Anknüpfen - Fortsetzen: MICHAEL DENHOFF

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Es ist paradox: Die große Zeit der Musikphilosophie des 20. Jahrhunderts ist passé, die großen - letztlich noch der Aufklärung entstammenden - philosophischen Entwürfe haben ihre Spuren in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen, die Modevokabeln der 80er Jahre - aus der Verlegenheit der Auflösung jener Orientierungen entwachsen - werden nicht mehr ernst genommen, die Musikkritik hangelt sich am Ephemer-Alltäglichen entlang und ist ihrer einstmals so selbstsicher zur Schau getragenen historisch-ideologischen Begründung abhanden gekommen. Die Musikwissenschaft - sich selber wichtiger nehmend als den musizierenden Menschen, an dem sie eigentlich partizipieren möchte -, hat eine Krise nach der anderen in ätherisch-fernen Refugien ausgestanden in der Ahnung, daß das Analytische, das Unkontrollierbare kompositorischer Eruptionen kaum zu fassen weiß. Und dennoch haben Komponisten überlebt, ist Musik komponiert worden.

 

Oder erstreckt sich das Paradoxon vielleicht gerade eher in umgekehrter Richtung: Trotz aller Analytik, aller Zäsurierung, allen so gründlichen Argumentierens über die "Legitimität" von Gattungen, von Formen und Sujets, trotz aller staatlich oder mäzenatisch gesponserten Tendenzen "Neuer Musik" hat es Komponisten gegeben, die auf eins vertrauten, was seit jeher das Signum von Musik war, nämlich ihre Inkommensurabilität in jenen begrifflichen und organisierenden Fixierungsversuchen.

 

Und noch ein drittes Paradoxon: Da hat sich wie immer die Ubiquität aller Möglichkeiten gesellschaftlicher, politischer, ästhetischer Art ergeben, das Wort vom Ende der Geschichte geistert diesmal durch die Feuilletons (es war Francis Fukuyama - 1989 stellvertretender Direktor des amerikanischen Außenministeriums - der in einem damals vielbeachteten und heute kurios erscheinenden Artikel vom Ende der Geschichte nunmehr Jahrhunderte der Langeweile diagnostizierte, und dennoch hören wir neue Opern, neue Symphonien, neue Streichquartette, als hätten sie gewissermaßen subkutan Überlebt, in der Diaspora, versteckt in einer der weiten Falten der abendländischen Musikgeschichte. Dabei war es ja gerade das Streichquartett, das den Impuls des historischen Fortschrittes in sich trug, bei Beethoven in der gnadenlosen Hermetik musikalischer Autonomie, bei Schönberg im Blick auf "Neue Ufer", bei Schubert im Auskomponieren eines "anderen" Zeitbegriffs, bei Bartók, Webern. Und in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts setzten wohl Lutoslawskis Streichquartett von 1964 und Luigi Nonos aus dem Jahre 1980 wesentliche Wegmarken als Werke, die sich um die Normativität eines irgendwie gearteten kompositorischen Ansatzes überhaupt nicht scherten, sondern auf die kompositorischen Probleme Bezug nahmen, in denen die Tradition des Streichquartetts ihren Anfang nahm: die der Artikuliertheit der motivisch-thematischen Arbeit.

 

Man könnte mit vollem Recht Beethovens späte Quartette, insbesondere seine Große Fuge als die Peripetie aller Streichquartettkunst sehen, und der noch recht junge Komponist Michael Denhoff tut dies auch. Die besondere Affinität zum Spätwerk Beethovens tritt in seinen jüngeren Partituren immer deutlicher hervor. Darüber hinaus hatte das musikalische Weltbild von Bernd Alois Zimmermann und dessen zeit-philosophisches Denken entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der eigenen kompositorischen Arbeit Denhoffs; dies bekunden seine trefflich formulierten Notizen und Aufsätze zur Musik. Die Suche nach einem zeitlichen Gefäß, die Erfahrbarkeit von Zeit, ihre Strukturierung, das Transzendieren von erfahrbarer Zeit, ihr Verhältnis zur imaginären musikalischen, zur hinter der erfahrbaren stehenden "ästhetischen Zeit", das sind die Themen seiner autonomen Musik, insbesondere seines Streichquartetts. Ja, man könnte sagen, daß bei aller Avanciertheit der musikalischen Sprache, bei aller (um B.A. Zimmermanns Begriff zu variieren) "Kugelgestalt der Möglichkeiten", in diesem Werk die Ambiguität zum historischen Modell mitkomponiert ist: In diesem freien Komponieren stehen alle Mittel, alle Möglichkeiten zur Verfügung vor dem Hintergrund der großen historischen Werke der Gattung, insbesondere Beethovens, damit aber auch stets die Möglichkeit des Scheiterns bei der Neu-Präzisierung der Idee. Die zyklischen Bindungen, die formale Idee, die thematischen Konstellationen sind innerhalb der autonomen Idee des Streichquartetts angesiedelt. In meinem 4. Streichquartett, der Text Michael Denhoffs zur Uraufführung am 29. März 1990 in Bonn durch das Auryn-Quartett sei hier zitiert, das im Herbst 1988 entstand, versuche ich, meinen Bezug zu der Traditionslinie (der Gattung Streichquartett) zu definieren, Stellung zu beziehen zu den von ihr aufgeworfenen Fragestellungen und angebotenen Lösungsmöglichkeiten. Gleichzeitig empfinde ich dieses Quartett, das in seiner zeitlichen Ausdehnung sowie seiner kompromißlosen Ausreizung der Ausdruckspalette die drei vorherigen (1973, 1978, 1982) bei weitem übertrifft, als ein Resümee meiner bisherigen Arbeit. In der Komprimierung meiner kompositorischen Erfahrung und Auffassung hat dieses Quartett bekenntnishaften Charakter und ist zugleich eine Liebeserklärung an diese Gattung, der wohl vollkommensten Art musikalischen Denkens.

Der gewichtige erste Satz entfaltet aus einem um den Ton "cis" insistierend Raum schaffenden Unisono sein thematisches Material. Nach und nach spalten sich die so exponierten Bausteine in sukzessiven Durchführungen zu immer dichteren kontrapunktischen und polymetrischen Verflechtungen und Verstrickungen auf, die von den Formen der Fuge abgeleitet und weitergeführt sind. Die enorme Komplexität dieses sehr vehementen und eruptiven Kopfsatzes findet ihr Gegen- und Spiegelbild im Schlußsatz, der in weitschweifenden Entwicklungen seine entlegene, innere Intensität beschwört. Der Beginn des Kopfsatzes erscheint hier zunächst wie in einer zeitgedehnten und -entrückten Spektralanalyse, aus der zarter Gesang entwächst. Gestört wird diese Kantabilität nur durch gelegentlich überraschend einbrechende Klangaufspaltung, bis schließlich eine scheinbar unendlich melodische Linie anhebt, zu der sich nach und noch alle Spieler vereinen. In ähnlichem gegenseitigen, aber umgekehrten Verhältnis stehen der zweite und vierte Satz zueinander: die ganz zurückgenommene, in sich versunkene Expressivität des zweiten Satzes, die sich wandernd um pulsierende Zentraltöne rankt, bricht im vierten Satz zu einem emotional extrem aufgeheizten Klangbild aus. Im Zentrum des gesamten Quartetts steht ein kurzes und knappes Presto, das die Physiognomie eines schattenhaften und atemlosen Scherzo-Spuks hat.

 

Soweit Michael Denhoff. Die begriffliche Anknüpfung an die Tradition des Streichquartetts ist offenkundig, auch die kompositorische. Auf die Analyse von Details, die ständige Anspielung auf tonale, strukturelle Traditionsmodelle sei hier verzichtet. Sie zeigen noch bis hin zu den negativen Formschemata, wie sie etwa in der Perversion der Satzfolge in Mahlers 9. Symphonie ad absurdum geführt und gleichzeitig beschworen wurden. Insgesamt ist auch die Vokalmusik von Michael Denhoff nicht mehr ein schöner Reflex auf Wirklichkeit, sie trägt ästhetisch Ambivalentes in sich, das über rein Ästhetisches hinausweist. Viele der Werke Michael Denhoffs nehmen sich in seiner sehr eigenartigen Weise der bildenden Kunst an, beziehen sich auf Literatur von Rilke, die französischen Symbolisten über Juan Ramón Jiménez und Giuseppe Ungaretti bis zu Paul Celan. Vertonungen sind diese Werke eigentlich nicht. Eher sind sie – insbesondere der bedeutsame Zyklus “Atemwende“ nach Celan - Transformationen eines künstlerischen Ausdrucks in ein anderes künstlerisches Medium. Dies betrifft auch Denhoffs Bilder-Vertonungen nach Goya, Dürer oder Kandinsky. Der Zwischenbereich der Künste wird ausgeschöpft, die expressiven Möglichkeiten assoziativer Übersetzungen. Wohl nirgendwo trifft dies so eindringlich zu wie in dem Zyklus “Traumbuch eines Gefangenen“ nach Texten von Horst Bienek von 1987. Allein der Untertitel "Oratorische Szenen" gibt dem Werk eine historische Aura, die ihren Anspruch bezeichnet. Denn der Tod, die Folter, die Haft, das sind Momente heutiger und vergangener Wirklichkeiten. Die den inneren, imaginären Handlungsstrang vorantreibenden Prosatexte, die sich zuspitzenden Trugbilder und Visionen sind einem Sprecher zugeteilt, dem somit - wie etwa auch in Schönbergs "Ein Überlebender in Warschau " - eine wesentliche Rolle zufällt. In Verschränkung steht als zweites Ich des Gefangenen dem Sprecher als Spiegel ein Bariton gegenüber und mit dem Chor wird das Individuum zum kollektiven Wir. (Denhoff)

 

Denhoff bedient sich - ähnlich wie in der Instrumentalmusik - überaus vielfältiger, ungemein differenzierter kompositorischer Verfahren: Die maßgebliche kompositorische Keimzelle, gleich zu Beginn in einer kurzen orchestralen Einleitung exponiert, ist ein 12-tonigerAkkord, der, als klangliches Sinnbild der Zellensituation, aus der Addition und Spiegelung sich wiederholender Intervallkonstellationen besteht; von ihm wird das musikalische Material abgeleitet. So entstehen spektrale Klanggitter, in sich kreisende Farbtöne, rhythmische Rotationsfiguren, die ein Labyrinth der Extreme im Ausdruck schaffen. Dabei werden die gestalterischen Mittel zum Teil kompromisslos auf wenige musikalische Zeichen reduziert (Denhoff). Dies führt zu Verdichtungen in chorische Unisoni, führt in die Unerbittlichkeit der linearen Konsequenz wie etwa in der Nr. 12, wo harte, sich zuspitzende Orchesterschläge zu einem halluzinatorisch überdimensionalen Uhrenschlagen werden. Bei aller Ökonomie der Mittel, bei allem Gegenüberstellen von instrumentationstechnischer Raffinesse und der Reduktion in solistische einsame Linien, zeigt das Werk konvulsivische Zusammenbrüche, viele gewaltsame Ausbrüche und quälende Ligaturen. Das Chaos der Schöpfung findet in der Musik seinen musikalischen Ausdruck. Ausgewählt wurden aus den 15 Einzelteilen des Werkes die Nummern 4, 6, 8, 9, 12, 13 und 15.

 

© 1992 Lothar Mattner

 

 

 

 

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