Skulptur wird Klang wird Skulptur wird Klang … Erfahrungen eines nonverbalen Kunstgespräches. Das Skulpturenprojekt von Wolfgang Ueberhorst und Michael Denhoff. [1]
I Das Projekt
Als einer der beiden Beteiligten möchte ich über ein Projekt berichten, das den Bildhauer Wolfgang Ueberhorst und mich als Komponisten über zehn Jahre lang beschäftigte. Immer wieder habe ich in der Vergangenheit Musik geschrieben, die jeweils auf ihre eigene Art Bezug nimmt auf Werke der Bildenden Kunst. Mit dem Skulpturenprojekt bewegte ich mich jedoch auf noch unerkundetem Terrain, insofern als in diesem Fall der zentrale Gedanke war, einen Dialog zweier Disziplinen zu versuchen, also die Reaktion nicht nur in eine Richtung erfolgen sollte. Geboren wurde die Idee zunächst nur theoretisch bei einem der zahllosen lockeren Gespräche mit dem befreundeten Bildhauer Ueberhorst, praktisch begannen wir schließlich im Jahr 1996 mit unserem „Gespräch“ in unserer jeweils eigenen künstlerischen Disziplin. Doch zuvor gab es einige Verabredungen für unseren geplanten „nonverbalen“ Dialog. So wollten wir uns beide auf jeweils ein Material beschränken, die bildhauerischen Skulpturen sollten aus Bronze sein, die musikalischen Skulpturen für Klavier geschrieben. Ganz wichtig erschien uns, die Titel der jeweiligen Arbeiten gegenseitig nicht mitzuteilen, um somit zu verhindern, daß sich die reagierende „Antwort“ dadurch möglicherweise schon in eine vorgezeichnete Richtung bewegt. Das Reagieren und Deuten sollte zudem stattfinden ohne miteinander über die gedanklichen Hintergründe der eigenen Interpretation der jeweils vorherigen bildhauerischen bzw. musikalischen Skulptur zu sprechen. Nur das Gesehene und das Gehörte sollte die Dynamik dieses Prozesses bestimmen. Als Projekt, mit zunächst offenem Ende angedacht, war dieses „Gespräch“ auf mehrere Jahre hin angelegt.[2] Wolfgang Ueberhorst entwarf eine erste Bronze-Skulptur, auf die ich mit einem Klavierstück klanglich-musikalisch reagierte. Er antwortete seinerseits auf dieses Klavierstück Skulptur I [3] wieder mit einer weiteren Bronze-Skulptur, welche mich zum nächsten Klavierstück Skulptur II anregte usw. ... Als meinerseits fünf Klavier-Skulpturen vorlagen und diese in ihrer Abfolge aus Gründen einer zyklischen Konzeption einen in sich zwingenden Bogen bildeten, hatten wir beide das Gefühl eines sinnvollen Endes unseres Projektes; lediglich eine letzte bildhauerische Arbeit sollte als abschließende Antwort noch folgen
II Impuls und Reaktion
Jede Skulptur – bildhauerische wie musikalische – steht in direktem Bezug zu jeweils einer impulsgebenden und einer reagierenden (Ausnahme: Skulptur 1 – nur impulsgebend / Skulptur 6 – nur reagierend)
Abb. 1: Bezüge der Skulpturen untereinander
Dieser Gedankenaustausch war als ein Gespräch angelegt; das impliziert bereits, daß wir beide unsere jeweilige Disziplin als Sprache auffassen wollten. Anstelle der heutzutage häufigen Crossover-Beliebigkeit fand das Gespräch zwar in zwei verschiedenen Sprachen, aber auf e i n e r thematischen Ebene statt, ein Umstand, den wir uns als Gesprächspartner gewissermaßen „leisten“ konnten, haben wir doch bereits jeder für sich hinreichende Erfahrung in der Umsetzung von Musik in bildende Kunst und umgekehrt gesammelt. Das vermeintlich Angenehme an diesem Aufbau, nämlich daß der eine den anderen jeweils „ausreden lassen muß“, bevor er überhaupt antworten kann, birgt aber möglicherweise ein Problem. Ist es nicht in einem tatsächlich geführten Gespräch, auch wenn sich zwei Partner in ihrer jeweiligen von der des Gegenübers verschiedenen „Muttersprache“ miteinander unterhalten und von dem anderen entsprechend gut verstanden werden, doch vornehmlich so, daß der echte Dialog es ermöglicht, gemeinsam eine einzige Idee zu entwickeln, wobei es im Falle dieses Kunstdialoges aber darauf hinauslaufen mußte, daß wir anstelle einer gemeinsamen Idee eine Reihe von Einzelwerken oder besser gesagt Einzelstatements haben? Bleibt dabei – um es knapp zu formulieren – nicht Kunst Kunst und Musik Musik? Beide Artefakte stehen eins zu eins (bzw. zwei) beieinander und sind doch selbständige Werke. Dabei ist es aber vielleicht interessant, daran zu erinnern, daß selbständig ursprünglich von selbander kommt, was – beieinander, zusammen bedeutet. Selbständig also eigentlich beieinander stehend. In diesem Fall sind also bildhauerisches und musikalisches Werk miteinander verbunden, selbst wenn physische oder klangliche Präsenz der impulsgebenden bzw. reagierenden Arbeit nicht zwingend notwendig ist. Das „Gesprächsprojekt“ war über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren angelegt und in lockerer Abfolge geführt worden. Wenn man sich diesen Zeitraum stark gerafft vergegenwärtigt – und in Form eines Konzertes mit gleichzeitiger Skulpturenpräsentation hat man ja den gesamten Dialog in seiner Abfolge gerafft vorliegen –, dann kann man durchaus eine die Gesamtheit aller Werke durchziehende Idee erleben. [4]
III Zeit und Raum – Körper und Klang
Eine Skulptur akzentuiert den sie umgebenden Raum, wie Töne und Klänge die Luft in Schwingung setzen. Und während Musik sich dabei mit ihrer akustischen Gestalt in den Raum stellt und diesen einnimmt, so greift eine Skulptur mit ihrer körperlichen Gestalt in den Raum ein, in den sie hineingestellt ist. Eine Skulptur zeigt sich dem Betrachter, bedingt durch ihre dreidimensionale Ausdehnung, nie in ihrer räumlichen Ganzheit. Sie entsteht als Ganzes nur im Kopf, nachdem sie von allen Seiten her betrachtet wurde. Klänge können die Zeit, in die sie sich ausdehnen und in die sie hineingestellt sind, zwar gleichzeitig aufheben, Kraft dessen, wie sie dieser Zeit Gestalt geben; dennoch kann der Hörer ein Musikstück ebenfalls nie als Ganzes in einem Moment erfassen. Nur die Erinnerung hilft ihm, das Gehörte im Nachhinein als eine Einheit zu begreifen. Vier verschiedene Ansichten der abschließenden Skulptur 6 („Barcarole“) mögen hier beispielhaft verdeutlichen, daß ihre räumliche Ganzheit selbst durch diese Abbildungen nur ansatzweise vorstellbar wird.
Abb. 2: vier Ansichten von Skulptur 6
Ebenso kann der folgende Ausschnitt der Notenschrift aus der Skulptur II nur verdeutlichen, daß erst nach dem Lesen, einem zeitlichen Vorgang – stumm oder am Instrument – eine vage Vorstellung von der Klangtextur der Musik in Nachlang des inneren Ohres entsteht.
Nb. 1: Notenausschnitt Skulptur II
IV Skulptur und Klang
Kehren wir nach diesen grundsätzlichen Gedanken und Überlegungen zum Beginn des Projektes zurück. Als ich die erste Skulptur von Wolfgang Ueberhorst im Jahre 1996 in mein Arbeitsstudio gestellt bekam, habe ich sie gleich auch als einen Klangkörper gesehen und untersucht; denn Bronze, das Material, aus dem auch Glocken gegossen werden, klingt. Zu meiner freudigen Überraschung konnte ich dieser Bronze-Skulptur einen faszinierenden Eigenklang entlocken, einen Fünftonklang, dessen einzelne Töne je nach Anschlagsart und -ort mal stärker mal schwächer im Gesamtklang herausstachen. Bemerkenswert fand ich zudem die Tatsache, daß dieser Eigenklang der Skulptur eine auffällige Verwandtschaft zum Skrjabinschen „Prometeus-Akkord“ hatte.
Nb. 2: Eigenklang Skulptur 1 und „Prometheus-Akkord“
Zudem entdeckte ich, daß die fünf Einzeltöne des Klanges, wenn man diese in den tieferen Baßbereich herunter oktaviert, alle einen gemeinsamen Oberton besitzen, nämlich ein b bzw ais. Hiermit war für mich der entscheidende Baustein für meine erste Reaktion bzw. Antwort gefunden. Dieser Fünftonklang bestimmt in meinem Klavierstück alle Parameter der harmonischen wie formalen Textur. Durch weitere Transpositionen des Grundklangs in engster Lage und dessen Quint-, Quart- und Terzflageoletts eröffnete sich ein reiches Spektrum an klanglichen Möglichkeiten, die den normalen Klavierklang durch Obertonspiel erweitern. Dabei bilden die Binnenintervalle in enger Lage zudem eine „logische“ Folge: große Terz, große Sekunde, kleine Terz, kleine Sekunde.
Nb. 3: Liste der Obertöne, die im Inneren des Instrumentes auf den Saiten abgegriffen werden.
Indem ich mich sozusagen auf das klangliche Eigenleben der Bronzeskulptur einließ, erfaßte ich somit auch ihr gestalterisches Innenleben und vermied somit eine allzu platte Analogie zu ihrer rein äußerlichen Gestalt. Daß trotz meiner eher analytischen Herangehensweise dennoch etwas von der emotionalen „Botschaft“ der ersten Skulptur von Ueberhorst in meine erste „Antwort“ als Reflex hineinwirkte, davon können die jeweiligen Titel zeugen. Wie oben schon erwähnt, hatten wir vereinbart, uns diese Titel zunächst nicht gegenseitig bekannt zu geben. Ich selbst wählte für meine erste Klavier-Skulptur den Titel „Anrufung“ [5]; wie ich später erfuhr, trägt die Skulptur 1 von Ueberhorst den Titel „Schlafende Muse“ [6]. Ich denke, kaum sinnfälliger kann verdeutlicht werden, daß unsere „Versuchsanordnung“ eines nonverbalen Gespräches tatsächlich den Sprachcharakter von Kunst und Musik bestätigt!
Auch eine die Gesamtheit aller Werke durchziehende Idee hat sich weniger bewußt als vielmehr intuitiv reagierend ergeben und sich uns erst nach Abschluß des Projektes reflektierend erschlossen. So scheint die erste musikalische Setzung – durch den Fünftonklang initiiert – ungeplant und unbeabsichtigt auch ihre Fortschreibung in den folgenden Klavierstücken gefunden zu haben. Zunächst angeregt durch die x-förmige Verkeilung der beiden Hauptkörper von Ueberhorsts Skulptur 2 (seiner Antwort auf meine Skulptur I) griff ich auf eine harmonische Konstruktion zurück, die ich erstmals bei einer meiner Inventionen op. 88 für Player-Piano(s) einsetzte: eine bitonale Pentatonik, bei der in der Ausgangssituation die rechte Hand des Pianisten nur weiße, die linke Hand nur schwarze Tasten nutzt. Dabei sind die Binnenintervalle in der linken Hand (Pentatonik ‚schwarz’) gegenüber denen der rechten Hand (Pentatonik ‚weiß’) je um eine kleine Sekunde vergrößert. [7]
Nb. 4: Anfangstakte Skulptur II
Auch hier haben wir durch die gewählte Pentatonik als Basisklänge wieder Fünftongebilde, wie schon in Skulptur I, die hier allerdings durch die Bitonalität einen Mixtur-artigen Charakter bekommen. Auch eine „logische“ Anordnung der Binnenintervalle ist gegeben. Zudem sind hier durch die doppelte Pentatonik alle fünf Finger beider Hände des Pianisten permanent gefordert. In Skulptur III – dem „inneren Zentrum“ des Gesamtzyklus – spielt die Zahl 5 wieder eine zentrale Rolle. In extremer Zeitlupe entwickelt sich das Stück in fünf harmonischen Abschnitten, die eine Art „Kreis-Modulation“ über die kleine Terz bilden, ein Modell, das wir schon bei Franz Schubert finden können. Jeder Abschnitt hat fünf Harmonietöne, gebildet aus einem weitgespannten Doppelquintklang (3 Töne) in den eine ebenfalls weitgespannte Quinte (2 Töne) im Terzverhältnis eingeschoben ist (also zusammen 5 Töne). Die eingeschobene Quinte wird beim nächsten Abschnitt durch Hinzunahme einer weiteren Quinte wieder zum Doppelquintklang, in den nun erneut im Terzabstand eine neue Quinte eingeschoben wird. Dies wiederholt sich, bis mit dem fünften und letzten Abschnitt die harmonische Ausgangssituation wieder erreicht ist. Bei den jeweiligen Melodietönen von Skulptur III vergrößern sich die Intervalle: kleine Sekund, große Sekund, kleine Terz. Dies zeigt durchaus Verwandtschaft zur „logischen“ Anordnung der Binnenintervalle des Fünftonklangs von Skulptur I in enger Lage.
Nb. 5: harmonisch-melodischer Verlauf von Skulptur III
Wie schon in Skulptur II hat der Pianist hier in Skulptur III mit seinen beiden Händen wieder Ähnliches, aber nicht Identisches zu spielen. Waren es in Skulptur II zwei unterschiedliche aber verwandte pentatonische Felder, die mit der rechten und linken Hand ausgeführt werden so spielt er hier mit beiden Händen zwar die gleichen Töne, aber diese trotz grundsätzlich leiser Dynamik mit der rechten Hand stets ein wenig lauter. Dadurch ergibt sich ein permanentes Überkreuzspiel beider Hände. In Skulptur V wird die Trennung zwischen dem, was linke und rechte Hand ausführen auf die Spitze getrieben, indem nämlich der Musiker über weite Strecken nur mit der linken Hand Klavier spielt und sich mit der rechten als Schlagzeuger betätigt, der auf unterschiedlichste Art einen Gong anschlägt. Wenn ich bisher nur eine analytische Beobachtung wählte, um anhand der ersten drei Stücke andeutungsweise die Zusammenhänge der kompositorischen Texturen und ihre schrittweise Mutation von Stück zu Stück zu verdeutlichen, so mag damit aber doch erkennbar werden, wie alle Klavier-Skulpturen trotz ganz unterschiedlicher äußerlicher Gestalt innerlich miteinander verbunden sind. Ganz Ähnliches läßt sich meines Erachtens bei den bildhauerischen Skulpturen beobachten. Auch hier gibt es Verwandtschaften, Entwicklungen und schrittweise Veränderungen. Lassen wir dabei einmal die letzte, abschließende und sicherlich auch als eine Art Resümee zu verstehende Skulptur 6 unberücksichtigt, so zeigt sich grob gesprochen eine Entwicklung von einer Kugel- bzw. Kreisform über eine elliptische Gestalt hin zur Fläche. Bemerkenswert ist zudem, daß mit Ausnahme der einrahmenden Skulpturen 1 und 6 die vier anderen alle aus zwei Hauptkörpern bestehen, die mehr oder weniger in einer Art Spiegelverhältnis zueinander stehen. Außerdem gibt es bei diesen vier Skulpturen jeweils eine Material-Erweiterung: Skulptur 2 = Silber (eine Art Schlüssel, der auf beide Hauptkörper aufgesteckt ist), Skulptur 3 = Emaille (innen auf die Bronze aufgetragen), Skulptur 4 = Alabaster (eine Scheibe, die zwischen beiden Hauptkörpern liegt), Skulptur 5 = Stahl (eine Art Klammer, die beide Hauptkörper miteinander verbindet und gegenseitiger Schwebe hält).
Abb. 3: Skulpturen 2 bis 5
Man könnte die Tatsache, daß diese Skulpturen im Wesentlichen aus zwei Hauptkörpern bestehen durchaus in Verbindung bringen zur Aufteilung der musikalischen Textur auf die beiden Hände des Pianisten. Und auch die Materialergänzungen finden ihre Entsprechung in der Musik, indem dort klavierfremde Klänge zum Einsatz kommen, wie etwa das differenzierte Flageolettspiel durch Abgreifen der Klaviersaiten im Innern des Instrumentes (Skulptur I) oder deren Fixierung durch Gummikeile (Skulptur II), zwei Schrauben zwischen den Saiten, der Einsatz einer Klangschale und der Stimme des Musikers (Skulptur III), mit Schlägel gespielte Saiten (Skulptur IV) und der Einsatz eines Gongs (Skulptur V).
V Verborgenes
Noch etwas Anderes, und wie mir scheint, Wesentliches verbindet bildhauerische wie musikalische Skulpturen. Von elementarer Bedeutung für ihre jeweilige Gestalt sind bei den Bronzeskulpturen die nicht sichtbaren, allenfalls ertastbaren Elemente. Es sind „Zeichnungen“ und „Beschriftungen“, die wie geheime Botschaften als Gravur oder erhaben herausstehend auf die Flächen aufgetragen sind, die aber größtenteils nicht sichtbar sind. Nur wenn man die Skulpturen in ihre Einzelteile zerlegt, und dies war mir während meiner Auseinandersetzung mit ihnen natürlich möglich, zeigen sich diese sonst verborgenen Elemente. Dem entsprechen bei den Klavier-Skulpturen nicht notierte aber hörbare Klänge. Es sind Resonanzklänge, die vornehmlich in den Skulpturen I und IV in Pausen oder Zäsuren zu hören sind. Für die gesamte Dauer ist in Skulptur I der Fünftonklang (der Eigenklang der bildhauerischen Skulptur 1) so fixiert, daß diese fünf Töne stets ungedämpft bleiben, also in Pausen nachschwingen können. Ein fast nicht berechenbares Nachklingen unterschiedlichster, stets wechselnder Frequenzen entsteht in den Zäsuren in Skulptur IV, bei der ebenfalls vier Töne für die gesamte Dauer ungedämpft bleiben. Da dies hier aber tiefere Baßtöne sind, reagieren sie als Resonanztöne auch mit ihren jeweiligen Teiltönen. Zu diesen nicht notierten Klängen gehören z. B. auch die dezenten Schwebungen die in Skulptur I entstehen, wenn zum natürlichen Terzflageolett in gleicher Tonlage dieser Ton ‚normal’ (also in der temperierten Stimmung) gespielt wird: ein leichtes Vibrato des Klavierklanges entsteht so.
VI Resümee
Auch wenn bei den obigen Ausführungen nur in Teilaspekten das Wechselverhältnis zwischen den Einzelwerken unseres „Kunstgespräches“ zur Sprache kam – eine weitergehende Analyse überlasse ich lieber einem eher außenstehenden Betrachter – so hatten Wolfgang Ueberhorst und ich schon während des gut zehnjährigen Prozesses beim Entstehen unserer jeweiligen Reaktionen das Gefühl, daß weit über das nur Sichtbare und Hörbare hinaus übergreifende geistige Zusammenhänge entstanden, die nicht allein mehr mit rein formalen Entsprechungen oder empfundenen Analogien zu erklären sind. Die jeweiligen „Antworten“ sind sowohl nachdenkendes Reagieren als auch weiterführendes Ergründen dessen, was das Einende und gleichzeitig Trennende von Musik und Bildender Kunst ist, etwas, das sich eben vielleicht nicht genauer und richtiger als in dieser Form benennen läßt. Das Faszinierende bei dieser besonderen Form des Sich-Austauschens war, das Gefühl zu haben, dabei zu klanglichen und bildhauerischen Lösungen zu kommen, formal wie inhaltlich, die ohne diese nonverbale Form eines „Dialogs“ nicht möglich gewesen wären. Die fünf Klavier-Skulpturen sind alle bestimmt von einer ‚Körperlichkeit’, die in meinen anderen Werken nicht so stark ausgeprägt ist. Die durch den musikalischen Text vorgegebenen Bewegungsabläufe des Interpreten während des Spiels, werden selbst zum wichtigen Bestandteil des jeweiligen Stückes. Das Flageolettspiel zu Beginn des Zyklus, bei dem der Musiker weit gebeugt über dem Instrument diverse Abgreifpunkte ansteuert und somit eine imaginäre räumliche Zeichnung der damit einhergehenden Handbewegungen entsteht, oder auch die anderen im Innern des Instrumentes auszuführenden Aktionen, das permanente Überkreuzspiel in Skulptur III, welches an seinem extremsten Punkt an die Grenzen des körperlich Möglichen geht, die spieltechnische Trennung von linker Hand (Klavier) und rechter Hand (Schlagzeug), all dies trägt dazu bei, daß eine Aufführung der Klavierzyklus Skulpturen op. 76,1-5 [8] selbst zum Akt räumlichen wie skulpturalen Denkens wird. Umgekehrt spricht der Bildhauer in einem Gespräch, das er im Oktober 2007 nach Abschluß unseres Projektes mit Arturo Eskuchen führte, von der labilen und indifferenten Lage seiner Skulpturen und bringt ihren Schaukelcharakter in Verbindung zur zeitlichen Komponente von Musik. Der letzte Teil dieses Gespräches [9] mag vielleicht davon etwas wiedergeben, was wir beide während unseres zehnjährigen nonverbalen Dialogs empfanden, auch mit einer gewissermaßen schmunzelnden Distanz zum zwangsläufig Offenbleibenden:
W. Ueberhorst: Diese Wahl der Lagerung ist entstanden bei der Suche nach einer räumlichen Formulierung, welche dem Zeitcharakter von Musik gerecht werden könnte. Über den Zeitkegel bei Minkowsky [10] und verschiedene Veranschaulichungsmodelle kam ich auf das alte Bild vom ins Wasser geworfenen Stein, der Wellen in Form konzentrischer Kreise aussendet. Welle, Wasser, Boot all diese Assoziationen führen natürlich unweigerlich zu dem, was Sie den Schaukelcharakter nennen und was ich keineswegs unpassend zu Michael Denhoffs Musik finde – insbesondere paßt das Bild zu „Skulptur 3“ und es führt insofern auch konsequent zu Skulptur 6 die in der besonderen Weise auf Op. 76, 5 reagiert, daß sie dabei gleichzeitig noch einmal Rückschau auf das Gesamtprojekt hält; daher auch ihr Titel „Barcarola“ der das faktische Schaukeln gewissermaßen ins Metaphorische erhebt. „Barcarola“ bedeutet nicht nur die aus dem Gesang der Gondolieri abgeleitete dreiteilige Liedform, es wird auch – zumindest in Norditalien, wo die Arbeiten gegossen wurden – angewandt zur Bezeichnung eines sehr kleinen und mitunter wenig Vertrauen erweckenden Bötchens …
A. Eskuchen: … Äppelkahn würde man das vielleicht bei uns nennen?
WU: … in welches bei entsprechendem Risiko mal gerade zwei Leute ´reinpassen.
AE: Zwei Künstler im Äppelkahn also?
WU: Im übertragenen Sinne und für den Verlauf des Projektes finde ich es durchaus gestattet, sich Michael Denhoff und Wolfgang Ueberhorst in diesem unsicheren Gefährt und fernab rettenden Ufers, heftig dahinschaukelnd vorzustellen.
© Michael Denhoff, Bonn im Juli 2010
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[1] Dieser Vortrag wurde als Telefonkonferenz beim Symposion „Musik nach Bildern“ am 16. April 2010 in freier Rede
unter Zuhilfenahme einer Power-Point-Präsentation abgehalten. Der hier gedruckte Text wurde später für diese
Publikation verfaßt.
[2] Da die Herstellung einer Bronze-Skulptur zeitaufwendig ist, denn nach dem Entwurf muß dieser in eine Gießerei
gegeben werden, und da zudem die einzelnen Klavierstücke nach der Komposition zunächst aufgeführt werden
mußten, damit der Bildhauer sie klingend hören konnte, ergaben sich zwischen den einzelnen „Antworten“ Intervalle
von jeweils etwa einem Jahr.
[3] Zur Unterscheidung der bildhauerischen und musikalischen „Skulpturen“ sind die Bronze-Skulpturen mit
arabischen Ziffern, die Klavier-Skulpturen mit römischen Ziffern numeriert.
[4] Eine erste Gesamtpräsentation fand am 26. Oktober 2008 in der Galerie „Art & Wiese“ in Wachtberg-
Niederbachem statt. Siehe dazu: http://www.art-und-wiese.com/vernissage261008.htm
Eine weitere Gesamtpräsentation wird am 17. September 2010 im Rahmen der Dresdener „Ostrale“ stattfinden.
[5] Bei der ersten Veröffentlichung meiner Skulptur I als Einzelausgabe in der Edition Gravis (EG 553) stand
dieser Titel noch auf der Notenausgabe. Später habe ich diesen zurückgezogen und auch bei den weiteren
Skulpturen auf solche Titel verzichtet zugunsten einer rein numerischen Zählung, auch um den Zuhörer mit
solch programmatischen Titeln nicht gleich in eine bestimmte Hör-Richtung zu lenken.
[6] Wolfgang Ueberhorst versah alle seine sechs Skulpturen mit Titeln. Der Titel „Schlafende Muse“ ist durchaus
als Verweis auf Brancusis Skulptur mit gleichem Titel zu verstehen, womit Skulptur 1 sofort als Kopf gesehen
werden kann.
[7] Bei der Vorgabe ausschließlicher Nutzung weißer gegen schwarze Tasten mit jeweils um eine kleine Sekunde
vergrößerten Binnenintervallen bestehen übrigens nur die vier Möglichkeiten, die zu Beginn in den 32tel-Figuren
von Skulptur II exponiert werden.
[8] Eine CD-Einspielung des Klavierzyklus mit dem Pianisten Martin Tchiba, der auch die erste Gesamtaufführung
spielte, ist beim Label Telos (Bestellnummer TLS 088) erschienen.
[9] Arturo Eskuchen „Mystik im Äppelkahn“ – ein Künstlergespräch mit Wolfgang Ueberhorst, siehe:
http://www.denhoff.de/skulpturengespraech.htm
Abgedruckt ist dieses Gespräch auch in der 2008 bei der Edition Gravis erschienenen Gesamtausgabe des
Klavierzyklus SKULPTUREN op. 76 (EG 1800).
[10] In seinem Weg-Zeit-Diagramm bildet die Lichtgeschwindigkeit als Maximalgeschindigkeit einen Kegel