Stille und Umkehr

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Betrachtungen zum Phänomen Zeit

 

von Michael Denhoff

 

„Das Phänomen der Zeit ist uns zu einem einzigen Zweck gegeben,

eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen

und hier vor allem eine Ordnung zu setzen

zwischen dem Menschen und der Zeit.“

Igor Strawinsky

 

 

 

Klangschichtungen und das Prinzip der Zeitdehnung bei Bernd Alois Zimmermann

 

Im Jahre 1957, also zu einer Zeit, wo nach dem Ende der seriellen Phase in Zimmermanns Oeuvre - von den "Perspektiven" (1955) für zwei Klaviere bis zur Kantate "Omnia tempus habent" (1957) und "Canto di speranza" (1952/57), der Kantate für Violoncello und kleines Orchester - die Beschäftigung mit dem Lenzschen Stoff der "Soldaten" beginnt, und wo mit der Ausarbeitung dieser Oper, die heute uneingeschränkt als die wichtigste seit dem "Wozzeck" gilt, die kompositorischen Prinzipien des zeitlichen wie stilistischen Pluralismus für Zimmermann bestimmend werden, schreibt er seinen Aufsatz "Intervall und Zeit". Die wohl mehr als zufällige zeitliche wie inhaltliche Nähe zu Stockhausens wichtigem Aufsatz "... wie die Zeit vergeht..." (1956) ist oft besprochen worden. Während Stockhausen die Aspekte von Zeit sehr ausführlich und analytisch pragmatisch beschreibt, spannt Zimmermann in seinem relativ kurzen Text ein Netz von philosophischen Bezügen. Anhand des Unterschiedes zwischen effektiver und erlebter Zeit in all ihren Gesichtspunkten, wie er sie in der Auffassung von Zeit und Zeitbewußtsein bei Plato, Aristoteles, Augustinus über Leibniz, Husserl bis hin zu Joyce, Ezra Pound und Heidegger bestätigt sieht, findet Zimmermann den Weg zu seinem zentralen schöpferischen Gedanken eines philosophisch verstandenen Pluralismus, der schließlich zum Begriff der Kugelgestalt der Zeit als Einheit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem führt.

 

Sein Hauptwerk, die Oper "Die Soldaten", ist Dokument dieser pluralistischen Auffassung und stellt gleichzeitig die Zusammenfassung all dessen dar, was seinen Leitgedanken von der Einheit aller Elemente bestimmt. So bekennt er auch in seiner Einführung zu den "Soldaten" zur Wahl dieses Stoffes:

 

„Das Erregendste für mich war wohl vor allem der Lenzsche Gedanke von der Einheit der inneren Handlung, welcher die "Soldaten" in so unerhörter Weise bestimmt und Lenz veranlaßte, sich von der "jämmerlich berühmten Bulle der drei Einheiten" (nämlich des Ortes, der Handlung und der Zeit) loszusagen. Konsequent werden bei Lenz also die drei klassischen Einheiten negiert, mehrere Handlungen übereinander geschichtet. Eine Vorwegnahme des Joyceschen "Stundentanzes der Simultaneität«. Der Schritt von der Dramaturgie des Sturm und Drang zur Jetztzeit ist erstaunlich klein: Aufhebung der drei Einheiten führt stracks zur Aufhebung von Raum und Zeit, befindet sich im Innern der "Kugelgestalt der Zeit": Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit werden vertauschbar.“  [1]

 

So entsteht in den "Soldaten" ein szenischer Pluralismus durch die Schichtung mehrerer Szenen der Textvorlage, ein stilistischer Pluralismus in der Wahl der künstlerischen Mittel durch die Gleichzeitigkeit von Musik, Tanz, Sprache, Film sowie konkreten Geräuschen und elektronischen Klängen, ein musikhistorischer Pluralismus in Form von Zitaten aus verschiedenen Epochen und ein Pluralismus in der musikalischen Struktur durch die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Tempi.

 

Aus dem Gedanken der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heraus gewinnt seit der elektronischen Komposition "Tratto (II)" (1966) und "Intercommunicazione" (1967) für Violoncello und Klavier ein weiterer Aspekt Bedeutung: die Zeitdehnung. Zimmermann schreibt:

 

„Eines der eigentümlichsten Phänomene, welches diese Kompositionstechnik (die der "pluralistischen Zeitauffassung") gezeitigt hat, ist die Dehnung des Zeitablaufs wie auch des Zeitbegriffs; diese Dehnung stellt ein neues Moment in der Musik unserer Zeit dar: die Gegenwart als "Präsenz der Zeit" erhält dadurch eine besondere Artikulation.“ [2]

 

Im Orchesterprélude "Photoptosis" (1968), das durch die monochromen Wandflächen von Yves Klein im Foyer des Revier-Theaters Gelsenkirchen angeregt wurde, wird die strukturbestimmende Rolle des Prinzips der Zeitdehnung von "Intercommunicazione" auf einen großen Orchesterapparat übertragen. Auch hier versucht die Schichtung von zwei verschieden langen Zeitstrecken in ihrer Überlagerung eine Dehnung der Zeit ins Unendliche zu suggerieren. Wie in "Intercommunicazione" sind die Dauern der Zeitstrecken aus der Intervallproportion des Tritonus (1,4) - einem von Zimmermann bevorzugten Intervall - hergeleitet. Er wählt im ersten Abschnitt von "Photoptosis" (T. 1 - 192) zwei Zeitstrecken mit einem Verhältnis der Länge von 24 : 17,5 (~ 1,4) - in "lntercommunicazione" sind es 10,5 : 7,25 (~ 1,4) - die gegenläufig komponiert sind. Durch die Gleichzeitigkeit zweier Zeitrichtungen hat dies ebenso einen Bezug zu seiner elektronischen Komposition "Tratto", wie aus dem Einführungstext hervorgeht:

 

„Das Wort "Tratto" ist im Italienischen mehrdeutig. Bei dem vorliegenden Werk wurde es im Sinne von "Strecke" (Raumstrecke - Zeitstrecke) benutzt. In "Tratto" wirken verschiedene Kräfte zusammen: Auf der einen Seite gehen die vielen, sich gegenseitig aus den verschiedensten Raum- und Zeitrichtungen überlagernden, sich verschlingenden und wieder lösenden "Strecken" einem unerbittlich sich nähernden Zeit- und Endpunkt entgegen (dem endlichen und zeitlichen Schluß des Stückes), auf der anderen Seite wird diesem Ablauf ein beharrendes Moment entgegengesetzt, mit dem Ziel der Gewinnung einer gewissermaßen ständigen Gegenwart: Das Stück wurde in zwei Zeitrichtungen zugleich komponiert: von hinten nach vorne und umgekehrt.“ [3]

 

Der Beginn dieser Zeitstrecken wird in "Photoptosis" jeweils von einer bewegten Klangfiguration markiert, die in ein statisches Akkordgefüge mündet, dessen Farbigkeit nach und nach geringfügig verändert wird.

 

Das gleiche Prinzip der Zeitstreckengestaltung (Figuration/Impuls à liegender Klang) findet sich schließlich auch wieder in Zimmermanns letztem Orchesterwerk "Stille und Umkehr". Es ist bemerkenswert, daß auch hier teilweise wieder die Intervallproportion des Tritonus auf die Dauern der Zeitstrecken übertragen wird, was sich selbstverständlich ebenso in der Anzahl ihres Erscheinens während eines Abschnittes widerspiegelt: So erscheint im Abschnitt II (T. 25 - 33) die Zeitstrecke der Flöten zehnmal, und die der Klarinette siebenmal (10 : 7 ~ 1,4); allerdings kann hier wohl nicht von einer Gegenläufigkeit gesprochen werden, da jeweils ein Impuls der Harfe am Beginn der beiden Zeitstrecken steht. Das Gleiche findet sich nochmals in Abschnitt IV, wo die Zeitstrecken des Zentraltones 'd' 14mal vom Altsaxophon und zehnmal vom Englischhorn gespielt werden (14 : 10 = 1,4).

 

Doch nicht nur diese Entsprechung läßt die Vermutung einer engen Verwandtschaft dieser beiden Stücke zu. Neben der Schichtung von verschieden langen Zeitstrecken, die in ihrer Statik und mit nur unmerklicher Veränderung den Eindruck vom Stillstand der Zeit und gleichzeitiger Unendlichkeit (Zeitdehnung) darstellen wollen, bewegen sich die nun drei Zeitstrecken im dritten und mittleren Abschnitt (T. 265 - 360) von "Photoptosis" um das 'con tutta la forza' im 'sul ponticello' von allen Streichern mit Ausnahme der Kontrabässe ausgehaltene 'd', das durch die wechselnden, dynamisch herausragenden Liegeklänge der Blechbläser in unterschiedliche Intervallspannungsverhältnisse tritt. Dieser Ton 'd' wird in "Stille und Umkehr" die für das ganze Stück bestimmende Tonachse, diesmal allerdings im stets verhaltenen piano. Bedingt durch das Prinzip der Zentraltönigkeit läßt sich aber noch eine weitere Beziehung herstellen, und zwar zum orchestralen Vorspiel (Preludio) der Oper "Die Soldaten": In unerbittlicher Repetition ('pesante e sempre in ritmo ferreo') wird dort das 'd', von der Pauke gespielt, zur rhythmisch ostinaten Achse und wandert erst in Takt 97 in den unbestimmteren Klang des Tomtoms, bis diese Repetition gegen Schluß in den ritardierenden Gongschlägen erscheint. Die wilden Klangentfesselungen um dieses rhythmische Ostinato scheinen zudem im letzten Abschnitt von "Photoptosis" (T. 505 - 728) in geminderter Komplexität wiederzukehren.

 

Noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem "Preludio" der Oper und "Photoptosis" soll nicht unerwähnt bleiben. Das von Zimmermann oft benutzte Zitat "Veni creator spiritus" - es erklingt auch in den "Monologen" und "Dialogen" - gewinnt in der kompositorischen Mitte von "Photoptosis", einer Zitatencollage, besondere Bedeutung. In extremer zeitlicher Dehnung erscheint es ab Takt 365 zunächst in der Orgel, ab Takt 403 in sechstaktig gehaltenen Choraltönen zusätzlich in tiefster Lage von Posaunen und Kontrabaß-Tuba gespielt. Darüber erklingt die Hymnus-Melodie im Quartmixtursatz ab Takt 411 verkürzt in den Holzbläsern. Mit dem Einsatz der Choralnoten bei der Orgel werden diese Töne von den Violinen und Celli mitgespielt und bauen sich zu einem sechstönigen Akkord auf, der klanggrundierend die ganze Zitatencollage bis zur abschließenden Schlußphase (T. 505) gehalten wird. Dieser mehrfachen Überlagerung des "Veni creator spiritus"-Zitats in unterschiedlicher zeitlicher Dehnung entspricht die vielfache rhythmische und kanonische Schichtung des "Dies irae" im "Preludio" der Oper ab Takt 125 bis zum Schluß. Durch die clusterartige Schichtung des "Dies irae" läßt sich dieses Zitat allerdings kaum hörbar wahrnehmen, es verwischt zur reinen Klanggebärde.

 

Neben den schon genannten Bezügen scheint das rhythmisch ostinate d' der Pauke ein Pendant im Blues-Rhythmus von "Stille und Umkehr" zu finden, der in unverrückbarem Tempo das ganze Stück durchzieht.

 

Die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitmaße ist in der mixturartigen Setzung verschiedener Orchestergruppen in rhythmischen Überlagerungen und kompositorischer Dichte bis hin zum 36-stimmigen Kanon im "Preludio" der Oper wesentlich komplexer als in der Schlußphase von "Photoptosis". Die musikalische Struktur wird - bedingt durch das Prinzip der Zeitdehnung - in "Photoptosis" überschaubarer und transparenter. Und in der gezielten Entwicklung und Steigerung vom pianissimo am Anfang bis zur abschließenden dynamischen Expansion, die die gesamte Orchesterpalette einsetzt, ist "Photoptosis" das genaue Spiegelbild zu "Stille und Umkehr". Während dort in zwei Etappen (Abschnitte I - III und IV - VI) nach und nach eine Reduktion in der musikalischen Struktur und Substanz zu beobachten ist, ist der Spannungsverlauf in "Photoptosis" genau umgekehrt angelegt: eine zweimalige Intensivierung und Verdichtung (Abschnitte I - III und IV + V).

 

In den Ordnungsprinzipien, nach denen die Klangschichten und Zeitstrecken strukturiert sind, scheint serielles Denken mitzuschwingen. Doch wesentlich ohrenfälliger ist die sehr differenzierte Instrumentation, die mit jedem Stück in ihrer oszillierenden Farbigkeit zunimmt. Dies hängt wiederum mit der Reduzierung des Orchesterapparates zusammen. Im "Preludio" ist fast ständig das gesamte Orchester - oft alle Streicher solistisch unterteilt - am Klanggeschehen beteiligt, und durch die vielfache rhythmische Schichtung geht die Einzelstimme im Gesamtklang unter, doch durch die Unterschiede in der simultanen wie sukzessiven Dichte wird für den Hörer eine Gesamtgebärde erkennbar. Die Orchesterbesetzung von "Photoptosis" ist zwar annähernd so umfangreich, doch dort bleibt selbst in der Schlußphase das Klanggeschehen transparenter, da sich die stereotypen Tonbewegungen der Bläser und Streicher zu einer Ganztonfläche addieren. "Stille und Umkehr" wirkt dagegen fast kammermusikalisch, da trotz eines nicht geringen Instrumentariums nie der ganze orchestrale Apparat eingesetzt wird, sondern stets nur kleine ausgewählte Gruppen. Diese Kargheit der Besetzung, als auch die der musikalischen Mittel, hat trotz der äußerst delikaten klangfarblichen Instrumentation ein Moment der Verweigerung und Zurücknahme.

 

Unter dem Gesichtspunkt der vielfältigen Bezüge untereinander, die sich schon allein im äußeren Klangbild, und trotz des reichen Innenlebens im statischen Eindruck zeigen, und unter Berücksichtigung des biographischen Hintergrunds, erhalten die Orchesterskizzen "Stille und Umkehr", als letztes rein orchestrales Werk, ein besonderes kompositorisches Gewicht. In der Zurücknahme der äußeren Gebärde auf sparsamste, verhaltene Zeichen, bis zur resignativen Auflösung der musikalischen Substanz am Ende, scheint "Stille und Umkehr" bekenntnishaft die Charakteristik des Zimmermannschen Spätwerks ab den "Soldaten" zusammenzufassen und läßt eine direkte Linie erkennen:

 

"Preludio" (Soldaten) à "Photoptosis" à "Stille und Umkehr"

 

 

Der Titel der Orchesterskizzen charakterisiert zwar die Sparsamkeit der Mittel und die musikalische Aussage mit ihrer oft gegenläufigen Struktur, doch scheint im Zusammenhang mit Zimmermanns letztem Werk, der Ekklesiastischen Aktion "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne", deren geradezu verzweifelte und erschütternde Aussage die Konsequenz seines Freitodes vorausnimmt, im Titel "Stille und Umkehr" mehr angedeutet zu werden und mitzuklingen.

 

 

"Stille und Umkehr" - Werkanalyse

 

Auffälligstes Merkmal des letzten Orchesterwerkes von Bernd Alois Zimmermann ist der für die ganze Dauer des Stückes  durchgehaltene Ton 'd', ein stets präsenter Orgelpunkt, der im Verlauf der Zeit lediglich durch verschiedene Instrumentation seine Farbe ändert und durch die Arabesken und Bewegungsflächen unterschiedlicher Instrumentalgruppen und solistische

Einwürfe beleuchtet wird. Neben dem kontinuierlichen Klang des Tones 'd' bildet der Blues-Rhythmus eine weitere zentrale Klangschicht; stets wiederholt ändert sich nur durch geänderte Spielweise (mit Handfläche, mit Besen) und dem Wechsel zwischen kleiner Trommel und Rührtrommel geringfügig seine Klanglichkeit. Zimmermanns Anmerkung in der Partitur, dass der Blues-Rhythmus unbedingt von einem Jazzer auszuführen ist, mag die Bedeutung, die diesem rhythmischen Ostinato des Stückes beizumessen ist, bekräftigen.

 

Während die farblichen Veränderungen des Blues-Rhythmus keine neuen Abschnitte markieren, läßt sich aber an den klangfarblichen Wechseln in der Instrumentation des Tones 'd', dessen Lautstärkegrad im ganzen Stück nur zwischen pp und mp schwankt, der formale Ablauf ableiten:

 

1             Takt 1- 24             3. Flöte, Harfe und Flageolett von 3 Violoncelli und Solokontrabaß

 

Il              Takt 25- 33           3 Flöten, 1. Klarinette und Harfe (ordinario und flageolett)

 

III             Takt 34- 46           Harfe (ord. u. flag.)

 

IV            Takt 47- 88           Englisch Horn und Altsaxophon

 

V             Takt 89-112          singende Säge, antike Zimbeln, Solovioline und Soloviola

 

VI            Takt 113-136       1. Klarinette, singende Säge, antike Zimbeln, Akkordeon und 3 Kontrabässe

 

(die Anfänge von II und III werden jeweils von einer Viertelnote des 1. Hornes markiert; II con sord. und III gestopft)

 

Anhand der zeitlichen Ausdehnung der einzelnen Abschnitte läßt sich eine interessante Beobachtung machen: So scheinen die Abschnitte IV, V und VI analog zur Zeitdehnung der musikalischen Elemente eine zeitliche Verdopplung der Abschnitte I, II und III zu sein. Außerdem sind II und III mit zusammen 22 Takten annähernd so lang wie 1 (24 T.) und V und VI mit zusammen 48 Takten nur knapp länger als IV (42 T.).

 

 

Bekräftigt wird diese Beobachtung durch die jeweils abnehmende Ereignisdichte um die Tonachse 'd' in den Abschnitten I - III und IV - Vl. Der Prozeß der Zurücknahme und Auflösung läßt sich in den Abschnitten I - III sehr deutlich schon allein an der Reduzierung des Instrumentariums festmachen. Spielen in I drei Flöten, Harfe, drei Celli und Solokontrabaß, sind es in II nur noch die drei Flöten, 1. Klarinette und Harfe. In III reduziert es sich weiter auf Harfe und zwei Becken. Die Anzahl der Registerfarben schrumpft also von vier auf zwei (Unberücksichtigt bleibt das nur den Anfang von II und III markierende 1. Horn.)

 

 

Doch auch für die Gesamtdauer des Werkes läßt sich die Feststellung machen, daß sich die musikalische Substanz in Etappen auflöst. Wird die rhythmisch ostinate Zeitebene des Blues-Rhythmus' von Anfang bis Ende, abgesehen von kleinen - noch zu besprechenden - Schwankungen, streng durchgehalten, gilt dies bei der Zeitebene der Tonachse 'd' nur bis zum Takt 88, also dem Ende von Abschnitt IV. In den Abschnitten V und VI ist keine strenge Regelmäßigkeit mehr in den Werten der durch die Einsatzabstände markierten Dauern zu erkennen. Betrachtet man nun die dritte Zeitebene, die Arabesken der Flöten und die Figurationen der anderen Instrumente später, sowie die Impulsgebung des Tones 'd' in Harfe und Zimbeln, zeigt sich, daß hier die zeitliche Organisation nur bis Takt 46, also dem Ende von Abschnitt III, streng eingehalten wird.

 

 

Hier zeigt sich eine Gliederung in annähernd drei gleiche Teile: 44 Takte (I - III) sind alle drei Zeitschichten streng organisiert, bei den nächsten 42 Takten (IV) gilt dies nicht mehr für die Figurationen und in den letzten 48 Takten (V + VI) bleibt lediglich der Blues-Rhythmus konstant in seiner Abfolge. Diese dreiteilige Gliederung läßt auch noch eine andere Beobachtung zu: Neben den zeitlich genau organisierten Einsatzabständen der liegenden Klänge von Flöte, Klarinette, Celli und Kontrabaß ist das von der Harfe gespielte 'd' instrumentenbedingt wie ein ständiger Impuls dieser Tonachse in den Abschnitten I bis III. Damit korrespondiert in den Abschnitten V und VI das auf den antiken Zimbeln angeschlagene oder mit dem Bogen gestrichene 'd', welches drei Oktaven höher als die liegende Tonachse, der 7. Oberton zu ihr ist. Somit erklärt sich auch das dreigestrichene 'a' als 5. Oberton; nur diese beiden Töne benutzt Zimmermann bei den Zimbeln. Dieses steht offensichtlich in Bezug zu den beiden Farben des Tones 'd' in der Harfe (ordinario und flageolett). Während die Abschnitte I bis III die sich von Mal zu Mal verkürzenden Einsätze der Harfenimpulse verbinden, löst sich der Impulscharakter der beiden Zimbeln in den Abschnitten V und VI durch den Wechsel von gestrichenem und angeschlagenem Ton auf. Es fehlt außerdem die schon erwähnte Einhaltung der Einsatzabstände. Auffälligerweise fehlt diese Impulsgebung des Tones 'd' jedoch gänzlich im Abschnitt IV, der mit 42 Takten auch der umfangreichste ist, und dessen Klangereignisse und Bewegungsflächen um das 'd' herum am dichtesten sind und den größten Tonvorrat benutzen. Also existiert auch hier eine Dreigliedrigkeit. Das leichte Schwanken in der zeitlichen Ausdehnung (46 - 42 - 48 Takte) spiegelt in der Großform nur das wider, was auch die zeitliche Organisation der Einsatzabstände bei der instrumentalen Färbung der Tonachse 'd', sowie die Gliederung durch Arabesken und Impulse charakterisiert, solange ihre Dauernwerte konstant eingehalten werden.

 

Auch die unabhängigste Zeitebene von "Stille und Umkehr" der Blues-Rhythmus - zeigt diese kleine Unregelmäßigkeit. Sie soll hier als erste genauer untersucht werden. Der Blues-Rhythmus gliedert sich in 2+2+4 Takte, umfaßt also insgesamt 8 Takte:

 

 

Er wird stets pp gespielt; lediglich die beiden mit Vorschlag versehenen Synkopen im 6. Takt sind im mf. Dieser achttaktige Blues-Rhythmus wird insgesamt 17mal wiederholt. Während des ersten Abschnittes erscheint er also genau dreimal und somit fällt der vierte Einsatz mit dem Beginn des zweiten Abschnittes zusammen. Bei der 5. Wiederholung des Blues-Rhythmus' wird dieser um zwei Takte verlängert; hier werden die beiden ersten Takte in der Mitte (T. 37/38) nochmals eingeschoben. Durch diese Verlängerung auf 10 Takte und die Dauer von nur 22 Takten von II und III setzt der Blues-Rhythmus mit einer Verzögerung von vier Takten im Abschnitt IV zum siebenten Mal neu an, diesmal mit einer ersten klangfarblichen Veränderung; während er bisher stets mit der Handfläche auf der kleinen Trommel gespielt wurde, wird er nun mit dem Besen ausgeführt. Der nächste klangfarbliche Wechsel fällt mit eintaktiger Verspätung mit dem Beginn des Abschnitts V zusammen; zwar wird der Blues-Rhythmus hier wieder mit der Handfläche gespielt, diesmal aber auf der Rührtrommel. Bemerkenswert ist, daß von diesem erneuten Klangfarbwechsel der Rhythmus wieder nicht in seiner originalen Gestalt von acht Takten erscheint. Hier ist er nun um einen Takt verkürzt: Die Pause zwischen der ersten und zweiten Phrase wird um einen ganzen Takt reduziert und somit wird die erste Hälfte auf drei Takte gestaucht:

 

 

Erst wenn der Blues-Rhythmus ab Takt 130 zum 17. und letzten Mal erscheint, wird er wieder auf der kleinen Trommel gespielt, wie zuvor auf der Rührtrommel weiterhin mit. der Handfläche. Hier fehlt auffälligerweise der letzte Takt (Pause), so daß man auch hier von einer Verkürzung auf sieben Takte sprechen kann, wenngleich seine Gestalt diesmal nicht verändert ist.

 

Dadurch, daß der Blues-Rhythmus beim fünften Mal um zwei Takte verlängert wird und beim elften und 17. Mal um jeweils einen Takt verkürzt wird, hebt sich diese kleine Unregelmäßigkeit auf die Gesamtdauer des Werkes gegenseitig wieder auf. Die gleiche Beobachtung läßt sich, wie später gezeigt wird, auch bei der zeitlichen Organisation der Tonachse 'd' in Abschnitt IV machen.

 

Nun soll die kompositorische Anlage der einzelnen Abschnitte eingehender behandelt werden. Da bis zu Beginn des Abschnitts IV die Dauern und Einsatzabstände der Ereignisse um den Ton 'd' mit dessen zeitlicher Gliederung gekoppelt sind, sollen beide Elemente zusammen betrachtet werden.

 

Im Abschnitt I markieren die Einsätze der Arabesken von Flöte 1 und 2 die Dauer einer Zeitstrecke. Sie sind gleichsam wie ein figurierter Einschwingvorgang des 'd', denn der Harfenimpuls und das 'd' in 3. Flöte und Kontrabaß setzen gleichzeitig ein. (Kleine Verschmutzungseffekte im Einsatz entstehen nur dort, wo der Beginn der Zeitstrecke nicht auf einen vollen Schlag fällt und Flöte 1 und 2 in einer 16tel-Triole oder einer 16tel-Quintole einsetzen oder mit einer Vorschlagnote beginnen.) Die Spieldauer von Flöte 3 und Kontrabaß beträgt stets eine punktierte Viertel und die Dynamik ist immer pp < >. Die Klangfarben der beiden Instrumente verschmelzen durch die tiefe Lage der Flöte und das Flageolett vom Kontrabaß ineinander. Eine Aufhellung in der Klangfarbe bewirkt das immer nach einer Viertelpause einsetzende 'd' in den drei Celli. (Lediglich der zweite Einsatz ist um fünf Sechszehntel versetzt). Spielte der Solo-Kontrabaß das ,d' als Quart-Flageolett, erklingt es bei den Celli nun in einem klarer klingenden Quint-Flageolett auf der leeren G-Saite und wird im pp (vibrato mit kleinen cresc. und dim. ad lib.) bis zum nächsten Einsatz der Flötenarabesken gehalten.

 

 

Die durch die Flötenarabesken markierten Zeitstrecken schwanken in der Dauer zwischen 8 ¾  und 9 Vierteln (8 ¾ - 9 - 8 ½ - 8 ½ - 9 - 9 - 9 - 8 ½  - 9 - 7 Viertel). Die letzte Zeitstrecke ist nur deswegen um eine punktierte Viertel verkürzt, weil hier der Kopf der Zeitstrecke nochmals quasi als Auftakt zum Abschnitt II gespielt wird. Trotz dieser geringfügigen Abweichungen bleibt der Eindruck einer regelmäßigen Wiederkehr bestehen. Die Statik dieser ostinaten Wiederholung scheint durch diese leichte Unregelmäßigkeit unmerklich zu atmen. Die huschenden Flötenfiguren beschränken sich in Flöte 1 auf sieben (cis, d, e, g, as, b, c) in Flöte 2 auf nur drei Töne (c, d, es). Beide benutzen das 'c' nur als Vorschlagsnote und spielen durchgehend eine gleichbleibende Anzahl von Tönen: Flöte 1 neun Triolen- 16tel, Flöte 2 sieben Quintolen-16tel (ohne Vorschlagsnoten). Nur in Takt 11/12 spielt Flöte 2 acht Töne. Im ppp, zunächst ohne crescendo, ab der 5. Figur ppp < >, umkreisen diese Arabesken das 'd' in geringster dynamischer Stufe. Die Starre des Ausdrucks wird dadurch unterstrichen, daß Flöte 2 abgesehen von den Vorschlagsnoten immer nur einen ausnotierten langsamen Triller 'd-es' spielt und in Flöte 1 bis zur achten Figur einschließlich zwei Figuren inhaltlich zusammengehören, da jeweils die zweite der Krebs der vorherigen ist. (siehe obenstehendes Notenbeispiel, Takt 1-3)

 

Bei den letzten vier Figuren wird dieses Prinzip in Flöte 1 nicht mehr eingehalten und es zeigt sich hiermit im Kleinen wieder die schon beobachtete abnehmende Strenge der Organisation des Materials.

 

(Bemerkenswert ist die Verwandtschaft dieses ersten Abschnittes zu dem von "Photoptosis". Auch dort wird eine Zeitschicht ähnlich instrumentiert. Wie in "Stille und Umkehr" markieren bewegte Flötenfiguren, deren Beginn durch einen Impuls von Harfe oder Celesta gekennzeichnet wird und die in einen statischen Klang mündet, die Dauer einer Zeitstrecke, hier 17 ½  Viertel. Diese Zeitstrecke erscheint elfmal, also genauso oft wie in "Stille und Umkehr".)

 

Im Abschnitt II treffen nun zwei verschieden lange Zeitstrecken aufeinander. Zusammen mit der Reduktion des Instrumentariums beschränkt sich der benutzte Tonraum nur noch auf die Töne 'd' und 'es', wobei das 'es' nur wie eine kurze chromatische Eintrübung als Vorschlagsglissando in der 1. Klarinette erklingt. Die drei Flöten spielen unisono das 'd' jeweils im freien Wechsel von zehn 16tel und elf 16tel Spieldauer; getrennt sind die Einsätze stets von einer Viertelpause. Diese Zeitstrecke, deren Anfang wieder von dem Harfenimpuls markiert wird, schwankt also zwischen 3 ½  und 3 ¾ und erscheint insgesamt zehnmal. Analog dazu wird dem Einsatz der Klarinette das 'd' nun als Flageolett von der Harfe zugewiesen. Während die Spieldauer mit acht, sieben und sechs 16tel  kürzer ist als bei den Flöten und mehr schwankt, sind die Pausen zwischen den Einsatzabständen hier größer. Auch die Dauern der sich siebenmal wiederholenden Zeitstrecke zeigen größere Schwankungen: 5 ¼  - 5 - 5 ¼  - 4 ¾  - 5 ¼  - 5 - 4 ½  Viertel. Dadurch, daß die Klarinette zu Beginn des Abschnitts mit einer Viertelpause Verzögerung einsetzt, fällt der Beginn der Zeitstrecken nie zusammen.

 

In Abschnitt III wird die Besetzung noch weiter reduziert. Das 'd' erscheint nur noch in den Harfenimpulsen und der statisch liegende Klang wandert nun in den geräuschhaften Obertonklang der mit dem Bogen gestrichenen beiden Becken. Gegenläufig zu der bisherigen Verringerung der musikalischen Mittel ist die mit jedem Abschnitt zunehmende Verkürzung der Zeitstrecken, die durch die Harfenimpulse abgesteckt werden, und die Steigerung in der Anzahl der aufeinanderstoßenden Zeitstrecken. Bestimmt neben dem durchlaufenden Blues-Rhythmus im I. Abschnitt nur eine Zeitstrecke das musikalische Geschehen, so sind es im zweiten schon zwei, und hier nun vier. Allerdings stehen die beiden Zeitstrecken der Becken zu denen in der Harfe im Verhältnis 2 : 1. Untereinander haben die Werte der Dauern bei den zwei Becken (9 und 6 Viertel) und den zwei Farben der Harfenimpulse (4 ½  und 3 Viertel) das Verhältnis 3 : 2. Während die Einsatzabstände im 1. Becken und dem ordinario gespielten 'd' der Harfe konsequent eingehalten werden, wird die Zeitstrecke des im Flageolett gespielten 'd' zweimal um ein Achtel auf 3 ½ Viertel verlängert und im 2.Becken einmal um ein Viertel auf  7 Viertel verlängert und ein anderes Mal auf 5 Viertel verkürzt. Diese Unregelmäßigkeit hebt sich also wieder gegenseitig auf. Die Dynamik der Becken bleibt konstant p < > (sempre espr.!). Die Harfe spielt stets mp (ordinario) und mf (flageolett).

 

Der Abschnitt IV ist in der musikalischen Struktur der komplexeste und dichteste. Die Bewegungsflächen, die im Abschnitt I mit der zeitlichen Organisation des Tones 'd' gekoppelt waren, verselbständigen sich nun und gliedern den zeitlichen Ablauf unabhängig. Nach dem ausdruckslosen Flageolett-Klang von Kontrabaß und Celli erklingt das 'd' nun in der lebendigeren Färbung von Englischhorn und Altsaxophon. Hier nun werden die Zeitstrecken gedehnt, was sich bei den Becken bereits im vorherigen Abschnitt anbahnte. Die beiden Becken (zwei größere als die vorherigen) spielen jetzt um einen Takt versetzt, quasi kanonisch, genau die gleichen Zeitstrecken wie Englischhorn und Altsaxophon. Die Dauern schwanken im Englischhorn zwischen 15 ¾  und 17 Vierteln, doch heben sich diese Schwankungen um den Wert von 16 ½  Vierteln - wie oben schon erwähnt - gegenseitig wieder auf:

 

 

Das gleiche gilt für die Zeitstrecken im Altsaxophon. Hier gibt es allerdings nur viermal eine Abweichung vom Dauernwert 12 Viertel:

 

 

Die zeitliche Organisation des Zentraltons 'd' korrespondiert hier zu der in Abschnitt II. Wie in II die Zeitstrecke von Flöten und Harfe (ord.) zehnmal erscheint, so wird sie auch hier vom Englischhorn zehnmal gespielt. Das Altsaxophon verdoppelt mit 14mal die Wiederholung der Zeitstrecke von Klarinette und Harfe (flag.) in II (7mal). Dieser zeitlichen Dehnung des Tones entspricht auch die Erweiterung der sich verselbständigenden Bläserfiguren. Klarinette 1, Baßklarinette und Kontrafagott übernehmen zunächst die Rolle der beiden Flöten in Abschnitt I. Entsprechend der sehr tiefen Registerfarbe verlangsamen sich diese Figuren jetzt: Klar. 1 16tel, Bkl. u. Kfg. 8tel-Triolen. Gekoppelt sind sie mit dem liegenden Klang der Kontrabässe, welche drei Töne des bei den Bläsern benutzten Tonvorrats entsprechend zur Länge der Figuren halten. Die Strenge der Einsatzabstände ist nun aufgehoben, auch der umkreiste Tonraum sowie die Bewegungsform der Figuren und ihre rhythmisch-zeitliche Ausdehnung ändern sich. Zunächst erklingen abwechselnd (T. 47-54) die von den Kontrabässen farblich grundierten Einwürfe von Klarinette, Baßklarinette und Kontrafagott und die Figuren der Harfe, deren Tonvorrat seinerseits von den drei Celli als Liegeklang im fahlen 'sul tasto' mitgezeichnet wird. Die Repetitionsfigur der Harfe in T. 49 stellt nun zum ersten Mal den Bewegungstypus vor, der im weiteren Verlauf des Abschnittes an Bedeutung gewinnt: gleichförmige, monotone Wiederholung desselben Tones oder Klanges. Schon zwei Takte später (T. 51) erscheint die Harfenfigur sogar fast wörtlich in der Baßklarinette im Bläsereinwurf wieder, während die erste Klarinette zeitgedehnt (ohne Vorschläge) die Flöte 2 und das Kontrafagott Flöte 1 vom Anfang im Bewegungstypus imitiert (die 16tel-Quintolen und 16tel-Triolen vom Beginn werden hier in Achtelwerte augmentiert).

 

 

Während die erste Harfenfigur mit ihrer starren Repetition in ihrer musikalischen Bedeutung nach vorne gerichtet war, scheint die Figur im Takt 52 - eine in sich kreiselnde Drehfigur mit drei Tönen - rückwärts gerichtet, da sie wieder die Arabeskenfiguration imitiert. In Takt 55 tritt nun die zweite Klarinette und in Takt 64 das zweite Horn zu den drei anderen Bläsern hinzu. Der Wechsel zwischen Bläser- und Harfeneinwürfen wird aber nun auch in den Zeitabständen unregelmäßiger: Bl. - Hfe. - Hfe. - Bl. - Bl. - Hfe. - Hfe. Die Zuordnung von liegenden, harmonisch mitzeichnenden und farblich grundierenden Klängen von Celli und Kontrabässen ändert sich nicht. Die Bläsereinwürfe sind hier in dreifacher rhythmischer Überlagerung Repetitionsfiguren mit Vorschlagsnoten und greifen das auf, was die Harfe in Takt 49 andeutete. In der zeitlichen Ausdehnung dieser Einwürfe auf 4, 3 und 5 Viertel ließe sich aufgrund der starren Repetition aber auch ein Bezug zu den Zeitstrecken und ihren Überlagerungen erkennen. So scheinen sie wie auf kürzestem Raum gestauchte Schichtungen von Impulsen zu sein, beinhalten also zwei gegenläufige Entwicklungen.

 

 

Die Spielanweisung "mit halber Luft" bestätigt die musikalische Zusammengehörigkeit dieser drei Bläsereinwürfe zwischen den Takten 55 bis 69. Die antwortenden Harfenfiguren sind zunächst im oberen System noch Drehfiguren, die mit einer begrenzten Anzahl von Tönen in sich kreiseln (T. 58 + 59 / 60), im unteren System aber auch schon Repetitionen oder Schaukelbewegungen zwischen zwei Tönen oder Klängen, wie ausschließlich in Takt 67 und 68 / 69.

 

Ab Takt 70 fehlt die Kontrabaßgrundierung bei den Bläsern, während den beiden Harfenfiguren in Takt 76 und 79 weiterhin die liegenden Celloklänge zugeordnet bleiben. Bemerkenswerterweise ist die Intervallkonstellation der grundierenden Liegeklänge dieser beiden letzten Harfeneinwürfe gespiegelt zu denen der beiden ersten Einwürfe in Abschnitt IV:

 

       

 

Waren die Bläserfiguren zuvor bestimmt von Überlagerungen verschiedener Geschwindigkeiten von Repetitionen (Achtel-Quintole, Achtel, Viertel-Triole), so spielen in Takt 70 zum ersten Mal alle beteiligten Bläser - nun wieder "mit ganzer Luft" - im rhythmischen Unisono Achtel-Triolen. Die Kontrabaßposaune scheint mit ihrem liegenden Pedalton 'b' die Funktion der Kontrabässe zu übernehmen. Beim nächsten Einsatz derselben Bläsergruppe (T. 72 / 73) verflüchtigt sich der liegende Pedalton zum Flatterzungenklang und die Achtel-Triolen werden in eine starre Wiederholung von Viertel-Triolen vergrößert; der Tonvorrat wird nur unwesentlich verändert. Diese Zweier-Zugehörigkeit zeigt sich neben den schon genannten Harfenfiguren hier wieder, und ebenso auch in den anderen Einwürfen; so korrespondiert der Horntriller und die mit Glissando-Vorschlägen versehene Tonrepetition der ersten Posaune in Takt 71 / 72 mit dem Einwurf in Takt 82: Der Triller ist in eine notierte Achtel-Septole verlangsamt, und statt dem Trillerton 'ges' wechselt das 'f' hier mit dem 'e', und in der Achtel-Quintole der Posaune werden nun Vorschlagsnote und Repetitionston von vorher ausgetauscht; es handelt sich also auch hier nur um eine unwesentliche Veränderung.

 

In Takt 76 / 77 erscheint erstmals das chromatische Total in einem zwölftönigen Akkord in wieder höherer Registerfärbung (4 Fl, 3 Ob, 4 Klar, 1. Horn) als Schichtung von repetierten 16teln und Achtel-Triolen, dessen Aufbau in sich gespiegelt ist:

 

 

Der gleiche Akkord erklingt nochmals mit Verlangsamung der Repetitionen und diesmal mit Vorschlägen in Takt 81. Die 16tel von vorher werden zu Achteln, die Triolen-Achtel zu Quintolen-Vierteln. Die Vorschlagsnoten sind ebenso wie der Akkord in sich gespiegelt und ergeben jeweils nach Repetitionsgeschwindigkeit zusammengerechnet einen fünftönigen Ganztoncluster. (Bei der Gruppe A wird das 'd' von 1. Fl.  +  2. Klar., bei der Gruppe B das 'a' von 3. Ob. und 1. Horn gedoppelt).

 

Trotz der Aufgabe der strengen Einhaltung in der Abfolge und Gestalt der einzelnen Einwürfe existieren dennoch, wie gezeigt wurde, vielfältige, auch gegenläufige Beziehungen zwischen diesen Klanggruppen untereinander, und obwohl eine größere Abwechslung in den Registerfarben und rhythmischen Gestalten besteht, bleibt der grundsätzliche Eindruck des Statischen und des In-sich-Verharrens des musikalischen Geschehens bestehen.

 

(Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß gleichgestaltige Repetitionsfiguren und in sich kreiselnde Bewegungen in rhythmischer Überlagerung ebenso in "Photoptosis" zu finden sind, oft in ganz ähnlicher Registerwahl (Bläser, Harfe). Diese sind ihrerseits hergeleitet aus "Intercommunicazione", wo Zimmermann zum ersten Mal eingehend das Prinzip der Zeitdehnungs-Technik anwandte.)

 

Der Abschnitt V setzt die Entwicklung fort, die sich im Vorherigen schon anbahnte. Nun wird auch die Strenge bei den Zeitstrecken des 'd' aufgegeben. Es wird, jetzt von Violine und Viola gespielt, durchwegs noch länger gehalten als zuvor im Englischhorn und Altsaxophon. Die.Dauern zwischen den Einsatzabständen zeigen bei der Viola noch größere Streuungen als bei der Violine. (VI 1: 17½  - 9 - 9 - 17½  - 17½   - 26½ ; Vla: 12 – 22½  - 14½  - 12½  - 12 - 21 Viertel). Die scheinbar unendliche Ausdehnung bewirkt die Auflösung der strengen zeitlichen Fixierung. Zu Beginn markiert ein Impuls der antiken Zimbeln den Einsatz der Violine, entsprechend die singende Säge den der Viola in Takt 89 und 92, doch im weiteren Verlauf wird diese Zuordnung fallen gelassen.

 

Nun beziehen solistische Bläser erstmals auch Mikrotöne ein. Die flüchtigen, im Gestus rhapsodischen Figuren bewegen sich mit Tremoli, Flatterzunge, Glissandi (bei den Hörnern in T. 107 über die Ventile), teilweise 'con sordino' oder mit 'halber Luft' gespielt, Pedaltönen und 'sul-ponticello'-Spiel sowie schnellen Pizzicato-Läufen in einer extremen Ausdruckswelt am Rande des Verstummens und rücken, stets "so leise als möglich" aufgeführt, in einen unwirklichen Klangbereich. Dabei scheinen Spielbeginn und -ende der wechselnden Instrumente oft aufeinander bezogen zu sein, wie folgendes Beispiel belegen mag:

 

 

Die in Quartsprüngen aufsteigende Triole am Ende des Einwurfs der Posaune 1 wird entsprechend fortgeführt in den absteigenden Quintsprüngen in gleicher rhythmischer Gestalt, mit denen die Kontrabaßposaune ihren anschließenden Einsatz beginnt. Deren aufwärts gerichtetes Schlußglissando wird von einer abwärts gerichteten flüchtigen Septolenfigur der Baßklarinette beantwortet. Doch läßt sich hier kein festes System mehr erkennen. Nach der fast amorphen Gestalt und den monotonen Wiederholungen mit unmerklicher Veränderung scheinen diese Gesten der verschiedenen solistischen Bläser wie ein zaghafter Versuch des Redens, schattenhafte Regungen, die jedoch in den resignativen Charakter des ostinaten Blues-Rhythmus und in die Unendlichkeit des gedehnten Tones 'd' zurückfallen.

 

Im Vl. und letzten Abschnitt, der wie eine Coda wirkt, verflüchtigt sich die musikalische Substanz noch mehr. Das 'd' erklingt im körperlosen Klang des Akkordeons und dem obertonarmen Klang der Klarinette. Die singende Säge trübt die Farbe mit gelegentlichen Mikrotönen noch ab, nur das in den Zimbeln unregelmäßig angeschlagene oder gestrichene 'd' und 'a' hellt dies noch gelegentlich auf. Auf die in Spielgeschwindigkeit und Einsatzabstand ritardierenden drei Figuren der Streicher verflüchtigen sich von "p espr." bis zu "sul ponticello - so leise als möglich". Die erste, von Solo-Violine und -Viola gespielt, umkreist um die leere D-Saite diesen Ton mit Vierteltönen durchsetzt im Ambitus eines Tritonus ('h' bis 'f'). Bei der zweiten Figur umspielt die Viola das 'd' nur noch bis zum 'cis' und 'es', entsprechend das Cello die leere G-Saite nur bis zum 'fis' und 'as'. Schließlich erklingt in den drei Kontrabässen in tiefster Lage mit wieder erweitertem Tonvorrat, aber durch das ,sul ponticello'-Spiel klanglich verfremdet ein letztes Mal eine ähnliche Figur. Das 'd' der Klarinette wird ab Takt 127 bis zum Schluß von den Kontrabässen übernommen, die es wie am Anfang im Flageolett halten.

 

Unheimlich und unwirklich, wie aus weiter Ferne, schiebt sich ab Takt 130, wo zum letzten Mal der Blues-Rhythmus "espressivo molto" und "sehr entrückt" gespielt wird, ein Tremolo der großen Trommel unter dem Klang des ausgehaltenen 'd'. Mit langsamem "morendo" bis zum Schluß, aber ohne Ritardando löst sich die Musik ins Nichts auf.

 

 

Bezüge zur musikalischen Vergangenheit und Zukunft

 

Auch wenn sich die folgenden Betrachtungen auf dem Boden der Spekulation bewegen mögen, soll dennoch versucht werden, neben der Achse von Bezügen in Zimmermanns eigenem Oeuvre, eine beispielhafte Bezugsachse im musikhistorischen Kontext vor und nach "Stille und Umkehr" aufzuzeigen.

 

Sowohl der Aspekt der Klangschichtenkomposition, als auch der der zeitlichen Dehnung eines in sich beschränkten musikalischen Materials, hat seine Vorläufer. Es sollen hier zwei Beispiele der Vergangenheit bemüht werden: aus dem Streichquintett C-Dur (D.956) von Franz Schubert der zweite, langsame Satz und das kurze Orchesterstück "The Unanswered Question" von Charles Ives, dessen Entstehung (1908) in die ereignisreiche, musikalische Umbruchzeit der Jahrhundertwende fällt.

 

Man kann frappierende Gemeinsamkeiten entdecken, wenn man den zweiten Satz des Schubert-Quintetts direkt neben "Stille und Umkehr" hört. Der weitgespannte, dreistimmig melodische Satz in den Mittelstimmen (VI.2, Va., Vc.1) wirkt wie in die Unendlichkeit gedehnt. Die atemberaubende Schwerelosigkeit wird unterstützt durch die bevorzugte Terzlage und durch die oft sehr lang ausgehaltenen harmoniefremden Töne (z. B.Takt 4 + 8) oder das Fehlen der Quinte (z. B. Anfang Takt 7). Die harmonischen Wechsel dieses verinnerlichten Gesanges werden jeweils von den Baßfortschreitungen des 2. Violoncellos im Pizzicato markiert. Darüber erheben sich die von der 1. Violine gespielten kurzen Motive und Einwürfe, die im punktierten Rhythmus auf einem Ton verharren oder nur eine Intervallspannung als Seufzer anspielen. Das sich unmerklich verändernde Klanggeschehen überschreitet dynamisch nur selten das pianissimo, geht sogar im Takt 15 in das dreifache piano zurück, wo die 1. Violine den Pizzicati des 2. Violoncellos antwortet. In den sechs Takten, die nach dem leidenschaftlichen Mittelteil wieder zum Anfang zurückführen, scheint sich die Musik fast auflösen zu wollen; von langen Pausen unterbrochen wird der verminderte Dreiklang 'f - gis - h - d' im ppp wiederholt und mündet mit Vorhaltsnoten in den Fis-Dur Dreiklang (T. 58/59). Das Gleiche wiederholt sich um einen Ganzton nach unten versetzt in den zwei folgenden Takten nochmals, und nach einer lang gedehnten Kadenz hebt wieder der dreistimmige Gesang an, diesmal von verlängerten Motiven und Gesten der korrespondierenden Randstimmen kontrapunktiert.

 

 

Daß auch Schuberts Streichquintett kurz vor dem Tode entstand, und diesem Satz, der mit seinem verhaltenen, nach innen gekehrten Ausdruck wie ein Schwanengesang anmutet, eine ähnliche Bedeutung wie Zimmermanns Orchesterskizzen zufällt, ist eine weitere denkwürdige Gemeinsamkeit.

 

Noch deutlicher wird die Gleichzeitigkeit mehrerer Zeitebenen in "The Unanswered Question" von Charles Ives. Die innere Spannung der drei unterschiedlichen musikalischen Elemente erwächst aus ihrer eigentlichen Bezugslosigkeit und dem Kontrast ihrer Gestik. Ein vierstimmiger, ganz tonaler Streichersatz, der einem weitgespannten Choral gleicht, durchzieht, stets ppp 'con sordino' gespielt, ohne Tempowechsel das ganze Stück und scheint auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit suggerieren zu wollen. Über diesem sehr langsamen und gehaltenen, rein diatonischen Klanghintergrund erklingt sieben Mal eine kurze unbestimmte, nicht tonale Phrase der Trompete (,Frage'), deren Gestalt sich nur unwesentlich verändert. Ohne rhythmischen Bezug zu den Streichern und in der Tonalität genauso unbestimmt wie die kurze Trompeten-Phrase scheinen die vier Holzbläser mit ihren Einwürfen, die jedesmal in ihrer Dynamik und ihrem Tempo unruhiger und hektischer werden, der Trompete antworten zu wollen. Nur bei den Holzbläsern ist eine deutliche, zunehmende Veränderung wahrzunehmen, während sowohl die Trompete als auch die Streicher ganz unbewegt davon in ihrem Ausdruck verharren. Der sich ins Nichts (pppp) auflösende, über 4 ½  Takte gehaltene G-Dur-Dreiklang scheint, wie in die Unendlichkeit gehalten, die Unbestimmtheit der Trompeten-Phrase auffangen zu wollen. Doch ohne 'Antwort' der Holzbläser bleibt sie, über dem G-Dur-Streicherklang ein letztes Mal gespielt, imaginär im Raum hängen.

 

 

Ganz ähnlich klingen auch das 'd' und der Blues-Rhythmus von "Stille und Umkehr" im inneren Ohr weiter, nachdem die Musik verklungen ist.

 

Die aus naiver Experimentierfreude entstandenen Stücke von Ives, die bestimmt sind von der Mehrgleisigkeit verschiedener Metren, Rhythmen und Tonalitäten bis hin zu collage-artigen Schichtungen musikalischer Zitate, wirken ohnehin wie eine Vorausnahme dessen, was Zimmermanns pluralistische Auffassung kennzeichnet.

 

Zum Schluß soll noch auf ein Orchesterwerk eingegangen werden, das vier Jahre nach Zimmermanns "Stille und Umkehr" entstand, und das schon allein durch sein sich fast kaum verändemdes Klangbild und seinen rituellen Charakter einen inneren Bezug zu Zimmermanns Orchesterskizzen zu haben scheint: "Rituel - in memoriam Maderna" von Pierre Bouiez; in seiner Eigenwilligkeit und Kompromißlosigkeit eines der bemerkenswertesten und vielleicht wichtigsten Orchesterwerke der vergangenen Jahre!

 

Auch in diesem Werk spiegeln die strenge zeitliche Organisation der formalen Anlage und die Gestalt der musikalischen Struktur serielles Denken wider. Boulez unterteilt das Orchester in acht Gruppen, die auch räumlich getrennt voneinander postiert werden. Jeder Orchestergruppe wird ein (Gruppe VIII zwei) Schlagzeuger mit einem umfangreicheren Instrumentarium zugeordnet. Zudem nimmt die Anzahl der Spieler der einzelnen Gruppen, die nach registerfarblichen Gesichtspunkten zusammengestellt sind, mit jeder Gruppe zu:

 

I               Oboe 1

II              2 Klarinetten (1 + 2)

III             3 Flöten (1-3)

IV            4 Violinen (1-4)

V             Oboe 2, Klarinette 3, Altsaxophon, 2 Fagotte (1 + 3)

VI            2 Violinen (5 + 6), 2 Bratschen, 2 Violoncelli

VII           Altflöte in G, Oboe 3, Englisch-Horn, kleine Klarinette in Es, Baßklarinette, 2 Fagotte (2+4)

VIII          4 Trompeten, 6 Hörner, 4 Posaunen

 

Der musikalische Ablauf des Stückes wird von nur zwei Elementen bestimmt, die zudem noch einen inneren Bezug zueinander haben und gleich zu Anfang vorgestellt werden. Mit einem siebentönigen, lang angehaltenen Akkord, der im Unisono mit einer 32tel-Note abgerissen wird, eröffnet die Gruppe VIII das Stück (1.); dazu erklingen, rhythmisch unabhängig, Schläge auf dem 1. Tamtam. Nach einer Fermate spielt die 1. Oboe (I) eine in sieben Phrasen gegliederte Melodie: Nach einer 32tel-Note folgt ein jeweils unterschiedlich langer Liegeton, dessen Dauer von gleichmäßigen Achtel-Repetitionen auf der Tabla mitgezeichnet werden (2. a-g). Nach einer weiteren Fermate spielen Gruppe VIII und I zusammen, diesmal zwei lang angehaltene, durch Zäsuren getrennte Akkorde. Jetzt wird der erste Akkord, wie zuvor die Liegetöne der Oboe, mit einer 32tel-Note angespielt, und auch der erste Unisono-Abriß wird zu drei 32teln erweitert. Wieder rhythmisch unabhängig davon werden diesmal 2 Tamtams angeschlagen. (3.)

 

 

In (4.) spielen nun die Gruppen I, II und III gleichzeitig, aber nicht synchron. Die Oboe (I) erweitert ihre Melodie von vorhin dadurch, daß die kurzen Anspielnoten vor dem Liegeton abwechselnd drei und ein 32tel sind. Die Gruppe II (2 Klarinetten) erweitert nun die ebenfalls sieben Phrasen (a-g) dadurch, daß immer zwei zusammengefaßt sind, wobei die erste immer unisono, die darauffolgende im Abstand einer großen Sekunde als Mixtur erklingt. Auch bei Gruppe II werden wie bei Gruppe I die Dauern von einem Schlaginstrument durch 8tel-Repetitionen in ein gleichförmiges Pulsieren gebracht. Die drei Flöten der Gruppe Ill haben die sieben Phrasen ebenfalls, wie die Klarinetten, schon erweitert und spielen abwechselnd in einem Mixtursatz große Sekunde oder große Sekunde + kleine Terz. Entsprechend der Erweiterung und Dehnung dieser drei übereinandergeschichteten, rhythmisch nicht synchronen Melodiebewegungen, wird auch der sich anschließende Akkordblock zu drei Gruppen (A, B, C) erweitert und auch der Unisono-Abriß bis zu fünf 32teln verlängert; zudem erklingen diesmal drei Tamtams. Wie schon in (3.) spielen diese Akkorde in (5.) die zuvor spielenden Gruppen I - III und wieder die Gruppe VIII zusammen.

 

Hiermit ist sozusagen die formale Anlage der ersten Hälfte von "Rituel" angezeigt: es wechseln stets die in der Anzahl zunehmenden lang angehaltenen Akkorde mit den sich in der Phrasenlänge nach und nach erweiternden und zunehmend durch Schichtung mehrerer Gruppen sich verdichtenden 'Melodien', wobei die vor den nächsten Akkordblöcken spielenden Gruppen diese mitspielen und entsprechend der Anzahl dieser Akkorde ein neues Tamtam hinzutritt. Während bei den Akkordblöcken tatsächlich jeweils immer ein Akkord (+ ein weiteres Tamtam) hinzugefügt wird und damit die zeitliche Ausdehnung stetig wächst, wird dieser Prozeß bei den dazwischen liegenden Melodieschichtungen nicht ganz so streng eingehalten: Es sind der Reihe nach 1 - 3 - 4 - 2 - 6 - 7 - 5 Orchestergruppen, die beteiligt sind. Somit ist in (12.) die dichteste Überlagerung mit dem gleichzeitigen Spiel der Gruppen I - VII erreicht, und an den darauffolgenden Akkordblöcken in (13.) ist zum ersten Mal das gesamte Orchester beteiligt. Trotz der stetigen Verdichtung der musikalischen Struktur bleibt der Eindruck eines statischen, fast monotonen Klanggeschehens bestehen, der noch durch die gleichförmigen Repetitionen der Schlaginstrumente verstärkt wird. Und in der Verlängerung und Erweiterung sowohl in der Anzahl der Akkordblöcke als auch bei den mixturartig gesetzten Melodiephrasen, scheint Zimmermanns Prinzip der Zeitdehnung durchzuschimmern. Ab (15.) kehrt sich das musikalische Geschehen um: In sieben sich jeweils verkürzenden Abschnitten hören nach und nach die Gruppen I bis VI auf zu spielen. Es erklingen nur noch die lang angehaltenen Akkorde oder die gestoßenen 32tel als Abriß im rhythmischen Unisono aller beteiligten Orchestergruppen, durchsetzt von unterschiedlich langen Fermaten. Bei den durch die Fermaten getrennten Gruppen erklingt jeweils nur am Anfang ein gehaltener Akkord; danach sind die 32tel Abriß-Noten statt von den Akkordlängen von Pausen durchsetzt. Nur noch die sich von sieben 32tel an mit jedem Abschnitt (15. A-G) verkürzenden Anspielnoten zum ersten gehaltenen Akkord eines Abschnittes erinnern noch an die melodischen Mixtur-Bewegungen. Gegenläufig zu den nun zunehmenden Pausen zwischen den gestoßenen 32teln in jeder Gruppe zwischen den Fermaten wird die Anzahl der spielenden Schlagzeuger jeweils größer, die nun die starren Repetitionen von vorher mit unregelmäßigen Betonungen und einer unterschiedlichen Anzahl von Vorschlagsnoten (1 - 7) variieren.

 

Wie diese grobe Analyse beweist, existieren in "Rituel" vielfältige Bezüge zwischen der musikalischen wie formalen Struktur; die Großform findet sich in kleinen Details wieder, wobei die Zahl 7 offensichtlich eine besondere Bedeutung hat. Die Reduktion der musikalischen Mittel auf wenige, zudem eng verwandte Elemente, so daß sich das äußere Klanggeschehen nur unmerklich zu ändern scheint, sowie der damit eintretende Eindruck von Zeitlosigkeit rücken Boulez' Orchesterwerk "Rituel" in eine enorme geistige wie musikalische Nähe zu "Stille und Umkehr" von B.A. Zimmermann. "Rituel" bestätigt genau das, was Zimmermann in seinem Aufsatz "Intervall und Zeit' formulierte: „Die Musik wird wesentlich bestimmt durch die Ordnung des zeitlichen Ablaufes, in dem sie sich darstellt und in den sie hineingestellt ist. Darin liegt zugleich die tiefste Antinomie beschlossen, denn kraft höchster Organisation der Zeit wird diese selbst überwunden und in eine Ordnung gebracht, die den Anschein des Zeitlosen erhält.“ [4]

 

© 1983 Michael Denhoff

 

 

 

siehe auch:

Bernd Alois Zimmermann - zum 80. Geburtstag (1998)

 

 

 



[1] Bernd Alois Zimmermann, Intervall und Zeit, Mainz: Schott 1974, S. 96

 

[2] a. a. 0., S. 115

 

[3] a. a. 0., S. 114

 

[4] a. a. 0., S. 12

 

 

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