Überlegungen eines ‚Betroffenen’ zur Aktualität der Musik Beethovens
Was, so werden Sie, verehrter Zuhörer, fragen, mag einen jungen Komponisten bewegen, in einem Portraitkonzert, das vornehmlich einen Einblick in die eigene Arbeit geben möchte, diese Gelegenheit zu nutzen, einige Gedanken und Überlegungen zu Beethoven zu formulieren? Wäre es nicht angebrachter, an dieser Stelle etwas zur eigenen kompositorischen Arbeit zu sagen, die zu hörenden Stücke mit verbalen Exkursen zu beschreiben oder gar zu erklären, um die vielbeschworene Schwellenangst des sogenannten „durchschnittlichen“ Publikums vor Neuer Musik etwas abbauen zu helfen? Oder ist die Einbeziehung eines Beethovenschen Streichquartetts in ein Programm mit Neuer Musik letztlich nur ein listiger Trick, überhaupt ein Publikum in solch ein Konzert zu locken?: nach schwer verdaulicher Kost von neuen Tönen wird man als Hörer für diese mühevolle Arbeit mit einem wohlklingenden Beethoven zum Nachtisch belohnt. Ich denke aber, nicht allein das Beethoven-Quartett hat Sie in dieses Konzert gelockt, wofür sie vorab meine Musik in Kauf nehmen. Wenn diese meine Annahme stimmt, beweisen Sie mir damit zugleich, daß Sie Schwellenangst vor Neuer Musik nicht kennen, sondern im positiven Sinne ‚neugierig’ sind! Die Programmkonzeption und Dramaturgie des heutigen Konzertes entstand also nicht unter dem Aspekt des Anlockens, vielmehr war es mein Wunsch, Ihnen ein dialektisches Hörerlebnis zu offerieren, das zu weiteren Entdeckungen anregen möchte. Und wenn ich Ihnen etwas zu Beethoven sage, berichte ich damit indirekt auch über meine Arbeit. Wer Neuer Musik offen und unvoreingenommen begegnet und ihre Sprache zu verstehen sucht, wird auch die klassische Musik mit anderen, neuen Ohren hören, und umgekehrt! Doch diese leider für viele nicht selbstverständliche Erkenntnis erklärt noch nicht die Wahl von Beethoven als Kontrapunkt in diesem Konzert. Beethovens Streichquartette, und hier insbesondere die späten, sind wohl das Großartigste und Ergreifenste, was je für diese Gattung geschrieben wurde. Die späten Quartette stehen mit ihrer tiefgründigen Einmaligkeit geradezu wie ein Monolith in der abendländischen Kulturlandschaft. Auf mich, wie auch auf viele Komponisten vor mir, übt das Spätwerk eines Künstlers immer wieder eine ganz besondere Faszination aus. Vielleicht erhofft man sich als selbst Schaffender von der Reife und abseitigen Selbstvollendung dieser Werke eine Botschaft für die eigene Arbeit; wie verschlüsselte Rätsel scheinen diese Partituren nachfolgenden Komponisten-Generationen zur Lösung aufgetragen zu sein, und werfen somit ihre Schatten bis in eine ungewisse Zukunft. „Die Reife der Spätwerke bedeutender Künstler gleicht nicht der von Früchten“, schreibt Adorno in seinem Essay über den Spätstil Beethovens; „Sie sind gemeinhin nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen; sie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb, stachlig dem bloßen Schmecken; es fehlt ihnen all jene Harmonie, welche die klassizistische Ästhetik vom Kunstwerk zu fordern gewohnt ist.“ Diese Bemerkung erklärt, so scheint mir, sowohl die elektrisierende Anziehungskraft eines Spätwerkes auf nachfolgende Künstler und die damit einhergehende Herausforderung, als auch die Tatsache, daß diese sehr subjektive und verinnerlichte Kunst beim breiten Publikum oft auf Miß- und Unverständnis stößt. Zwar kommt in der Regel irgendwann einmal der Zeitpunkt, wo sich auch solche Musik, wie alle große Kunst, durchsetzt und etabliert, dies jedoch oftmals auf Kosten ihrer wirklich revolutionären Kraft. Sie wird ihres kritischen Stachels beraubt und zum allgemeinen Kulturgut abgestempelt. Daß an diesem Prozeß nicht selten widerborstigkeit-glättende Interpretationen ihre Mitschuld tragen, sei am Rande erwähnt. Auch das Phänomen der Gewöhnung darf nicht als Argument herangezogen werden: an Beethovens späten Streichquartetten ist Nichts so gewöhnlich, daß beim aufmerksamen Hörer eine Gewöhnung eintreten dürfte! Ich selbst erinnere mich noch sehr genau an meine erste und wichtigste Begegnung mit der Musik Beethovens. Als 11- oder 12-jähriger bekam ich als eine meiner ersten Schallplatten überhaupt eine Aufnahme mit der großen Fuge B-Dur op. 133 geschenkt. Das erste Hörerlebnis dieses wohl kompromißlosesten Werkes von Beethoven überhaupt, hat sich in meine Erinnerung geradezu eingebrannt. Zwar hatte ich auf dem Klavier schon einige Stücke aus dem Mikrokosmos von Bártok und andere hübsche kleine Stücke von weniger bedeutenden ‚neuen’ Komponisten im Unterricht kennen- und spielen-gelernt, doch das, was ich an Musik mit dieser Fuge kennenlernte, stellte alles bisher Gehörte und Erlebte weit in den Schatten! Ich war aufgewühlt, gebannt und abgeschreckt zugleich: dies war wirklich ‚neue’ Musik! Immer wieder versuchte ich, durch wiederholtes Hören hinter das Geheimnis dieser Musik zu kommen, doch ohne ihre magische Kraft zu verlieren blieb sie mir für Jahre verschlossen und unverständlich; zu unerhört war das, was sich mir mit dieser musikalischen Welt geöffnet hatte! Daß ein spätes Beethoven-Streichquartett, und erst recht die große Fuge, für einen 12-jährigen schlichtweg eine maßlose Überforderung darstellt, muß nicht gesagt werden. Dennoch mag mein damaliger Eindruck deutlich machen, daß für ein noch ungeübtes und damit auch unverdorbenes Ohr das Kriterium der geschichtlichen Zuordnung von alt und neu irrelevant ist, Grenzen sich aufheben können. Schon wenige Zeit später hatte ich ein ähnlich einschneidendes musikalisches Erlebnis, als ich das Fünfte der sechs Streichquartette von Bártok in einem Konzert hörte. Wieder war es ein Streichquartett, das eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf mich ausübte und mir doch zunächst unbegreiflich blieb. Ich erkannte erst viel später, daß Bártoks Streichquartette in der Auseinandersetzung mit den späten Beethoven-Quartetten erst möglich wurden und aus diesem Einfluß heraus vielleicht der erste wirklich bedeutende Meilenstein in diesem Genre nach Beethoven sind. (Ludwig Finscher spricht zu Recht von der „sechsfach Gestalt gewordenen Auseinandersetzung mit den letzten Quartetten Beethovens“.) Mit der wachsenden eigenen kompositorischen Neugierde verlor ich zunächst für Jahre das intensive Interesse an der Musik Beethovens, ja ich empfand sogar Überfütterungserscheinungen, die mich die im Beethoven-Jahr 1970 gemachte Anregung von Mauricio Kagel verstehen ließen, man solle einmal Beethovens Musik für ein Jahr aus den Konzert- und Rundfunkprogrammen verbannen, um den Verbrauchserscheinungen der totalen Vermarktung entgegenzuwirken. Auf der Suche nachdem eigenen Standort schien mir zunächst die Auseinandersetzung mit den aktuellen Strömungen und Tendenzen wichtiger, als die Fahndung nach Lösungen in der Tradition. Die mit dieser intensiven Beschäftigung einhergehende Verschärfung des Geschmackes und des eigenen Urteilvermögens führt dazu, daß man seine Naivität im Umgang mit der musikalischen Sprache verliert, kritischer, aber auch verletzlicher wird. Das Komponieren fällt einem schwerer, will man einen einmal gefundenen Weg nicht nur zur immer verfeinerten Masche verkommen lassen, wie dies durchaus bei einigen Komponisten der jüngsten Vergangenheit zu beobachten ist. Mit der ständig wachsenden und auch notwendigen Selbstkritik bis hin zum lähmenden Selbstzweifel kommen die ersten schöpferischen Krisen, die nicht selten einen einschneidenden Wendepunkt markieren. Mir haben diese Krisen plötzlich wieder die Augen und Ohren für die Vergangenheit geöffnet. Ich entdeckte schlagartig, daß ich bei Berg, Mahler und Beethoven mehr zu lernen hatte, als bei Stockhausen, Penderecki und Co. Nun waren die Sinne freigespült und die Musik der Vergangenheit öffnete sich mit ganz neuen und unerwarteten Seiten. Das erneute Hineinhorchen in die Innenwelt mir schon bekannter Partituren ließ mich Dinge erkennen und begreifen, die die frühere Rezeption nicht freilegen konnte. Wieder fühlte ich mich von der großen Fuge elektrisiert, doch diesmal blieb sie mir nicht verschlossen, wie bei der ersten Begegnung. Die außerordentlichen Kühnheiten in der freien und selbständigen Führung der vier Stimmen sind in ihrer kontrapunktischen Verflechtung nicht Selbstzweck, und diese Musik ist nicht „die genialste Augenmusik, die je geschrieben wurde“, bei deren Anhören „sich ein künstlerisch befriedigender Eindruck nur teilweise einstellen will“, wie noch 1921 Theodor Helm in seinem Buch über Beethovens Streichquartette schreibt, sondern diese Musik ist die rücksichtslos persönlichste, alle Konventionen sprengende Sprache eines Genies, der nicht rückwärts schaut, sondern unerbittlich formdurchbrechend Form erzeugt. „Wahre Kunst ist eigensinnig, läßt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen“, notiert Beethoven 1820 in ein Konversationsheft. Diese Äußerung kann als kompositorisches Credo verstanden werden, und Beethovens Musik bezeugt dies in mannigfaltiger Weise, es kann aber durchaus auch als allgemeiner Anspruch an Kunst verstanden werden und ist somit eine grundsätzliche Aufforderung zum ‚kritischen’ Komponieren. Was durch Tradition und Konvention selbstverständlich geworden ist, darf und muß in Frage gestellt werden; kein regressives Wiederholen und Kopieren des gewachsenen Formenkanons, sondern kreative Auflösung und Zersetzung von Normen birgt in sich die Kraft zur Einmaligkeit eines Kunstwerkes. Dies bedeutet aber nicht a priori blinde Negation tradierter Formen, es ist lediglich die Abkehr von Verbindlichkeiten. Beethoven wendet sich nicht von der Tradition ab, er geht sogar bewußt auf sie ein, behandelt sie aber nicht als etwas unabdingbar Vorgegebenes, er macht sie sich nutzbar, indem er sie in der Auflösung ihrer verschiedenen Form- und Materialaspekte zum Objekt seiner eigenen subjektiven Bedürfnisse und Ansprüche macht. Wie äußert sich dies nun in Beethovens Musik und was kann Bezugspunkt für einen Komponisten heute sein? Ein wichtiges Merkmal der Beethovenschen Musik ist ihre Prozeßhaftigkeit, die eine zentrale Formidee zu sein scheint. Dies ist bis dahin einmalig in der Musikgeschichte und dieser kompositorische Gesichtspunkt wirkt bis heute fort. So wird bei Beethoven die Sonatenform in noch nicht gekannter Form aufgebrochen und nicht mehr den überlieferten Mustern unterworfen; man denke nur an die Schrumpfung der Themen zu Motivkernen, die sich unerbittlich insistierende Klangräume schaffen, an die Wucherungen, die eine Coda wie eine nochmalige Steigerung der Durchführung erscheinen lassen. Zudem werden einzelne Sätze zu einem übergeordneten Ganzen zusammengefügt. Die Variation, wie auch die Fuge, gerade im Spätwerk als Formmodell häufig genutzt, unterwirft nun nicht nur das anfangs exponierte Thema der eigentlichen Veränderung, sondern macht jede Variation zum Subjekt der folgenden, oder behandelt nur Teilaspekte des Themas. So auch im langsamen Satz des Quartetts op. 127, das wir heute hören, wo die Variationsfolge auf so komplizierte Weise ineinander verschlungen wird, daß eine klare Gliederung beim Hören kaum mehr nachvollziehbar wird. Die grundsätzlichen Aufgabenstellungen sind bei vielen Werken durchaus gleich, nur fallen die kompositorischen Lösungen jedes Mal anders aus, bauen ein Formmodell also nicht einfach aus, sondern entwickeln es weiter, und so ist die Prozeßhaftigkeit nicht nur Merkmal des Einzelwerkes, sondern des Gesamtwerkes. Auch hierin äußert sich „Eigensinnigkeit“, wenn man sich konzessionslos dem Zwang aussetzt, mit jedem Werk etwas Unwiederholbares zu schaffen. Beim späten Beethoven, und hier insbesondere bei den Streichquartetten und den letzten Klaviersonaten, prägen sich diese stilistischen Typika verschärfter und extremer aus. Die Satzstruktur wird komplexer und die Gegensätze des Ausdruck liegen weiter auseinander als je zuvor, sie werden scheinbar beziehungslos schroff nebeneinander gestellt; das Prinzip des Dualismus von Themen wird auf Satzblöcke ausgedehnt. Ebenso wird die überlieferte Viersätzigkeit teilweise vollkommen aufgelöst. Die musikalischen Bilder werden intensiver auskomponiert, sowohl im beispiellosen Drang nach außen, als auch im verinnerlichten Gesang. Da steht der extremen Bizarrheit der großen Fuge der „heilige Dankgesang eines Genesenden“ aus op. 132 als lyrisches Gegenbild gegenüber. Die zeitlichen wie emotionalen Dimensionen entfalten sich bei Beethoven in bisher ungekanntem und unerhörtem Ausmaß; die verinnerlichte Lyrik der langsamen Sätze breitet ein so differenziertes und schwereloses Stimmengeflecht aus, daß die tonale Zielstrebigkeit aufgehoben zu sein scheint und Gebilde von ätherischer Schönheit entstehen. Beethovens Spätstil ist gleichzeitig unerhört komplex und einfach wie nie zuvor. Und so konnte George Bernard Shaw diese Musik als „schön, einfach, unkompliziert, unaufdringlich, vollkommen verständlich“ loben, wogegen sie von anderes Seite als unverständlich und „künstlerisch nicht befriedigend“ charakterisiert wird. Die mit Beethovens Spätwerk aufgeworfenen Fragestellungen und ihre ungewöhnliche, wie eigensinnigen Lösungen, die seine unnachahmbaren Stilmerkmale charakterisieren, können bei kritischer Beschäftigung durchaus auch Bedeutung für heutiges Komponieren haben, betreffen uns. In dieser ‚Betroffenheit’ durch Tradition dürfen wir bekennend an sie anknüpfen. Nach dem sturen Materialfetischismus der seriellen Musik und der aus ihr erwachsenen Orientierungslosigkeit mit immer kurzlebigeren Tendenzen und Strömungen bis hin zur stumpfsinnigen Monotonie der Minimal Music, gilt es, sich der Vergangenheit ohne Nostalgie und Wehmut, ohne blinde Adaption zuzuwenden und sie für Neues nutzbar zu machen. „Wir müssen...das Material unserer Geschichte in den Prozeß hineinlassen, weil wir sonst dem formalistischen Tod nicht entgehen können“, schriebt Hans Werner Henze 1977 in seinem Aufsatz ‚Beethovens späte Streichquartette’. Heute, wo ein Komponist eigentlich alles ‚darf’, also völlig frei in der Wahl seiner Sprachmittel ist, birgt diese grenzenlose Freiheit die latente Gefahr zur totalen Unfreiheit in sich. Und wenn man sich selbst nicht seine Schubladen schafft, so versucht die Kunstkritik doch allzu schnell, Schubladen der Zuordnung für jeden Komponisten zu finden. Diesen Zwängen kann nur der entgehen, der den Mut zum Einzelgänger hat! Auch wir Komponisten heute sollten „wahre“ und „eigensinnige“ Kunst schaffen, Konventionen und leere Floskeln meiden und nur den inneren, persönlichen Ansprüchen und Forderungen folgen. Daß dies mit Beethoven eigentlich erstmals möglich wurde, hängt mit der damaligen geschichtlichen Situation zusammen. Eine neue Kunstauffassung konnte sich mit den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen etablieren. Sie war Ausdruck der Überwindung von der feudalistischen Hierarchie mit ihren Zwängen hin zur Emanzipation des Individuums. Dies ist in den meisten einschlägigen Abhandlungen über Beethoven zu Recht immer wieder betont worden, erklärt vielleicht aber auch schlaglichtartig die ungetrübte Faszination, die Beethovens Musik bis heute ausübt: auch unsere heutige Gesellschaft tendiert in erschreckendem Maße zum ‚normierten’ Menschen; in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihren Regelzwängen und Mechanismen bleibt das Recht auf Freiheit und „Eigensinnigkeit“ des Einzelnen allzu leicht auf der Strecke, ja es wird ständig beschnitten! Und so dürfen wir Nachgeborenen gerade in Beethovens Spätwerk einen Appell und eine Botschaft sehen, selbst immer wieder mit unserer Kunst Freiräume des Denkens, Fühlens und Handelns zu erkämpfen!
© 1985 by Michael Denhoff
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