folgenden Worten: "Da kann ich selbst nicht mehr mit; ob so was noch irgend mit dem Namen ,Musik' versehen werden kann, weiß ich nicht: Mein Hirn ist dazu wirklich zu veraltet! [...] 0, es ist zum Konservativwerden. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß der Weg, den ich in op. 113 [Klavierquartett], 114 [Klavierkonzert], und 116 [Cellosonate] gehe, eher zu einem Ziel führt, als all die neuen Wege." [11]

 

Nun ging es in den Jahren um 1910 nicht in erster Linie um das Erreichen eines Zieles, sondern vielmehr um einen geistesgeschichtlichen und kulturellen Neuanfang. Dies war eine allgemeine Bewegung, die alle Kunstsparten betraf. Die Aufbruchstimmung führte in der Musik zur Suche nach neuen Tonsystemen und auch die überlieferten Formschemata konnten nicht mehr kritiklos als Hülse übernommen werden, sie mußten dem Wandel der Tonsprache Rechnung tragen. Natürlich geschah dies nicht nur eingleisig im Kreis um Schönberg, denn auch in Osteuropa gab es wichtige Strömungen. Daß der große Teil der nur wenig jüngeren Komponistengeneration, die an die von Schönberg beschrittene Ablösung von der Romantik anknüpften, hier einen Ausgangspunkt sahen, erklärt sich auch in der neuen, stark versachlichten geistigen Haltung im Verhältnis zum Kunstwerk, und ist durchaus als Reaktion auf die Überfrachtung, die semantische Überfütterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu verstehen.

 

Aber nicht nur die Dodekaphonie, die als Konsequenz lediglich eine Systematisierung der freien Tonalität ist und die in den 50er Jahren in die unheilvolle Sackgasse der seriellen Musik führte, sondern auch die Einbeziehung folkloristischer Elemente und ihres rhythmischen Kolorits, etwa bei Strawinsky und Bartók, bot eine tragfähige Möglichkeit zu einer Entwicklung einer neuen Tonsprache. In allen Fällen brachte die In-Frage-Stellung des Dur-Moll-Systems und die damit einhergehende Ablösung des Formbegriffs es mit sich, dass es keine fest verfügbaren und wiederholbaren Großformen mehr gab. Form durchbrechend mußten neue Formen und Gestalten gefunden werden, mit jedem Werk der Werkbegriff neu definiert werden. Selbstverständlich konnten dabei in freier Abwandlung und Erweiterung überlieferte Kompositionstechniken wie die des Dualismus von musikalischen Gedanken, die Variation, etc. auch weiterhin eine formbildende Rolle spielen. Reger hat nun ganz bewußt - nicht nur sein Werk, sondern auch zahllose verbale Äußerungen bekunden dies - auf traditionelle Kompositionsmuster gesetzt, auch dort wo er sich kontrapunktisch und harmonisch sehr weit vorwagte. So wirkt seine Musik nicht selten wie neuer Wein in alten Schläuchen. Er benutzt Sprachmodelle des Barock, so etwa in der Suite im alten Stil op. 93 (der Titel deutet es schon an), und macht sie sich für seine eigene Sprache nutzbar. Diese Verfahrensweise im Umgang mit musikalischer Tradition ist, so glaube ich, nur bedingt mit dem Neo-Klassizismus eines Strawinsky zu vergleichen, da bei Strawinsky eher eine ironische Brechung hineinspielt. Hier ist es Parodie im Umgang mit Ererbtem, dort Adaption und der Versuch einer Synthese.

 

Regers gesamtes schöpferisches Leben war geprägt von der tiefen Verehrung der musikalischen Vorbilder. Als Kontrapunktiker stand ihm naturgemäß, ähnlich wie übrigens auch seinem Zeitgenossen Busoni, Bach ganz besonders nah, dessen Erbe er in seine ausgesprochen eigenständige Harmonik und Kontrapunktik einbezog. Ohnehin sah er „jede wahre Harmonik als das Ergebnis der Stimmführung" und meinte außerdem, "es gibt nichts so Kompliziertes in unserer modernen Harmonik, was nicht der alte Bach längst vorweggenommen hätte." [12] Auf vielfältige Bezüge zu Brahms, bis hin zu Gemeinsamkeiten in der Themenbildung, ist ebenfalls oft hingewiesen worden. Aber auch ein so radikaler Geist wie Beethoven ist für Reger von größter Bedeutung gewesen. Jedoch hat Reger nie auf die sich im Spätwerk Beethovens schon andeutende Gefährdung der geschlossenen Form reagiert. Die Entwicklung, die hier vorweggenommen wurde, kam erst in letzter Konsequenz in den Quartetten von Schönberg und Bartók zum Tragen. In Regers Quartetten atmet man zwar durchaus auch den Beethoven'schen Geist, jedoch verharrt die Musik in einem Zwischenwert auf dem Weg, den schließlich Schönberg entscheidend weitergeht. Eine kreative Abnabelung bei der Auseinandersetzung mit den von Beethoven aufgeworfenen Fragen findet bei Reger nicht statt. Eine Briefstelle aus dem Jahre 1897 dokumentiert seine Auffassung von Traditionsbewußtsein: „Ich, der glühendste Verehrer J. S. Bachs, Beethovens und Brahms, sollte also den Umsturz predigen! Was ich will, ist ja doch nur eine Weiterbildung dieses Stils!" [13]

 

Bei Reger wird nichts direkt umgestürzt, klassische Formen behalten fast uneingeschränkt ihre Bedeutung, und genau betrachtet heben auch seine Ausweitungen der tonalen Basis die Tonalität selbst nicht aus ihren Angeln. Um im vorhin genannten Bild zu bleiben: man fühlt als Hörer bei Reger nicht ,die Luft von anderem Planeten', man ahnt sie bestenfalls, vornehmlich dort, wo die Orientierung am klassischen Vorbild sich nicht so sehr in den Vordergrund drängt. In der Physiognomie der Musik Regers erscheinen kontrapunktische Aspekte dominant; nicht ganz zu Unrecht hat es doch seit Bach keinen Komponisten gegeben, in dessen Gesamtwerk die Fuge als kontrapunktische Form eine derart überragende Rolle spielt. In der Orgelmusik wird sie oft nach dem Vorbild Bachs mit einem vorherigen Präludium oder mit einer Phantasie gekoppelt. Bei der Übernahme in die orchestrale Großform erscheint sie als abschließende kompositorische Krönung am Schluß von Variationszyklen, so in op. 86 über ein Thema von Beethoven, in op. 100 über ein Thema von Hiller und in op. 132 eben über das berühmte Mozart-Thema. Hierbei fällt auf, daß schon bei der verändernden Behandlung der als Themenvorwurf gewählten Stücke immer wieder die gleichen klassischen Variationstechniken und -modelle Verwendung finden, kunstvoll stets die gleichen typisch Reger'schen Sprachidiome zur Ausleuchtung des Themas dienen. Die abschließenden Fugen nun wirken in ihrer formalen Ausgestaltung bei allen drei Zyklen fast austauschbar. Dies beginnt mit der rhythmisch-gestischen Gestalt der Fugenthemen, betrifft den Einsatz aller kontrapunktischen Kniffe, etwa den der Doppelfuge bis hin zur Themenkombination, wie sie Reger - so Adorno - "als Knalleffekt der Fugen unablässig bemüht. " [14]

 

Bei allen drei großdimensionierten Schlußfugen beginnt die Violine 1 mit der Vorstellung des Themas. Die weiteren Themeneinsätze erscheinen zunächst in den übrigen Streichergruppen, in ihrer Folge von oben nach unten wandernd; in op. 86 mit der Ausnahme, daß die Violine 1 nach der Grundgestalt des Themas - mit dominantischem Beginn - auch den ersten Comes spielt, die Violine 2 also bei ihrem Einsatz den Kontrapunkt übernimmt.

 

Beispiel 4a: Beethoven-Variationen op. 86, Fuge, T. 1 – 3

 

 

(Dieses und alle folgenden Beispiele mit freundlicher Genehmigung des Verlages Breitkopf & Härtel, Wiesbaden)

 

Beispiel 4b: Hiller-Variationen op. 100, Fuge, T. 1 – 7

 

 

Beispiel 4c: Mozart-Variationen op. 132, Fuge, T. 1 – 8

 

 

Auch die hymnisch gedehnten und überhöhten Ausklänge sind stets gleich gebaut: nach und nach wird das Grundtempo verbreitert, und im vollen Einsatz des Orchestertuttis erscheint im Blech choralartig das Originalthema, kunstvoll gekoppelt mit dem Fugenthema oder dessen rhythmischer Gestalten im übrigen Orchestersatz. Ein Blick in die jeweils ersten beiden Takte beim Eintritt des Originalthemas kurz vor Schluß macht die verblüffende Ähnlichkeit im Klangbild schon allein vom Partiturbild her deutlich.

Hört man alle drei Fugen hintereinander - was im Konzertsaal Gott sei Dank nicht geschieht! wird ihre Gleichförmigkeit noch erschreckender ohrenfällig.

 

Ich bin mir der in dieser Art der Selektion bestehenden Gefahr einer groben Vereinfachung des Reger'schen Fugenbildes bewußt, glaube aber, daß sich ein wichtiges Element seiner Sprache plastisch herausschält: die Fugenthemen benutzen sehr oft, eben nicht nur in den drei vorgeführten Fällen, einen im Charakter barocken Sprachduktus. Die rhythmische Motorik und die Artikulation (bzw. Phrasierung) ähneln sich immer wieder, dazu tragen noch Sequenzbildungen im Thema selbst bei. So erscheint der Erfindungsreichtum weniger auf die Gestalt des Fugenthemas Anwendung zu finden als vielmehr auf die oft schwindelerregende Kombinatorik bei seiner Verarbeitung. Der Frage, ob man nach Bach überhaupt noch Fugen schreiben kann, wird mit einem in der Tat bemerkenswerten Handwerk im Umgang mit polyphonen Mitteln der Wind aus den Segeln genommen.

 

Und doch: Regers Fugen erreichen in ihrem Bezug zu Bach nicht die gleichzeitige Ferne von Bach, wie sie in atemberaubender Weise beim späten Beethoven zu finden ist, dessen Große Fuge op. 133 und auch der Beginn seines cis-moll-Quartetts op. 131 zu den wohl wichtigsten Meilensteinen nach Bachs Kunst der Fuge in der gesamten Musikgeschichte gehören, was die Fuge betrifft.

 

Der Gebrochenheit seiner Zeit entflieht Reger rückwärts gewandt in das sichere Gehäuse seines kontrapunktischen Handwerkes. Den Ausblick in eine ungewisse Zukunft, den er gerade in den späten Werken immer wieder wagt, vergißt man allzu leicht durch die Dominanz der Klangerscheinungen, die Reger als den Kontrapunktiker ausweisen, der in fast ungebrochener Form an das Erbe Bachs anknüpft. Und hier scheint mir das Problem des Fortwirkens seines künstlerischen Geistes begründet. Das Bahnbrechende seiner Musik in seiner Zeit wurde im Schönberg-Kreis durchaus gesehen, da dessen Anliegen bei Reger eine zwar spezifische, aber doch verwandte Entsprechung fand. Durch die Weiterentwicklung des harmonisch-tonalen Weltbildes, der Aufgabe des tonikalen Dur-Moll-Systems, verlor Regers gesteigerte Chromatik aber ihre Bedeutung: man begriff ihn als einen Endpunkt. Das zunächst durchaus Zeitgemäße seiner Harmonik hatte seinen Gegenpart in dem eigentlich Unzeitgemäßen der überaus abstrakten Kontrapunktik. (Regers Behauptung, er könne nur in Fugen denken, ist vielleicht mehr als nur eine halbe Wahrheit ... ) Will man nun Spuren von Reger bei nachfolgenden Komponisten finden, so werden sich aus dem genannten Grund Beziehungen oder Berührungspunkte dort finden lassen, wo entsprechend vor allem kontrapunktische Formen bevorzugt auftauchen. Wenn Paul Hindemith behauptet, er sei ohne Reger gar nicht zu denken, dann bezieht er sich sicherlich auch gerade darauf. Bei ihm spielt die Fuge als formbildendes Element ebenfalls eine bedeutende Rolle; auch ihm dient das kontrapunktische Handwerk zur Bündelung einer allzu ausufernden Subjektivität. Für Hindemith steht, nach seinem eigenen Bekunden, das Ritual des Handwerks über der Vision der kreativen Idee. Es ist verständlich, daß einem Hindemith Reger näher steht als etwa das Schönberg'sche Gedankengut. Der Begriff des ,kritischen Komponierens' ist ein Terminus unserer Zeit, aber er ist auf Schönberg voll anwendbar. Für Hindemith und auch Reger hingegen ist der ungetrübte Schaffensdrang der innere Motor.

 

Hindemiths Bekenntnis zeugt von einer übergeordneten geistigen Verwandtschaft, die ihren Ausdruck auch darin findet, daß er als Bratscher im Amar-Quartett und auch als Dirigent sich immer wieder für Regers Werk eingesetzt hat. Man sollte aber nicht übersehen, daß es doch auch gravierende Unterschiede in der künstlerischen Physiognomie beider Komponisten gibt! Der jugendliche Bilderstürmer Hindemith, der für Skandale sorgte, verkümmerte mit den Jahren immer mehr zu einem ordentlichen Handwerker mit selbstsicherer Routine; in dem Maße, in dem er zu einer stilistischen Identität fand, wurde sein Werk schwächer, weil das, was unklar, ambivalent war und sich der klaren Analyse widersetzte, eliminiert wurde. Besonders krass wird dies in den Fällen deutlich, wo er frühere Werke einer nochmaligen Überarbeitung unterzog und sie dabei glättete. Regers kompositorische Laufbahn zeichnet sich aber dadurch aus, daß trotz einer äußerlichen Entwicklung zu einem abgeklärten Altersstil, wie etwa in seinem Klarinettenquintett, damit ein innerer Verdichtungsprozeß einhergeht - ähnlich wie übrigens auch bei Brahms. Hindemith hat sein Vokabular so kanonisiert, daß es für Epigonen greifbar wurde und er auf diese Weise Schule machen konnte. Reger hatte zwar auch auf einen größeren Schülerkreis Einfluß, zu dem Joseph Haas, Hermann Unger und Karl Hasse gehörten, ebenso steht der nur vier Jahre jüngere Komponist und Organist Sigfrid Karg-Elert, der Regers Nachfolger als Tonsatzlehrer am Leipziger Konservatorium wurde, in dessen Gefolgschaft und Tradition, aber doch hat Reger im Hindemith'schen Sinne damit keine Schule gemacht, und dies spricht vielleicht für die Persönlichkeit und die Musik Regers! Trotzdem scheint es mir problematisch, allzu voreilig die Bedeutung eines Komponisten an dem Grad des Nachwirkens seiner Ideen im Werk nachgeborener Komponisten zu messen, erst recht, wenn es sich nur auf einen Aspekt bezieht, oder nur in der Tatsache eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses begründet ist. Natürlich könnte man Rückschlüsse auf den zeitlosen oder auch zeitbedingten Aktualitätsgrad eines Werkes ziehen, wenn man untersucht, inwieweit übergreifende Querverbindungen zwischen kompositorischen Denkmodellen existieren. Dies wird aber erst aus einem gewissen geschichtlichen Abstand möglich, dann erst kann wirklich bewertet werden, wieviel Zukunftsträchtiges in einem Werk eingeschrieben ist.

 

Unter diesem Aspekt wäre es z. B. sicherlich sehr spannend, einmal darüber nachzudenken, warum ein Komponist wie Gustav Mahler für heutiges Komponieren aktueller ist als eine Figur wie Max Reger. Dies umso mehr, da doch eigentlich beide Komponisten, noch deutlicher als etwa Schönberg, aus der Verwurzelung in der Spätromantik den Schritt in unser Jahrhundert versuchten. Mahlers prophetische Worte „Meine Zeit wird kommen" haben ihre volle Bestätigung gefunden. Reger hatte durchaus auch ein ähnliches Selbst- und Sendungsbewußtsein, das sich an einem Ausspruch aus dem Jahre 1909 ablesen läßt: ,Einer Musikgeschichte in 50 Jahren wird es klar sein, daß ich der einzige war, der sich gegen die ,Versumpfung' im Lisztschen ungesunden Fahrwasser entgegenstemmte der als bewußter  Fortschrittler ,sans phrase' den Strom wieder in das Bett: Bach, Beethoven, Brahms geleitet hat." [15] Dennoch hat sein Werk bisher nicht im Entferntesten ein vergleichbares Gewicht wie das von Mahler.

 

Ja sogar das Werk von Liszt, dem Reger keine Zukunft voraussagte, erlebt gerade heute eine überraschende Renaissance. Man erkennt, daß vor allem das späte Klavierwerk, das so gar nicht in das Liszt-Bild des Tastenlöwen passen will, den mephistophelischen Abbé als einen der Väter unseres Jahrhunderts ausweist, und dies mit fast hundertjähriger Verspätung. Das radikal Einfache und Reduzierte, fast Fragmentarische dieser Musik verweist sie in die Nähe zu Webern, der ja seinerseits zu einer Vaterfigur einer ganzen Komponistengeneration (Stockhausen, Boulez, Nono, etc.) wurde.

 

Regers Werk hat in sich keinen radikalen und einschneidenden Wandel durchgemacht. Zwar bestehen durchaus Unterschiede zwischen den frühen und späten Werken, doch sind dies nur Reifungsprozesse in einem kompositorischen Gesamtwerk ohne direkte Brüche, vielleicht vergleichbar mit der Entwicklung im symphonischen Schaffen Bruckners.

 

Die Musikgeschichte hat mit wechselnden Vorzeichen zyklisch wiederkehrende Gestalten. Und so meine ich, ist es interessant, darauf hinzuweisen, daß wir heute an einem Punkt stehen, der der Situation um die Jahrhundertwende verwandt zu sein scheint. Nach dem strengen Sprachkodex der seriellen Musik um die 50er Jahre, der die Vielgestaltigkeit der ins 20. Jahrhundert aufbrechenden Musik noch einmal in einen Hauptstrang zu bündeln versuchte, brach mit der von John Cage ausgelösten notwendigen Konsequenz der aleatorischen Musik das einheitsstiftende und gleichmachende Koordinatensystem in sich zusammen. Zum pluralistischen Gesicht der Gesellschaft ist der Pluralismus in der Kunst die notwendige Konsequenz. Das schöpferische Procedere hat kein allgemein verbindliches Vokabular mehr, wir haben die Verfügbarkeit der unterschiedlichsten Stile und Mittel. Im dialektischen Spannungsverhältnis dazu steht das Gesetz der Persönlichkeit, ein Gesetz, das eigentlich schon immer Gültigkeit hatte, denn trotz bedingter Eingebundenheit in ererbten und übernommenen Gegebenheiten hatten alle herausragenden Gestalten der Musikgeschichte ihre ganz individuelle Physiognomie.

 

Einschneidende gesellschaftliche Veränderungen finden ihren Spiegel in der Kunst. So stehen wir ähnlich wie zu Beginn dieses Jahrhunderts heute wieder an einem Punkt des Umbruchs, und vielleicht ist aus diesem Grund das Interesse an den künstlerischen Geschehnissen der Jahrhundertwende heute so groß. War damals in der Materialermüdung der Blick eindeutig nach vorne gerichtet, so ist heute der unbedingte Fortschrittsglaube ins Wanken geraten, und die zukünftige Musik wird andere Lösungen bringen müssen, die sich möglicherweise auch aus den geistigen Strömungen der Jahrhundertwende ableiten lassen. Durch das gesteigerte Augenmerk auf diese Zeit - ich erinnere nur z. B. an die Wiederentdeckung der Musik Zemlinskys - wird vielleicht auch wieder die Musik Regers mehr ins Bewußtsein rücken, denn er ist nicht nur der rückwärtsgewandte Kontrapunktiker, sondern für mich - so wie ihn auch sein Freund Straube sah - eher der „Meister des Adagios". Lediglich die Ambivalenz dieser zwei Gesichter wird wohl auf Dauer eine umfassende Wiederentdeckung seiner Musik verhindern. Dennoch sollte man vermeiden, ihn als eine nur zeitgebundene Erscheinung zu werten.

 

Die mit diesem Vortrag verbundene intensivere Beschäftigung mit Reger meinerseits war gleichzeitig der Versuch, manche eigenen Vorurteile zumindest teilweise zu entkräften. Es war eine musikalische Erlebnis- und Entdeckungsreise. Sie wurde zu einem steten Wechselbad zwischen Belanglosem und Tiefgründigern und hat das persönliche Reger-Bild in beide Richtungen erweitert. So ist die Vaterländische Ouvertüre op. 140 von geradezu erschreckender Banalität, im krassen Widerspruch dazu stehen Werke wie etwa der Symphonische Prolog zu einer Tragödie op. 108 oder der dritte Satz Die Toteninsel aus den Vier Tondichtungen nach Böcklin op. 128. Da gibt es den Kontrast von Grenzfühlung zu neuen Klangwelten in den sensiblen, gebrechlichen Adagio-Sätzen und dem barocken Zopf in den stets nach dem gleichen Rezept gestrickten Fugen.

 

Die vielleicht aufregendste Entdeckung war der Anfang des unvollendet gebliebenen Lateinischen Requiems op. 145a, der meines Erachtens zu den beeindruckendsten und ergreifendsten Anfängen gehört, mit denen eine liturgische Totenmesse anhebt. Über dem dumpf pulsierenden Orgelpunkt D, der meines Wissens neben dem Es im Vorspiel zu Wagners Rheingold wohl der längste der Musikgeschichte sein dürfte - er hat mit 64 Takten eine Dauer von circa 5 1/2 Minuten -, wird nach und nach Klangraum in immer größeren Wellenbewegungen erschlossen, die in ihrem chromatischen Fließen wie stets neue harmonisch-farbliche Ausleuchtungen des Orgelpunktes wirken. Bemerkenswert ist, wie schon bei den ersten vier Klangflächenentfaltungen vor dem Einsatz des Chores das beginnende Intervall zum Grundton D sich jedesmal erweitert; es entsteht eine Spannungskurve von eindringlichster Kraft: von dem diabolischen Intervall des Tritonus ausgehend setzen die folgenden Klangflächen schrittweise mit der kleinen Sext, über die kleine Septime bis hin zur kleinen None ein.

 

Dies ist Musik, die die Frage nach ihrem geschichtlichen Stellenwert kraft ihrer zwingenden Ausstrahlung überflüssig macht!

 

Beispiel 5: Lateinisches Requiem op. 145a, 1. Satz, T. 1 – 10

 

 

Dieses unvollendet gebliebene Werk Regers, das erst 1938 als Fragment zur Uraufführung gelangte, macht zudem erneut deutlich, daß dieser Musik nicht mit den Mitteln der klassisch-romantischen Analysemethode beizukommen ist. Ebenso wenig ist die Begriffsterminologie der neueren Musik auf sie anwendbar, auch wenn dies, wie beim letztgenannten Beispiel, fast naheliegend erscheint. Doch noch mehr als eine adäquate, aus dem Werk abgeleitete Art zur analytischen Erfassung der unerhörten Komplexität und Widersprüchlichkeit der Reger'schen Musik zu suchen wäre es vonnöten, diese Musik in den Konzertsaal zurückzuholen, damit durch Hören und Wiederhören überhaupt erst eine umfassende und kritische Auseinandersetzung mit ihr möglich wird, die vielleicht in der Lage sein könnte, das zu widerlegen, was Carl Dahlhaus 1973 in Anlehnung an Alban Bergs berühmt gewordenen Aufsatz über Arnold Schönberg aus dem Jahre 1924 so formulierte: „Regers Musik hinterläßt, im Unterschied zu der von Mahler oder Berg, bei Hörern, die wenig oder nichts begriffen haben, das ebenso deutliche wie unangenehme Gefühl, daß sie nichts begriffen haben." [16]

 

© 1987 Michael Denhoff

 

 


[1] An Joseph Renner am 26. 11. 1900, in Meister-Briefe, S. 84.

 

[2] An Gustav Beckmann am 15. 1. 1900, in Lindner, S. 278.

 

[3] A. Berg, Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?,

Sonderheft der Musikblätter des Anbruch zu Schönbergs 50. Geburtstag, 6. Jg. (1924),

abgedruckt in W. Reich, Alban Berg. Leben und Werk, Zürich 1963, S.181.

 

[4] Zitiert nach H. Wirth, Max Reger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 151 (= rowohlts monographien, Bd. 206).

 

[5] Ebdt., S. 152.

 

[6] H. J. Moser, Lehrbuch der Musikgeschichte, Berlin-Halensee und Wunsiedel" 1950, S. 293f. (=Handbücher der Musik, Bd. 2/3).

 

[7] Zitiert nach E. Freitag, Arnold Schönberg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 42 (= rowohlts monographien, Bd. 202).

 

[8] A. Berg, Glaube, Hoffnung und Liebe. Schriften zur Musik, hrsg. von F. Schneider, Leipzig 1981, S. 336.

 

[9] Siehe auch Mattner.

 

[10] Musik und Fortschritt, Leipziger Tageblatt 24. 6. 1907, abgedruckt in Hasse, Reger, S. 191f.

 

[11] An August Stradal am 31. 12. 1910, in Meister-Briefe, S. 238.

 

[12] Mitgeteilt von H. Unger, zitiert nach H. Wirth, Max Reger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. 0., S.33.

 

[13] Brief an Adalbert Lindner vom 10. 4. 1897, in Meister-Briefe, S. 56.

 

[14] Th. W. Adomo, Die Funktion des Kontrapunkts in der Neuen Musik,  

in ders., Musikalische Schriften I - III. Klangfiguren (I). Quasi una fantasia (II). Musikalische Schriften (III), Frankfurt 1978, S. 161 

(= Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 16).

 

[15] Zitiert nach H. Mersmann, Max Reger in Tradition und Moderne, MMRI 16. Heft (1966), S. 2.

 

[16] Dahlhaus, Reger.

 

 

 

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